Beschreibung
Kindergeschichte in der ich-Form über das Schicksal eines Schulbusfahrers aus meinem Archiv von 1992.
Wo bleibt Herr Diehsel?
Hannes Diehsel ist der Fahrer unseres Schulbusses. Er fuhr sehr sicher und hatte noch nie einen Unfall gehabt. Außerdem war er immer pünktlich auf die Minute genau und war noch niemals einen Tag krank gewesen. Bis zu dem letzten Mittwoch, als wir vergeblich an der Haltestelle auf ihn warteten. Unsere Schulkameraden gingen schon eher nach Hause, aber Mark und ich warteten ganze zwei Stunden auf den Bus, bevor wir auch aufgaben. Schließlich waren wir spezielle Freunde von Hannes. Wir wollten Busfahrer werden und Hannes erklärte uns alles immer sehr gut, so dass wir uns schon wie richtige Busfahrer fühlten.
Auch an den folgenden Tagen kam Hannes nicht. Die Firma hatte an seine Stelle einen anderen Busfahrer hingesetzt. Einen unfreundlichen Dickwanst, wie sir fanden.
"Vielleicht geht es ihm nicht gut", meinte Mark eines Morgens, "Möglicherweise hat er sich ein Bein verstaucht oder den Magen verdorben."
"Oder er hat gekündigt", spekulierte ich.
"Ich habe seine Privatnummer. Er hat sie mir mal gegeben, als mein Fahrrad kaputt war. Er sagte, dass ich ihn ruhig anrufen könnte, wenn ich Hilfe brauchte. Aber mein Vater hat sich dann um mein Fahrrad gekümmert."
Wir liefen den Berg hinunter ins Dorf. Neben der Wirtschaft "Zum alten Schloss" gab es eine Telefonzelle. Ich warf die Münzen hinein, und Mark wählte die Nummer.
"Hallo, hier spricht Mark", rief er in den Hörer, "Hannes Diesel ist unser Busfahrer. Wir wollen uns erkundigen, wie es ihm geht. Ist er krank?"
"Ach Kinder, Hannes ist letzten Dienstagnachmittag verhaftet worden", heulte seine Frau ins Telefon, "in seinem Bus fand man Rauschgift. Ich mache mir große Sorgen. Er spricht nicht und sagt auch nicht, welche Kinder er gefahren hat. Da die Polizei mit ihren Ermittlungen nicht weiterkommt, hat sie Hannes erst mal als Verdächtigen festgenommen. Sie behaupten, er habe das Rauschgift im Bus versteckt und wollte es an die Schulkinder verkaufen."
"Aber warum sagt er denn nicht, welche Klasse er gefahren hat und wer an dem Tag alles dabei war?"
"Er murmelt immer etwas von: Sie waren es nicht. Sie sind immer so nett."
Betroffen legte Mark den Hörer auf die Gabel.
"Wen kann er nur decken?" fragte er mich, als er mir das Gespräch erzählt hatte.
Ich zuckte mit den Schultern. An den folgenden Tagen beobachteten wir das Schulgeschehen sehr genau. Uns fielen die beiden Neuen auf. Paul und Josef hießen sie und waren Geschwister.Sie waren etwas älter als wir. Die beiden hatten immer Geld und waren sehr spendabel. Die neuesten Klamotten waren ein "Muss" für sie, und sie redeten oft von ihrer neuen Stereoanlage und ihren neuen Videorekorder. Sie zeigten uns ihre Mountainbikes und ihren neuen Computer.
Paul und Josef waren Nachbarn von mir, und ich wusste, dass ihr Vater ein einfacher Arbeiter war nur schwer den Lebensunterhalt für sich und seine beiden Kinder verdiente. Die Mutter war vor einigen Jahren gestorben.
"Sollen wir?" fragte Mark. Ich nickte.
Wir marschierten zum nächsten Polizeipräsidium und erzählten, was uns aufgefallen war.
Am nächsten Morgen fuhr der Dickwanst immer noch den Bus, und wir handelten uns eine Tracht Prügel ein, als wir aus dem Bus stiegen. Auch die Mitschüler, die wir um Hilfe riefen, drehten sich weg und meinten, dass sie mit Verrtätern nichts zu tun haben wollten. Heute Nacht schlief Mark bei mir. Meine Mutter hatte uns Kompressen fertig gemacht, um unsere blauen Augen zu kühlen. Wir zählten unsere Glieder und begaben uns ins Bett. Es war Vollmond. Wir schliefen schlecht und wälzten uns von der einen Seite zur anderen. Durch die offenen Ritzen der Rollladen schien das Mondlicht ins Zimmer. Plötzlich hörte ich Stimmen. Ich vergrößerte die Ritzen und konnte bei unseren Nachbarn Paul und Josef eine unbekannte Gestalt entdecken. Ich beobachtete, wie der Fremde den beiden ein Päckchen überreichte.
"Mark", flüsterte ich, "los schnell, ruf die Polizei! Dort drüben ist ein Rauschgifthändler."
"Nein, nicht schon wieder", meinte Mark, drehte sich auf die andere Seite und schlief weiter. Dann rief ich selbst die Polizei. Sie kam früh genug, um alle drei Rauschgiftdealer festzunehmen.
Am nächsten Tag fuhr Hannes Diehsel wieder unseren Bus, und wir spazierten in die Klasse wie die Könige. Auch die Lehrer rühmten unsere Tat, mit der wir viele Jugendliche vor einem schlimmen Gift bewahrt hatten. Zuerst waren wir noch ein bisschen beleidigt, aber dann genossen wir es im Mittelpunkt zu stehen.