Ein Wochenende bei Oma und Opa
Chris und Uli sind zwei typische Stadtkinder. Da kennen sie sich aus, sind mit allen Zerstreuungen, die das Leben hier bietet, gut vertraut. Heute ist Freitag und sie sind sehr früh aus der Schule nach Hause gekommen, weil hitzefrei ist. Auf die Frage der Mutter, ob sie ihr Pausenbrot gegessen haben, bejahen beide mit strahlenden Gesichtern. Sie hatten jeder ein Vollkornbrötchen dabei mit Frischkäse und saftigen Gurkenscheiben belegt, dazu noch eine knackige Möhre. Zu trinken gab es Tee von der Zitronenmelisse. Das hatten sie sich selbst gewünscht.
Nach einem erfrischenden Mittagessen kehrt Langeweile ein. Dann fragt Chris: „Wann dürfen wir wieder zu Oma und Opa?“ Und Uli fügt an: „Das wäre bei der Hitze schon toll.“ Die Mutter lacht und antwortet: „Ich hab es ja gewusst und alles schon vorbereitet.“ Ein Sturm der Begeisterung bricht aus und nur wenig später sitzen alle drei im Auto und fahren los. Eine große Tüte altes Brot haben sie auch dabei. Es wird nämlich nicht mehr weggeworfen und die Kinder durften auch bei den Nachbarn sammeln.
Nach einer trotz der Sommerhitze recht kurzweiligen Fahrt treffen sie bei den Großeltern ein. Die wohnen in einem kleinen Häuschen auf dem Land und die beiden Kinder lieben ihre Großeltern heiß und innig. Oma und Opa haben sie schon erwartet und im Garten ist der Tisch gedeckt. Ein großer Krug selbst gemachte Limonade steht bereit und Oma hat Kirschkuchen gebacken. Nach fröhlichem Schmausen ziehen die Buben los, um das Dorf zu erkunden, während die Erwachsenen noch eine Weile plaudern, ehe die Mutter in die Stadt zurück kehrt.
Was gibt es hier nicht alles zu entdecken! In nächster Nachbarschaft der Großeltern steht ein altes, behaglich wirkendes Bauernhaus mit Blumenkästen vor den Fenstern. Neugierig bleiben die Buben stehen, als sie auch schon angesprochen werden. „Hallo, seid ihr neu hier im Dorf? Wir haben euch noch nie gesehen.“ Ein Junge und ein Mädchen, etwa gleichaltrig, stehen hinter ihnen. „Ich bin Michi und das ist Friedl, meine Schwester. Wir wohnen in diesem Bauernhof und unser Vater ist auch der Förster hier.“ „Wir sind Chris und Uli und bei unseren Großeltern übers Wochenende zu Besuch. Wir wohnen dort hinten im letzten Haus.“
Schnell haben sich die vier geeinigt und ziehen gemeinsam los und schon ist es kein langweiliger Nachmittag mehr. Die beiden Einheimischen zeigen ihnen das Dorf und Chris und Uli kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Viel zu rasch ist es Zeit zum Abendessen heim zu gehen und so verabreden sie sich wieder für den nächsten Tag.
Zu Hause bei Oma und Opa wartet eine große Überraschung auf die beiden. Opa hatte in den letzten Tagen im hintersten noch verwahrlosten Teil des Gartens ganz heimlich ein großes Badebecken aufgebaut und mit Wasser gefüllt. Dort dürfen sie sich vor dem Essen noch abkühlen. Als sie mit Opa dort stehen, dringt ein mächtig lautes Indianergeheul an Omas Ohr: „Jippieeh, das ist ja riesig, das ist obergrandios, das ist einfach super! Oma und Opa, ihr seid einfach umwerfend tolle Großeltern! Danke! Danke! Danke!“ Und dann tauchen auch schon zwei Lausbuben in den Fluten unter. Endlich sitzen sie zum Abendessen am Tisch und erzählen begeistert von Michi und Friedl, die sie heute kennen gelernt haben. Warum nur Opa so still vor sich hin schmunzelt? Was die Kinder nicht wissen: das Häuschen, in dem Oma und Opa wohnen, gehört dem Vater von Michi und Friedl, die in Wirklichkeit Michael und Friedlinde heißen.
Nach einem deftigen Abendessen mit Speckpfannkuchen und einem bunten Salat fallen unsere beiden Lausbuben total übermüdet in das riesige Bauernbett, das sie sich teilen dürfen. In ihren Träumen erleben sie die tollsten Abenteuer. Ob die Wirklichkeit auch so werden wird? Wer weiß!
Am nächsten Morgen erwachen die Kinder früh vom Krähen eines Hahnes. Das Geräusch ist ihnen noch fremd und beim Frühstück im kühlen Schatten des uralten Apfelbaumes im Garten sagt Chris: „Welcher Vogel hat denn heute früh diesen schrecklichen Krach gemacht?“ Oma und Opa lachen und dann zeigen sie ihnen die fünf Hühner und den Hahn in einer anderen Ecke des Gartens. Die Hühner sind weiß und recht zahm. Der Hahn ist schillernd bunt und trägt seinen sichelförmigen Schwanz sehr hoch. Uli fragt gleich: „Oma, darf ich ein Huhn auf den Arm nehmen?“ Natürlich dürfen sie und Opa zeigt ihnen auch schon, wie man die Tiere greift und auf den Arm nimmt. Bald gehen die beiden Buben , jeder mit einem Huhn auf dem Arm, im Garten spazieren. Die Hühner kuscheln sich sogar richtig an die Kinder und lassen sich auch vorsichtig streicheln. Da erklärt ihnen Oma: „Von diesen Hühnern kommen die Eier, die ihr zum Frühstück gegessen habt.“ Plötzlich meint Chris: „Das ist ja richtig toll mit den Hühnern. Kann ich mir eines mit heim nehmen?“ Aber die Großeltern erklären, dass das wegen Futter und Schmutz nicht möglich ist und außerdem ist Käfighaltung verboten. Nun merkt Uli an: „Aber in der Schule werden alle staunen, wenn wir erzählen, dass wir eine Eierfabrik auf dem Arm hatten!“ Das gibt fröhliches Gelächter und die Hühner werden zu ihrem Hahn zurück gebracht. In ihrem großen Gehege fühlen sie sich richtig wohl.
Wieder am Haus zurück, stehen da schon Michi und Friedl, um unsere beiden Stadtpflanzen abzuholen. Sie wollen mit ihnen einen Spaziergang durch die Felder machen und haben auch eine Überraschung für den Nachmittag im Gepäck. Opa muss natürlich auch mitkommen.
Sie folgen ein kurzes Stück der Landstraße und biegen dann in einen Feldweg ein. Links und rechts breiten sich Getreidefelder aus. Chris und Uli bestaunen die bunten Blumen, die am Feldrand so üppig blühen. Von ihrem Erlebnis mit der Ährenfee sprechen sie aber nicht. Es ist eine Sinfonie in Blau, Weiß und Rot, dazwischen ein paar pinkfarbene Tupfer, die sich in das Blassgrün der Getreidehalme mischen. Opa zupft eine weiße Blüte ab, zerreibt sie zwischen den Fingern, lässt die Kinder daran riechen und fragt dann, was das sein könnte. Eine große Raterei beginnt. Uli meint: „Das stinkt ein bisschen.“ Chris fügt hinzu: „So schlecht riecht das doch gar nicht. Vielleicht ein bisschen so wie Medizin. Darf ich mal probieren?“ Da lachen alle, aber Opa erklärt jetzt: „Chris hat Recht. Das ist die Kamille. Wenn die Blüten getrocknet sind, dann kann man Tee daraus kochen. Ihr habt ihn bestimmt schon getrunken, wenn ihr Bauchweh habt.“ Beide nicken und dann sagt Chris: „Ja, der Tee riecht fast ein bisschen so wie die Blüte.“ Nun schauen sie eine Blüte an mit ihrer gelben Mitte, die sich leicht nach oben wölbt und ihren weißen Blütenblättern, die wie kleine Strahlen ein wenig nach unten gerichtet sind. Wie ein weißes Röckchen sehen sie aus. Fast wie aus einem Mund kommt der Satz: „Aber daheim sind es doch Teebeutel. Sag Opa, sind da wirklich solche Blüten drin?“ Während Opa nickt, grinsen die beiden Landkinder.
Ein paar Schritte weiter zupft Michi einen langen Stängel mit einer roten Blüte ab und schlägt Uli damit auf den nackten Arm. Es gibt ein laut klatschendes Geräusch und Uli schaut verwundert. „Das ist Klatschmohn,“ erklärt Friedl. Dann bestaunen sie an einer anderen Blüte die zarten roten Blütenblätter, die noch ein wenig zerknittert aussehen, weil die Blume eben erst aufgeblüht ist. In der Mitte sehen sie die fast schwarzen Staubfäden mit ihren ebenso dunklen Staubbeuteln, dazwischen steht der dicke, längliche Fruchtknoten mit seiner radförmigen Narbe. „Hier bleibt der Blütenstaub kleben, den die fleißigen Bienen, Hummeln, Schmetterlinge und anderen Insekten mitbringen,“ erklärt Opa. „In dem Fruchtknoten entstehen dann ganz viele winzige Samenkörner, die der Wind verstreut, wenn die Kapseln reif sind und oben unter dem Deckelchen sich kleine Öffnungen gebildet haben.“
Die Kinder kommen aus dem Staunen nicht heraus und Uli fragt: „Kann man Mohnsamen essen?“ Die Bauernkinder sind inzwischen ein kleines Stückchen weiter gegangen. Sie folgen ihnen, während Opa erklärt: „Freilich kann man Mohnsamen essen, aber nicht von diesem Mohn sondern von einer anderen Sorte mit einer anderen Blütenfarbe. Soll Oma für morgen einen Mohnkuchen backen? Dann könnt ihr probieren.“ Die beiden Kinder stimmen begeistert zu, denn sie mögen Omas Kuchen. Nun fragt Michi: „Esst ihr manchmal Müsli zum Frühstück?“ Das kennen die beiden Stadtkinder. Cornflakes und Co. sind ihnen vertraut und mit Milch nicht schlecht. Aber Friedl meint: „Das Müsli machen wir immer selber.“ Uli fragt neugierig: „Kann man das denn selber machen, dass es dann genauso aussieht wie das in der Schachtel?“ Opa und die Bauernkinder lachen, aber Michi hält ihm schnell einen Halm hin, an dessen viel verzweigtem Ende an jedem Stielchen ein schon pralles Samenkorn hängt. Und er erzählt: „Das ist Hafer. Wenn die Körner reif sind, werden sie geerntet und in einer Mühle platt gewalzt. Diese Haferflocken mischen wir dann mit Früchten aus dem Garten oder im Winter mit Trockenfrüchten und Nüssen, geben Milch von unseren Kühen dazu und fertig ist das Müsli.“ Und Friedl ergänzt: „Kommt doch morgen zu uns zum Frühstück, dann könnt ihr probieren.“ Das hört sich verlockend an und die Kinder schlagen begeistert ein.
Chris hält plötzlich eine hübsche blaue Blume mit zipfelig geschlitzten Blütenblättern in der Hand und will wissen, wie sie heißt. „Das ist eine Kornblume,“ ruft Michi, der sich schon ein paar Schritte entfernt hat. Er rupft gerade einen Getreidehalm aus der Erde und schwenkt ihn dann vor den Kindern. „Wer weiß, was das ist?“ Friedl lacht und ruft: „Das kennt ihr schon, denn ihr esst es fast jeden Tag!“ Opa schmunzelt derweil. Er freut sich, wie die Kinder ohne Scheu und ganz ungezwungen mit einander umgehen, auch in seiner Gegenwart.
Chris und Uli schauen sich an. Was essen sie denn fast jeden Tag? Kartoffeln, Gemüse, Frühstücksflocken, Brot? Ja, das ist es. Sie essen eigentlich jeden Tag auch Brot. Uli ganz vorsichtig: „Wir essen jeden Tag mindestens einmal Brot. Aber ich esse am liebsten Weißbrot.“ Da lacht Friedl wieder und erklärt: „Aus diesem Getreide kommt das Mehl für das Weißbrot. Es ist Weizen. Erkennen könnt ihr ihn an der viereckigen Ähre mit dicken Körnern.“ Und Opa erklärt weiter: „Wenn ihr den Halm anschaut, seht ihr in größeren Abständen kräftige Knoten. Die geben dem Halm so viel Festigkeit, dass er auch starken Wind noch aushalten kann ohne abzuknicken. Ohne die Knoten könnte der Halm auch die schwere Ähre nicht tragen.“ Chris und Uli staunen, was Opa alles weiß und Chris fragt: „Opa. Woher weißt du das alles?“ Opa lacht und meint: „Ich habe das von meinem Vater gelernt und der hat es in der Schule lernen müssen. Aber ich finde es wichtig, zu wissen woher unser Essen kommt.“
„Und wie kommt das Mehl in die Körner,“ will nun Uli wissen. Wieder lachen die beiden Landkinder. Opa aber entgegnet: „ Wenn ihr das alles wissen wollt und vielleicht auch noch Brot backen möchtet, dann kommt in den Sommerferien zu Besuch und wir können im Museumsdorf alles anschauen und manches selber machen.“ Das große Indianergeschrei aus vier Kinderkehlen zeigt, dass Opa hier ins Schwarze getroffen hat.
Während dessen sind die fünf weiter gegangen. Friedl hat zwei weitere Getreidehalme gerupft, die völlig anders aussehen. Eine Ähre ist ganz flach, steht senkrecht in die Luft und die schmalen, spitzen Körner sind links und rechts am Stängel angewachsen. Sie sehen fast wie ein geflochtener Zopf aus und haben an ihren Enden kurze Grannen, die sich rau anfühlen als hätten sie kleine Häkchen. Das ist Roggen. Aus dessen Mehl wird meist Vollkornbrot gebacken oder dunkles Brot. Die Ähre auf dem anderen Halm ist ebenfalls flach, aber gekrümmt und die eher rundlichen Körner bilden das bekannte Zopfmuster, tragen aber lange Grannen. Das ist Gerste. Daraus wird durch Ankeimen und Rösten Malz gewonnen, das unserem Bier seine Farbe, Würze und den Alkohol gibt. Im Malzbier geht es ohne Alkohol. Auch der Getreidekaffee kommt von der Gerste.
Opa hat die beiden Getreidearten erklärt und als sie einen alten Apfelbaum am Feldrain erreichen, lassen sie sich in seinem Schatten nieder. Opa bittet nun die vier Kinder, von der Weizenähre die Körner abzupflücken und aus ihrer harten Hülle zu befreien. Er zeigt ihnen, dass die Körner noch weich und saftig sind. Die Kinder dürfen probieren und Uli stellt erstaunt fest: „Das schmeckt ein bisschen süß.“ Friedl meint: „Es erinnert ein wenig an frisch gemolkene Milch.“ Opa weiß: „Diesen Reifegrad nennt man Milchreife, weil das Innere des Korns beim Zerdrücken eine milchige Beschaffenheit hat.“
Die Sonne ist inzwischen immer höher gestiegen und nach einem Blick an den Himmel sagt Opa: „Auf Kinder, es ist Zeit, zum Mittagessen nach Hause zu gehen. Michi und Friedl, ihr kommt heute selbstverständlich mit zu uns. Bin gespannt, was Oma gekocht hat.“ „Aber unsere Eltern wissen doch nicht Bescheid,“ entgegnet Friedl, doch da räumt Opa alle Bedenken aus und antwortet: „Das haben Oma und ich schon mit euren Eltern abgesprochen, denn die sind heute bei der Kartoffelernte. Und nun sammelt schnell noch ein paar von den Kornäpfeln hier auf. Das sind die ersten reifen Äpfel, die es im Jahr gibt, Die Kerne innen sind noch weiß, aber die Äpfel sind knackig und fein im Geschmack.“ „Warum heißen die Äpfel Kornäpfel?“ will Uli wissen. „Weil sie reif sind, wenn auch das Korn reif wird,“ ist Michi rasch mit einer Antwort dabei.
Alle lachen und begeben sich auf den Heimweg. Da macht sie Opa noch auf den besonderen Duft aufmerksam, der den Kornfeldern entströmt. Man kann ihn nicht beschreiben, man muss ihn einfach riechen! Dann kann Michi seine Überraschung nicht mehr länger für sich behalten. Er platzt heraus: „Und heute am späten Nachmittag sollen wir alle zum Kartoffelacker kommen, auch Oma und sie muss den Picknickkorb mitnehmen und. . ..“ Da hält Friedl ihrem Bruder schnell den Mund zu. „Jetzt reicht’s aber, du sollst nicht alles verraten!“ Michi will noch etwas antworten, aber da erwartet sie schon Oma am Gartentor mit der Botschaft: „Es gibt Kirschenmichel mit Vanillesoße.“ Weitere Antworten gehen im Freudengeheul der Kinder unter und bald sitzen alle am gedeckten Tisch im Garten.
Wenn ihr wissen wollt, welche Überraschung da auf die Kinder wartet, dann lest im Band 2 weiter.
© HeiO 07-2010