Beschreibung
Hier noch einmal die komplette Fassung der sechsteiligen Story. Für all jene, die das Ding vielleicht gern ausdrucken und auf Papier lesen möchten. Viel Spaß!
(Cover: © Oliver Moosdorf / pixelio.de; www.pixelio.de)
I. Akt: Erstes Zwischenspiel
Heilige Scheiße! Es gibt Zufälle, die gibt es eigentlich gar nicht, war der einzig nüchterne Gedanke, der mir in diesem Augenblick durch meinen vor Wut glühenden Verstand schoss. Lag doch genau vor mir eine verdammte Knarre und lächelte mich an. Wie eine wunderschöne Frau in einem netten Café warf die schwarz schimmernde Pistole mir Kusshände zu, zog meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Das miese Ding hatte mich in seinem Bann. Sollte ich zugreifen? Aber verdammt noch mal, ja doch!
Vorsichtig streckte ich meine Hand nach ihr aus, zaghaft, behutsam, so als hätte sie sich dazu entscheiden können, sich plötzlich in Luft aufzulösen, falls ich zu schnell zupackte. Der Stahl fühlte sich kalt und unbarmherzig in meiner vor Hass zitternden Hand an. Aber auch befriedigend. Novocain für meine Nerven. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich eine Waffe in der Hand gehalten, und doch kam mir das Gefühl, das ich verspürte, als meine Finger den Griff fest umschlossen, nun so vertraut vor. Machtvoll und unglaublich erhaben!
Ob sie wohl geladen war, fragte ich mich und war mir bereits sicher, dass ich mir ja doch nur eine rhetorische Frage gestellt hatte. Ich glaubte und glaube sicher nicht an Gott, ich glaubte und glaube auch nicht an Schicksal und diesen esoterischen Blödsinn oder an eine Bestimmung für uns Menschen. Aber ich glaubte an Gerechtigkeit, und so zynisch mir das jetzt, in diesem Augenblick, erscheinen müsste, bin ich mir dessen gerade jetzt und hier sogar noch viel sicherer.
Ich brauchte nicht lange, um meine stählerne Braut zu zähmen. Nach einigen ungeübten Handgriffen hielt ich das Magazin in meiner Hand. Vier Kugeln! Vier verdammte Kugeln! Ich wusste es. Ob mit ihr bereits gerichtet wurde, fragte ich mich für einen Moment. War egal, heute würde sie richten. Vier Kugeln würden reichen. Ich brauchte eine.
Ich schob das Magazin wieder in den Schacht und legte die Pistole behutsam in der Innentasche meines Mantels ab. Fühlte sich schwer an. Mein tödliches Schatzkästchen. Konnte nur hoffen, dass ich das mit dem Sicherungshebel richtig verstanden hatte, sonst würde ich mir nicht nur die Eier wegschießen, sondern mir vielleicht versehentlich die Lichter ganz auspusten, bevor mein großer Auftritt gekommen war. Denn es war Zahltag! Sie hatten das Fass zum Überlaufen gebracht und sollten mich dafür kennenlernen. Chuck hatte ich bereits besucht. Große Sauerei. Nun war Samantha dran. Mit der Pistole würde es leichter sein als bei Chuck. Sauberer vielleicht. Leichter in jedem Fall.
Ja, es tat mir leid für Leila, für alles, was nun auf sie zukommen würde. Mein armes, großes Mädchen. Doch dieser Gedanke verbrannte rasch im Fegefeuer meiner Wut. Himmel, Wut ist etwas so vollkommen Vernichtendes, und ich wünschte, das wäre maßlos übertrieben. Doch ihre Flammen verzehren alles, lassen nichts zurück als wertlose Asche. Es ging jetzt nicht mehr anders. Gab kein Zurück für mich. Rache bedeutet Blut. Blut schmeckt süß.
II. Akt: Der Anruf
Ich hatte Kaffee über den angefangenen Brief verschüttet und musste nun noch mal von vorn beginnen. Wahrscheinlich hätte ich mich ziemlich über diese Dummheit aufgeregt, hätte meine Faust aus spontaner Wut heraus einmal mehr an der Wand malträtiert, wäre der Brief nicht ausgerechnet an Leila gewesen. Mehrarbeit machte mir wenig aus, solange sie meine Tochter betraf.
Samantha hatte sich viel Mühe gegeben, Leila und mich zu entzweien, doch meine Kleine war immerhin bereits sechzehn, hatte ihren eigenen Kopf. Einen Sturkopf. Ihre äußere Erscheinung mochte sie voll und ganz von der Mutter haben, was den Charakter betraf, kam sie jedoch ziemlich eindeutig nach ihrem alten Herrn. Vielleicht hielt Sam sie gerade deswegen von mir fern.
Samantha regte sich gern darüber auf, wenn ich Leila zu oft traf, aber das Schreiben konnte sie mir schließlich nicht verbieten, wenngleich ihr natürlich auch das missfiel. Mütter können widerwärtige Menschen sein, wenn sie wie die Glucken über ihren Küken hocken. Leila und ich schrieben uns Briefe, keine E-Mails, einfach weil das persönlicher war. Außerdem liebte ich den Duft, den das Papier versprühte, auf dem sie mir antwortete. Erinnerte mich an die gute alte Zeit mit der Familie. Als Samantha noch meine Frau und nicht der Teufel persönlich war. Als ich noch in das Zimmer meiner Tochter gehen und mit ihr reden konnte - über die Schule, ihren Freund, all dieses Zeug eben. Die Briefe erinnerten mich an die Zeit, als ich noch mit beiden Beinen fest im Leben stand, statt vergeblich Halt auf dem Treibeis der eigenen Existenz zu suchen. Und auch, wenn ich mir vielleicht nur einbildete, dass Papier so duften konnte, machten Leilas Briefe mich für eine gewisse Zeit glücklich. Ich hatte das Gefühl, als würde ich ihr zuhören, als könnte ich ihr der Vater sein, der ich gern wieder sein würde. Der ich einmal war.
Nicht nur das Lesen ihrer Briefe, auch das Schreiben selbst verfehlte seine Wirkung für niemals. Es beruhigte mich, wie kein beschissenes Medikament es konnte. Die Briefe waren meine ganz persönliche Droge. Wenn ich Leila Tipps gab, wie sie den Kerl los wurde, der in der Stadt im Starbucks arbeitete und nun schon seit Wochen hinter ihr her war, wenn ich sie an alte Ausflüge erinnerte, die wir gemeinsam unternommen hatten, als die Sonne noch für uns gemeinsam aufging, wenn ich schmalzige Textzeilen aus Songs niederschrieb, die wir beide gern mochten oder ihr einfach nur ein paar erstklassige, neue Bücher empfahl, dann gab mir das sehr viel Halt, gab mir die innere Ruhe. Dies war genau die Ruhe, die Samantha mir geraubt hatte, als sie mit Chuck durchgebrannt war.
Chuck, der Wurstfachverkäufer. Der Mann an der Theke. Chuck, der nichts weiter konnte, als stinkende Brotbeläge zu unterscheiden und allein deswegen glaubte, ihm hätte die Weisheit persönlich einen Haufen auf den Kopf gesetzt. Chuck, den Sam beim Einkaufen kennengelernt und dann regelmäßig getroffen hatte. Zuerst nur in Cafés und Restaurants, später wahrscheinlich häufig auch im Bett. Was weiß ich!?
Vor knapp einem Jahr hatte dann der große Sturm begonnen. Ich war aufgewacht, weil ich mich seltsam unbehaglich gefühlt hatte, irgendwie beobachtet. Sam hatte dicht neben mir gelegen, mich mit ernsten und gläsernen Augen angestarrt. Ein Bild, dass sich mir ins Gedächtnis brennen sollte. Ich sah sie noch oft morgens auf diese Art neben mir liegen und erschrak, bevor der Halbtraum verpuffte, um die tatsächliche Leere im Bett in meine allmählich zunehmende Wahrnehmung fluten zu lassen.
Nach ihrem Geständnis schließlich, war alles verdammt schnell gegangen. Samantha war wie ein Tornado durch all das gebraust, was wir uns gemeinsam aufgebaut hatten, und sie hatte nichts als Trümmer hinterlassen. Rückwirkend betrachtet, kommt es mir vor, als hätte sie lediglich ein paar Minuten benötigt, um sich anschließend mit mir zu streiten, ihre Koffer zu packen, mit den Türen zu knallen, vorerst in eine eigene Wohnung zu ziehen und letzten Endes die gute, alte Scheidung einzureichen. Siebzehn Jahre Ehe, geopfert für den Wurstmann, dessen Bude noch nicht einmal groß genug für Sam und sich selbst war. Leila hatte sie gegen ihren Willen mitgenommen. Sam wollte es so. Das Gericht wollte es so, wahrscheinlich weil Sam es so wollte. Was ich wollte, interessierte wie üblich niemanden.
Über die ganze verdammte Geschichte nachzudenken, machte mich in der Folgezeit ziemlich mürbe, zog mich aus dem Bewusstsein in eine tiefe Schwärze hinab, in der ich vor lauter Verzweiflung und innerem Hass nichts sehen und hören konnte. Es war Hass auf Chuck, Hass auf Samantha. Es war Hass auf die Ungerechtigkeit, die mir widerfahren war.
Dort, tief unten, musste die Gefahr gelauert haben, die zu allem geführt hatte, was anschließend kommen sollte. Hätte ich geahnt, welche Schatten unter dem Mantel der Verdrängung bereits in mir herangewachsen waren, hätte ich dann alles verhindern können? Und was viel wichtiger ist: Hätte ich es gewollt?
Ich hörte das Telefon erst, als es bereits wieder verstummt war. Der Anrufbeantworter war angesprungen, während ich gerade über dem soeben fertiggestellten Brief hockte und meinen Gedanken nachhing. Es war Chuck.
»Ähm, hey. Ich bin‘s, Chuck«, plärrte er durch das Telefon, und seine penetrante Proletenstimme verlieh der Tatsache, dass er‘s wirklich war, Nachdruck. »Bist du gar nicht zu Hause? Oder willst du einfach nicht abheben? Nun, krieg das jetzt bitte nicht in den falschen Hals, okay? Sam hat einen deiner Briefe gelesen. Also, ich wollte dir nur sagen, dass sie ziemlich wütend ist. Sie sagt, du hättest vor, Leila gegen uns aufhetzen.«
Chuck machte eine Pause, als würde er meinen, dass ich eine bräuchte, während ich den Kugelschreiber in meiner Hand mit dem Daumen entzwei brach. Plastiksplitter rollten über den Tisch. Dann sprach er weiter: »Wir beide wissen, dass Sam manchmal ein wenig empfindlich ist. Aber dennoch... Nun, ich glaube ihr. Ich wollte dir nur sagen, dass wir zu dem Schluss gekommen sind, dass du besser aufhören solltest, Leila Briefe zu schreiben. Tu‘s zumindest nicht mehr so oft, okay? Und versuche nicht noch mal, sie auf deine Seite zu ziehen, verstanden? Das war‘s schon. Mach‘s gut.«
Ich saß am Tisch, atmete in heftigen Stößen, während meine zu Fäusten geballten Hände zitterten. Das Tageslicht schwand vor meinen Augen, bis ich schließlich in meiner eigenen Höhle hockte. In einer Höhle, in der es nach Wut roch und in der Hass von der Decke tropfte. Meine Fingerknöchel traten bereits weiß hervor und doch verspürte ich den Drang, noch kräftiger zudrücken zu müssen. Ich wollte Schmerzen spüren. Schmerzen, die mich hoffentlich beruhigen würden. Doch kam die Ruhe nicht. Vor mir lagen der Brief an Leila und der zerbrochene Kugelschreiber. Rote Funken explodierten vor meinen Augen, ließen die viel zu große Wohnung um mich herum, die zu dieser surrealen Höhle geworden war, in wilden Farben schimmern.
Ich sprang auf, schrie laut in die Leere hinein und schlug mit der geschlossenen Faust, so fest ich nur konnte, auf den Tisch. Die dünne Sperrholzplatte krachte, und der Tisch ging, wie zuvor schon der Kugelschreiber, entzwei. Lautes Scheppern, bevor alles ruhig wurde. Totenstill. Da stand ich nun, vor den versinnbildlichten Trümmern eines halben Lebens, kochend vor Zorn.
In der Mitte des zersplitterten Tisches lag, wie das friedliche Auge inmitten eines tobenden Sturms, der Brief, den ich an Leila geschrieben hatte. Ich hob ihn auf, faltete ihn sorgsam zusammen und schob ihn, mit noch immer zitternden Händen, ungeschickt in den Umschlag, den ich bereitgelegt hatte.
Ich würde gar nicht einsehen, die Briefe auch noch einzustellen. Reichte es nicht, dass Sam mir bereits fast alles genommen hatte? Musste sie nun wiederkommen, um sich wie ein Aasgeier auch noch die letzten Reste von der Tafel meines bestohlenen Lebens zu krallen?
Natürlich hatte ich in meinen Briefen ab und an auch Dinge über Chuck und Sam geschrieben. War das nicht mein gutes Recht? Leila hatte mich von selbst nach solcherlei Angelegenheiten gefragt, verdammt! Ich gehörte nie zu der Sorte von Menschen, die anderen Leuten, schon gar nicht ihren eigenen Kindern, bei jeder Gelegenheit ihr Leid klagen, nur weil sie das Gefühl haben, so ihre Bestätigung zu bekommen. Ich gehörte aber auch niemals zu der Sorte, die bittere Themen totschweigen, weil sie glauben, auf diese Art besser vergessen und vergeben zu können.
Ich beschloss, Leila später von der Schule abzuholen und ihr den Brief persönlich zu übergeben. Auch wenn Sam sich wieder aufregen würde, weil ich meinen hohen Besuch nicht angekündigt, beziehungsweise, sie um Erlaubnis gebeten hatte, so würde doch allein der Anblick meiner Tochter wie Balsam auf meine schreiende Wut wirken. Und das war‘s mir, verdammt noch mal, allemal wert. Ich würde mich abregen, würde sicher ein wenig Freude verspüren und heute Abend vielleicht sogar beruhigt schlafen können. In dem Moment hatte ich‘s wohl wirklich geglaubt.
Aber noch zuvor würde ich Chuck einen kleinen Besuch abstatten. Leila könnte ich anschließend über das Handy erreichen. Derweil würde ich ein paar Takte mit dem Wurstmann reden müssen und dabei sicherlich nicht auf eine kultivierte Wortwahl achten. Ich würde ihm sagen, was ich von einem kleinen Scheißer wie ihm hielt, der zu nichts anderem in der Lage war, als echten Männern die Ehefrau auszuspannen und anschließend ihr Sprachrohr zu spielen. Wenn ich mit ihm fertig war, würde er mich ganz bestimmt nicht wieder anrufen wollen. Dessen wollte ich mir sicher sein.
Dass diese Entscheidung der größte Fehler meines Lebens werden würde, konnte ich in jenem Augenblick nicht erahnen. Jedoch wusste ich auch nicht, dass ich gerade bereits von der verderblichen Schwärze gekostet hatte, die in den Tiefen meiner Seele wie ein großer, giftiger See vor sich hin brodelte. Deshalb kann ich nun mit Gewissheit sagen, dass der Lauf der Dinge in dem Augenblick unabwendbar wurde, als ich ins Auto stieg und den Motor anließ.
III. Akt: Chuck
Als ich das enge, düstere Treppenhaus hinaufstieg, hatte ich den Eindruck, als wäre die größte Woge der Wut, die mich zuvor wie eine Dampfwalze überrollt hatte, bereits wieder abgeflaut. Ein Irrtum, wie ich feststellen sollte. Doch einer, der mir gerade jetzt sehr recht kam, denn ein klarer Kopf war schließlich die Voraussetzung, wollte ich mit Chuck auf die Art und Weise reden, die ihn einschüchtern und mir Genugtuung verschaffen würde. Aus der Nähe würde ich mit ihm reden, dem Wurstmann mein eigenes Geschäftsfeld zeigen.
Viertes Stockwerk. Sein Name stand in unleserlichen Buchstaben auf dem verschmutzten Klingelschild. Verschmutzt wie Chuck selbst, das Schwein, das werktags fettige Wurst verkaufte und abends mit fettigem Haar fremde Ehefrauen vögelte. Ich drückte auf den quietschenden Klingelknopf, und ein schriller Ton erklang. Passte perfekt zu Chucks nervtötender Stimme, dachte ich und mir schien, als würde sich ein Funken guter Laune einschleichen.
Ich hörte, wie eine Tür zugeschlagen wurde. Hatte ich den armen Chuck beim Onanieren gestört? Tat mir nicht sonderlich leid, schließlich würde ich ihn ohnehin gleich bei den Eiern haben. Oder war Sam gar bei ihm? Dann würde ich gegen das dynamische Duo antreten müssen. Ein schwerer Stand, doch so sei es. Ich würde halt zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und zumindest heute als Sieger aus dem Ring gehen.
Vorsichtig wurde die Haustür einen Spalt weit geöffnet. Chucks Glotzauge schob sich vor. Erkannte mich. Nun öffnete dieser schleimige Bastard die Tür ganz und starrte mich ungläubig an. Seinem falschen Blick sah ich an, dass er sehr genau wusste, weshalb ich gekommen war, und ich konnte an seiner Visage ebenso deutlich ablesen, dass er gerade die Augen verdrehen wollte, es dann aber doch für keine allzu gute Idee zu halten schien. Besser so. Die ersten roten Fünkchen sprühten wieder vor meinen Augen.
»Oh, du hast den Anrufbeantworter abgehört, was?«, fragte er in einem herablassenden Tonfall, den ihm wahrscheinlich Samantha anerzogen hatte. »Also pass auf, ich hab keine Lust, mit dir darüber zu diskutieren. Nicht, wenn Sam nicht dabei ist.«
Sam - er nannte sie so, wie ich sie einst liebevoll genannt hatte. Besonders, wenn wir unter uns gewesen waren, im Urlaub, vor dem Fernseher, im Bett. Ich hasste es, wie seine eklige Stimme diesen Namen aussprach. Es klang fast wie eine verdammte Beleidigung. Perlen vor die Säue, dachte ich. Für einen Moment war mir glatt entfallen, dass Samantha ebenso nicht mehr als ein Schwein war.
»Du solltest lieber wieder gehen«, sagte Chuck und war doch tatsächlich gerade im Begriff, mir die Tür vor der Nase zuzuknallen. Aber so leicht wollte ich ihn nicht davonkommen lassen. Ich war gekommen, um zu reden, also würden wir auch reden, Scheiße noch mal!
»Nicht so schnell, Freundchen«, sagte ich und schob rasch einen Fuß in den Türspalt. Durch die Öffnung sah ich, wie Chuck seine hässlichen Schweinsaugen aufriss. Fühlte sich da etwa jemand provoziert? Gleich würde er sich mit seinen feigen Mitteln zur Wehr setzen. Sein Geplärre würde wieder beginnen, das, was er abgesehen vom Wurstverkaufen am besten konnte.
»Das- das ist Hausfriedensbruch«, kreischte er, dass mir die Ohren klingelten. »Wenn ich Sam erzähle, dass du mich bedrohst, kannst du dich auf was gefasst machen. Dann wirst du Leila überhaupt nicht mehr sehen. Du wirst-«
Ich hörte schon gar nicht mehr, was er von sich gab. Leila war das Stichwort gewesen. Wie ein Startschuss. Chuck der Wurstfachverkäufer hatte es geschafft, das Das Feuer meiner Wut wieder auflodern zu lassen. Schlimmer noch: Er hatte einen verheerenden Buschbrand entfacht. Nachdem er Leila auf seine schmutzige Art ins Spiel gebracht hatte, ihren Namen mit seiner dreckigen Stimme besudelt hatte, spürte ich, wie tief in meinem Inneren ein gigantisches Pulverfass explodierte. Ich fühlte es, hörte es sogar oder glaubte, es zu hören. Es war, als würden dicke Stränge der Vernunft rissen.
Würde man mich hier und jetzt danach fragen, könnte ich sehr genau erklären, wie es sich anfühlt, wenn man plötzlich und vollkommen unerwartet den Verstand verliert. Denn genau das war geschehen. Chuck hatte jegliche Rationalität meines Denkens in einen vollkommen unpassenden Urlaub geschickt und sollte nun die Rechnung kassieren.
Ich holte weit aus und schlug mit der flachen Hand die Tür auf. Dabei konnte ich sehen, wie die Türkante mit voller Wucht gegen Chucks hässliches Gesicht schlug. Eine Blutfontäne schoss aus seiner Nase, während er einen erstickten Schrei von sich gab und rückwärts taumelte.
»Das wirst du bereuen«, brabbelte er in nasalem Ton und ließ den Arm ziemlich benommen vorfahren, um mir einen Haken zu verpassen. Ich versuchte auszuweichen, wurde jedoch trotzdem am Unterkiefer getroffen. Ein stechender Schmerz ergossen sich, floss durch jeden Nerv meines Körpers, um sich schließlich geballt in meiner linken Gesichtshälfte zu sammeln. Das Schwein hatte es offensichtlich geschafft, mir den Kiefer zu brechen. Jedenfalls fühlte sich das in diesem Moment so an.
Statt mich zur Vernunft zu bringen, mir vielleicht eine Abkühlung zu verpassen, stachelten mich die Schmerzen nur weiter an. Wieder holte ich aus und bohrte meine Faust mit aller Kraft in Chucks Gesicht. Noch immer vom Schlag der Türkante benommen, unternahm er nicht einmal den Versuch, sich zu wehren. Ich spürte, wie seine Zähne unter der Wucht des Aufpralls brachen. Kleine weiße Splitter purzelten aus seinem Mund, fielen klimpernd zu Boden. Darauf spuckte er einen Schwall Blut, dick und rot, als würde er seine Eingeweide auskotzen.
Chuck wankte von einer Seite zur anderen wie ein seekranker Leichtmatrose, hob dann langsam den Kopf und sah mich wütend an. Plötzlich entschloss er sich, zurückzuschlagen. Ihm in seinem jetzigen Zustand auszuweichen, war nun jedoch alles andere als schwer, und so verprügelte er nur noch die Luft. Und so unfassbar es auch wirkte, er faselte noch immer vor sich hin, und die Worte Sam, Leila und Gericht waren seinem zerschlagenen Mund immerhin noch deutlich genug zu entnehmen.
Warum hielt er nicht einfach sein stinkendes Maul? Ich würde es ihm scheinbar endgültig stopfen müssen, damit er die verdammte Fresse geschlossen ließ. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich solchen Hass auf einen Menschen verspürt. Ich packte diesen halbwüchsigen Schleimbatzen an den Haaren, nahm alle Kraft zusammen, die ich aufbringen konnte, und schlug seinen Kopf mit dem Gesicht voraus gegen die Wand. Er hinterließ einen großen, roten Fleck aus Blut und Sabber und sackte sofort zusammen, als besäße sein Körper plötzlich keine Knochen mehr.
Trotz des urgewaltigen Wutrausches, der mich in diesem Augenblick völlig wirr machte, habe ich noch ein einziges, klares Bild der Situation vor mir. Und ich bin überzeugt davon, dass mir meine Wahrnehmung in diesem Moment einen grotesken Streich spielte. Doch in jenem Augenblick sah ich, was ich nun mal sah, verdammt: Chuck drehte sich mühsam auf den Rücken, blickte mit seinen zugeschwollenen, und doch noch immer ekelhaft glotzenden Augen zu mir auf. Selbst jetzt konnte ich in dem Blick, den er mir zuwarf, die arrogante, spottende Verachtung entdecken, die er mir seit jeher entgegenzubringen pflegte. Ha ha, ich ficke deine Frau, schien er mir sagen zu wollen. Ich alter Kerl würde es einfach nicht bringen, aber er würde es Samantha schon kräftig besorgen. Und wollte er mir nicht auch sagen, dass er mir Leila jetzt endgültig wegnehmen würde, dass er ihr ein besserer Vater sein würde, als ich es jemals war? Meine Sinne mögen mir einen Streich gespielt haben, doch war das, was ich in dieser vor sich hinblutenden Kanalratte sah, ausschlaggebend für alles war, was ich anschließend tat.
Vom Hass gepackt krampfte ich zusammen, hob langsam das Bein und schmetterte meinen Fuß in Chucks Gesicht. Ich vernahm ein knirschendes Geräusch und sah weitere Stücke von Chucks Zähnen über den Fußboden fliegen wie kleine Fußbälle. Chuck war am Ende. Der Kerl rührte sich kaum noch, und in diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich Scheiße gebaut hatte und dass ich die Situation irgendwie lösen musste. Verdammt noch mal, es gab keinen Beweggrund, kein Motiv dafür, ihn nun umzubringen, dieses Wrack zu beseitigen. Nein, es war einfach nur purer Hass, der mich antrieb. Nicht mehr. Dieses Arschloch hatte es geschafft, sämtliche Emotionen in mir auf die niedrigste Ebene zu reduzieren. Ich wollte Chuck vernichten. Musste ihn vernichten.
Wie einen Sack Zement schleifte ich ihn an den Beinen durch seine Wohnung, suchte völlig planlos nach einem Weg, ihn zu entsorgen. Hinter mir brabbelte dieser fleischgewordene Müllsack nur noch unverständliches Zeug. Ich öffnete eine Tür und stand plötzlich in seiner Küche. An einer Pinnwand gegenüber der Tür hing ein großes Foto, auf dem Chuck zusammen mit Sam in die Kamera lächelte. Ein typisches Jahrmarktsfoto: Beide waren eingepackt in dicke Jacken. Vor sich hielten sie eine große Portion Zuckerwatte. Glückliche Blicke. Die Nasen von der Kälte gerötet. Ein verdammtes Bilderbuchfoto! Als hätten sie es hierhin gehängt, damit ich es sehe.
Es war dieses Foto, das dazu führte, dass mir Samantha überhaupt erst wieder in den Sinn kam. Zuvor war ich so sehr auf Chuck fixiert gewesen, dass mein ganzer Hass nur noch ihm gegolten hatte. All meine Gedanken waren nur auf ihn gerichtet gewesen, darauf, es diesem Ekelpaket heimzuzahlen. Doch jetzt stand fest, dass auch Samantha ihr Schicksal besiegelt hatte. Was hatte ich zu verlieren? Ich würde sie beide zerstören. Würde sie aus meinem Leben tilgen. Sie hatten ihren verhöhnenden Tanz lange genug auf den Scherben meines Daseins aufgeführt. Leila kam mir dabei nicht einmal mehr in den Sinn.
Überhaupt kam mir nicht viel in den Sinn. Ich wusste nur, dass ich mich noch um Chuck kümmern musste. Eilig hatte ich beschlossen, ihn aus dem Küchenfenster zu werfen, hoch genug wohnte er schließlich. Doch dann begann er, wieder lauter zu stöhnen, zu ächzen und den Kopf von einer Seite zur anderen zu werfen. Das Schwein kam doch tatsächlich wieder zu sich! Unkraut vergeht eben nicht, eine bittere Wahrheit, die ich nicht zulassen wollte. Nicht zulassen konnte. Ich wollte seine penetrante Stimme nicht länger hören, wollte ihn nicht mehr ertragen müssen, nicht heute und nicht morgen. Nie wieder! Meine Blicke wanderten hektisch durch den Raum, suchten noch immer nach einer Lösung.
Die Lösung schließlich sollte ich finden. Beigefarben und unauffällig stand sie auf der Arbeitsplatte, diese recht altertümlich aussehende Brotschneidemaschine, wie sie nur Großmütter oder minderwertige Wurstmänner besitzen konnten. Mein Blick ging abwechselnd zu Chuck und zurück zu der Maschine. Er hatte es nicht anders verdient! Ich ließ Chucks Bein, das ich noch immer festhielt, fallen. Wie ein Stein krachte es zu Boden. Chuck wand sich inzwischen mehr und mehr. Wenn noch länger brauchte, würde er noch einen verdammten Marathon laufen! Jetzt musste alles schnell gehen.
Ich brach die Sicherheitsabdeckung aus Kunststoff von der Brotschneidemaschine ab, so dass das Sägeblatt frei lag und drückte auf den Netzschalter. Nichts. Der Stecker war nicht in der Dose. Kleines Problem, das war schnell behoben war, und schon begann die Brotschneidemaschine, sich laut surrend in Bewegung zu setzen.
Vielleicht ahnte Chuck, was ihm blühte, jedenfalls versuchte er tatsächlich, mit letzten Kräften auf die Beine zu kommen. Ich half nach, zog ihn an den Haaren hoch und schlug seinen Kopf kräftig auf die Arbeitsplatte. Wieder spritzte Blut durch den Raum. Er verdrehte benommen die Augen, wollte sofort wieder in sich zusammensacken, doch das ließ ich nicht zu. Ich würde dafür sorgen, dass er sich gut in der Auslage seines eigenen scheiß Ladens machen würde.
Ich hielt ihn oben, schob ihn auf die Arbeitsplatte und drückte sein Gesicht langsam in das Sägeblatt der Brotschneidemaschine. Kräftiger Motor, keine Sicherheitsblockierung. Tatsächlich eine alte Maschine, dachte ich. Chucks Körper zappelte, als stünde er unter Strom. Er schrie mit seiner ekligen Stimme, und das machte mich nur noch rasender. Ich drückte fester und sah zu. Ja, ich genoss es irgendwie, zu sehen, wie sich das Sägeblatt gierig in sein Gesicht hineinfraß, wie es genüsslich ratternd sein zuvor doch so jugendlich wirkendes Antlitz zerstörte. Ob Samantha nun immer noch mit ihm bumsen wollte? Noch immer schwelte der pure Hass in mir. Nun gab es endgültig kein Zurück mehr. Ich drückte noch fester. Adrenalin sprudelte durch meinen Körper, spendete mir Freunde. Schenkte Genugtuung. Es war nur gerecht. Alles war so gerecht.
Die Schreie waren bereits verstummt, als Chucks letzte Zuckungen endlich abebbten. Ob die Nachbarn uns gehört hatten? Würden sie wohl. Sein Oberkörper lag regungslos auf der Arbeitsplatte, umgeben von einer großen Lache seines eigenen Blutes. Chucks nette kleine Küche sah aus wie ein Schlachthaus. Die Wand war rot gesprenkelt, ich ebenso. Chucks Gesicht - nur noch ein Haufen Matsch. Chuck der Wurstverkäufer war tot. Chuck der Fleischsalat, dachte ich. Sollte er sich doch selbst verkaufen. Vier fünfzig das Pfund. Ich lachte laut.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort in der Küche stand, doch mehr als ein paar Minuten dürften nicht ins Land gezogen sein. Ich sah auf mein Werk hinab, und nun, da der Blutrausch spürbar von mir abließ, konnte ich klar und deutlich sehen, was ich angerichtet hatte. Konnte es erfassen, und es war mir egal. Dann sah ich an mir selbst herab, und meine blutbefleckte Kleidung war mir ganz und gar nicht nicht egal. Das Badezimmer musste ich in dieser kleinen Bruchbude nicht lange suchen. Ich wusch hastig meine Hände und mein Gesicht. Mit all den Blutspuren würde ich draußen sicher nicht weit kommen. Jetzt spürte auch wieder den Schmerz in meinem Kiefer. Ich öffnete den Mund und schloss ihn. Das Pochen würde so schnell nicht nachlassen, doch gebrochen schien nichts zu sein. Nicht einmal zu einem kräftigen Kinnhaken war dieser Versager in der Lage gewesen.
Ich tastete noch ein wenig meinen schmerzenden Kiefer ab, befand, dass ich Glück gehabt hatte, dann durchsuchte ich Chucks Wohnung nach frischen Klamotten, die ich mir überwerfen konnte. Ich fand einen langen, schwarzen Mantel, hässlich und geschmacklos wie Chuck. Aber das Ding würde wohl reichen. Zwar war es draußen nicht gerade kalt, doch unpassende Kleidung würde sicher weniger auffallen, als mit Blut beschmutzte.
Wieder fielen mir die Nachbarn ein. Ich würde mich beeilen müssen, wegzukommen. Gerade als ich zur Haustür raus stürmen wollte, fiel mir der Schlüsselkasten neben der Haustür auf. Ich probierte einige Schlüssel an der Tür aus und fand schließlich den passenden. An einem von ihnen war ein kleines Namensschild befestigt. Samantha, stand in geschwungenen Lettern darauf. Wie passend, dachte ich und steckte den Schlüssel ein.
Nachdem ich die Wohnungstür hinter mir zugeschlagen hatte, schob ich den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn zweimal herum und sorgte anschließend mit einigem Nachdruck dafür, dass er abbrach. Den Rest des abgebrochenen Schlüssels ließ ich in meiner Hosentasche verschwinden und rannte anschließend die Treppenstufen hinab.
Bis zu Samanthas Wohnung waren es keine drei Meilen. Ich würde zu Fuß gehen, dabei die Nebenstraßen nehmen und hoffen, dass ich wegkam, bevor hier das Chaos losbrach. Schließlich gab es noch viel zu tun. Samantha sollte mich nicht schon von der Hauptstraße aus kommen sehen.
IV. Akt: Zweites Zwischenspiel
Schnellen Schrittes bewegte ich mich durch die eng angelegten Seitenstraßen, immer so nah wie möglich an den Hausfassaden entlang. Ich rannte jedoch nicht. Achtete auf meinen Gang. Wollte kein Aufsehen erregen, solange es nicht nötig war, schließlich lief mir ohnehin die Zeit davon. Noch immer zerkochte die Wut meinen Verstand, brannte jegliches Aufkeimen eines vernünftigen Gedankens augenblicklich hinfort, schärfte dafür jedoch meine Instinkte. Machte mich nur berechnender. Kälter. Machte mich zum Tier. Chuck hatte die Büchse der Pandora geöffnet und seine blutige Quittung dafür bekommen. Ich hatte sein Leben geraubt, nachdem er mein eigenes so viele Male gestohlen hatte. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Alles, was recht ist, und Rache ist Gerechtigkeit. Wohlschmeckende Gerechtigkeit.
Ich war keine Meile weit gekommen, als ich schon die verdammte Sirene hörte. Diese dämlichen Bullen! Wenn man sie mal brauchte, machten sie erst einen Abstecher ins nächste Fastfoodrestaurant, aber wehe, sie waren einem mal ungelegen. Würde man Chuck etwa tatsächlich schon gefunden haben? War gut möglich, schließlich war das ganze Gerangel in seiner Bude nicht eben leise abgelaufen. Im Gegenteil, selbst beim Sterben war der Kerl unerträglich gewesen. Hatte geschrien wie am Spieß und die Situation damit nicht gerade verbessert. Dazu der abgebrochene Schlüssel. War eher ein Hinweis, als ein Hindernis. Wohl keine gute Idee gewesen, dachte ich, konnte es nun aber auch nicht mehr ändern.
Als das Heulen der Sirene sich bedrohlich näherte und es selbst für einen wandelnden Dampfkessel wie mich voraussehbar wurde, dass der Einsatzwagen, egal ob Ambulanz oder Polizei, gleich an mir vorüberrauschen würde, schlug ich mich blitzartig in die Büsche, die mir, nach hektischem Absuchen der umliegenden Gegend, direkt neben einem hübsch gestalteten Gebäude zu meiner linken ins Auge gefallen waren. Im Sprint, vorbei an dem großen Schild vor der Eingangstür, nahm ich wage wahr, dass es sich um die Praxis eines Psychiaters handelte. Wie passend, denke ich jetzt. Hätte wohl gleich hineingehen und mich auf die Couch legen sollen.
Stattdessen ging ich in sicherem Abstand zur Straße beobachtend in Deckung und wartete, bis die Bullenkolonne an mir vorüber gezogen war und sich wieder entfernte. Wenige Augenblicke später verstummten die Sirenen auch schon. Sie hatten also gehalten. Scheiße, ich wusste, dass es knapp für mich werden würde. Aber so knapp?
Irgendein verdammter, besorgter Nachbar. Mit denen war es wie mit den Bullen: Sie kümmerten sich nur dann um den Scheiß der anderen, wenn es einem so gar nicht passte. Ich hatte ja damit gerechnet, jedoch nicht so schnell. Wie lange sie wohl brauchen würden, um von Chuck auf Samantha und schließlich auf mich zu kommen?
Ich richtete mich auf und wollte gerade loslaufen, als mein Fuß gegen einen harten Gegenstand stieß. Reflexartig sah ich nach unten und entdeckte die von Sand und Laub schmutzige Pistole. Einfach so! Neben dieser verdammten Praxis. Zuerst hielt ich sie für eine Halluzination. Hirngespinste hätten mich wirklich nicht mehr sonderlich verwundert, nachdem ich aus Chuck Sägemehl gemacht hatte. Das Ergebnis einer Panikreaktion, schließlich stand ich unter Stress. Ich musste immerhin davon ausgehen, dass ich jetzt einen riesigen Trupp Polizisten an den Hacken hatte.
Wie die verfluchte Waffe hierher gelangt war, was wohl ihre Geschichte gewesen sein mochte, würde wohl ihr Geheimnis bleiben. Hatte keine Zeit für Nachforschungen oder wilde Spekulationen. Keine Zeit für Geschichten, schließlich hatte ich ein Geschäft zu erledigen.
Vielleicht war es am Ende sogar die Tatsache, dass mich die Polizei zur Eile antrieb, die mich dazu bewegte, das Teufelsding überhaupt mitzunehmen, daran zu denken, die Pistole einzusetzen. Das Geplänkel mit Chucky Boy hatte zu lange gedauert. Bei Samantha musste es schneller gehen, wenn ich die Sache zu einem richtigen Ende bringen wollte. Und es würde schneller gehen.
Nun rannte ich also doch.
V. Akt: Samantha
Dass Samantha eine Wohnung im Erdgeschoss bezogen hatte, kam mir gerade recht. Pech gehabt, was musste sie mich auch verlassen? Nachdem ich weder Polizeiautos, noch verdächtige Gestalten in der Nähe entdeckt hatte, hatte ich ursprünglich vorgehabt, einfach an ihrer Tür zu klingeln. Hallo, ich bin's, der Postbote. Oder, im Fall, dass Samantha nicht öffnen würde (Hatte die Polizei sie bereits angerufen?), mit Gewalt die Tür einzutreten. Entkommen würde mir das verdammte Miststück ohnehin nicht.
Aber so viel nachdenken musste ich gar nicht, kam mir das vermeintliche Glück doch gerade auf dem Präsentierteller zugegen. Denn stattdessen sah ich, dass die Balkontür nicht geschlossen, sondern nur angelehnt war. Schlecht für Samantha, gut für mich. Das würde die Sache leiser ablaufen lassen. Einfacher. Schneller. Zeit, auch sie den blutigen Geschmack der Rache kosten zu lassen. Rache für siebzehn kostbare Jahre meines Lebens, die nun im Staub giftiger Erinnerungen nichts als Hass und Verachtung in mir auszulösen vermochten. Auch sie hatte mich ermordet, verdammt!
Wenn sich mir schon eine offene Balkontür bot, sollte Samantha mich erst recht keinesfalls zu früh entdecken. Nachdem ich bis an die Fassade des Hauses gelangt war, erklomm ich daher von der Seite vorsichtig und so leise ich konnte den Balkon, schwang meine Beine über das Geländer und ging sofort in Deckung. Wie eine Bandansage ging es mir immer wieder durch den Kopf: Jetzt nur nichts vermasseln! Jetzt nur, verdammt noch mal, nichts vermasseln! Ich spitzte die Ohren, horchte auf, wartete. Auch in Eile sollte man immer Geduld haben. Wer keine Geduld hat, braucht gar nicht erst zu beginnen. Womit auch immer. Eine der wenigen Weisheiten, zu denen ich noch tauge. Es waren keinerlei Geräusche zu hören, und so wagte ich es endlich, mich nach vorn zu beugen, um einen raschen Blick durch die Tür werfen zu können. Niemand da. Was, wenn sie nicht zu Hause war, schoss es mir panikartig durch den Kopf. Eine zweite Chance würde ich vermutlich nicht bekommen. Ich spürte, wie mich eine unangenehme Hitze befiel, wie ich zu schwitzen begann. Und mein Kiefer begann, heftiger zu schmerzen. Hatte Chucks Treffer schon fast vergessen.
Schnell zog ich die Waffe aus der Manteltasche, tätigte einige Handgriffe, von denen ich meinte, dass sie das Ding entsichern und durchladen würden und sah sie noch einmal an. Metallene Todesbotin. Eine Kugel. Mehr würde ich nicht benötigen, wenn ich es gut machte. Und ich würde es gut machen. Ich hatte mir diesen einen Triumph verdient.
Ich schob eine Hand durch die Balkontür und drückte sie so leise wie möglich auf. Die Luft war rein, also betrat ich das Wohnzimmer und sah mich um. Der sehr kleine Raum wirkte selbst jetzt furchtbar beengend auf mich. Gott, wie hielt sie es hier aus? Für einen schmierigen Wurstverkäufer und dieses Rattenloch hatte sie mich aufgegeben? Unser Leben? Samantha hatte das Zimmer nur spartanisch eingerichtet. Eine billige Schrankwand aus einem windigen Möbelgeschäft, eine geschmacklose Couch und ein alter, zerschrammter Holztisch davor. In einer Ecke des Raumes standen Kartons. Sie brachte es also fertig, mich zu verdammen und war nicht mal in der Lage, innerhalb eines Jahres ihre Wohnung vernünftig einzurichten. Oder wollte sie schon wieder ausziehen? Eine gemeinsame Wohnung mit Chuck beziehen? Erneut kochte die Wut im mir hoch, schlug Blasen. Ich umklammerte den Griff der Pistole fester. Ich würde sie benutzen, das war sicher!
An den Wänden hingen einige Fotos. Auf einigen nur Samantha, auf anderen Samantha und Chuck. Auch Samantha und Leila. Und ich? War auf keinem der Bilder vertreten. Natürlich nicht. Ich musste mir das nicht länger ansehen. Die Bilder brannten mir in den Augen, machten mich traurig und rasend zugleich. Tränen konnte ich jetzt nicht brauchen. Keine Emotionen, verdammte Scheiße! Wollte doch die ganze Sache beenden und verschwinden. Selbst, wenn die Bullen mich danach doch noch erwischen würden. Ach was, sollten sie doch! Ich würde meine Gerechtigkeit bereits bekommen haben. Sollte das Gefängnis ruhig der Ausgleich für das Recht sein, mir ein Stück Leben zurückzuholen. Mir war es egal. Diese Rache stand mir zu, und das war eine Tatsache, in Stein gemeißelte Wahrhaftigkeit.
Ich war keine drei Schritte vorangegangen, als ich plötzlich leise Geräusche aus einem der anderen Zimmer vernahm. Wie auf Eiern schlich ich bis zur Zimmertür vor und blickte in den Flur hinaus. Die Tür zu einem der anderen Räume stand einen Spalt weit offen. Ich konnte helle Fliesen erkennen. Schatten bewegten sich. Samantha war also doch zu Hause. So leise ich in all meiner Aufregung konnte, betrat ich den Flur und bewegte mich in einem Radius um den Türspalt. Ich wollte so viel wie möglich sehen können, um vorbereitet zu sein. Sie würde kaum wissen, was sie ereilt hat, wenn ihre Lichter ausgehen.
Dann endlich hatte ich sie genau vor mir. Dieses Miststück! Samantha stand vor dem Badezimmerspiegel und fuhrwerkte in ihrem Haar herum. Sie hatte früher schon unverhältnismäßig viel Zeit damit verbracht, ihre Frisur in Form zu bringen, hatte damit Zeitpläne platzen lassen, hatte unnötige Streits provoziert. Und hatte nach all dem Aufwand für mich doch immer gleich ausgesehen. Hätte ich mir gleich denken können, dachte ich. Wenn ich sie irgendwo erwischte, dann am wahrscheinlichsten im Badezimmer. Weiber! Wahrscheinlich würde sie sich für ihren Kotzbrocken hübsch machen. Ob er sich wohl auch hübsch gemacht hatte? Ha ha!
Samantha stand mit dem Rücken zur Tür und ahnte nicht, dass nur wenige Meter hinter ihr das Verderben lauerte. Sie hatte mich nicht gehört. Und da stand sie nun, fuhr mit einer Bürste durch ihr brünettes Haar, fuhr mit den Finger hektisch hindurch. Gott, ich würde Krämpfe in den Fingern kriegen, wenn sich so auf meinem Kopf herumfuhrwerkte. Mach dich nur zurecht, damit Chuck dir anschließend die Frisur wieder ruinieren kann, während er ihr das Hirn raus vögelt, dachte ich. Allein, sie nun so vor mir zu haben, ihren Bewegungen zuzusehen, machte mich krank. Ich würde sie jetzt gleich abknallen, wollte ihr nicht erst ins Gesicht sehen müssen. Chuck zu töten, fiel mir nicht schwer. Dieses Schweinegesicht hatte ich immer schon gehasst. Doch Samantha hatte ich einst geliebt, und ich wollte nun nicht riskieren, dass sie mein Vorhaben zerstörte, indem sie mich ansah und mir so die Kraft stahl. Sie hatte mir schon genug geraubt. Den Tod hatte sie, zur Hölle noch mal, verdient.
Erneut pressten sich meine Finger fest um den Griff der Pistole. Langsam hob ich den Arm, streckte ihn ganz durch. Jetzt zielte ich mit der Pistole genau auf Samanthas Hinterkopf. Ein letztes Mal atmete ich tief ein. Hielt die Luft an. Wollte meinen Kopf frei bekommen, stellte dabei fest, dass er bereits völlig klar war. Keine unpassenden Gedanken störten mich mehr. Das Adrenalin rauschte auf einer Achterbahnfahrt durch meinen Körper. Ich sah Samantha über die Waffe hinweg an. Sah sie genau an! Wie sie ihre letzte Bewegung ausführte. Dann drückte ich ab.
Dass der Knall der Waffe so laut sein würde, hatte ich nicht erwartet. Der Schreck nahm mir die Konzentration, ließ mich zurückstolpern. Dann sah ich wieder hinüber zum Badezimmer. Ein grotesk großer, roter Fleck aus Blut und Hirnmasse klebte an den zuvor so sauberen Fliesen und am Spiegel, bahnte sich bereits mühsam seinen Weg nach unten. Samantha lag regungslos am Boden. Ihr unnatürlich verrenkter Körper lag mit dem Gesicht nach unten in der größer werdenden Blutlache. Samantha, meine Exfrau, Chucks Schlampe, war tot. Es war endlich vorbei. Vorbei, und ich war der Sieger!
Der Schuss hatte ein Pfeifen in meinen Ohren verursacht, und mir war klar, dass wirklich jeder hier in diesem beschissenen Haus mit seinen verdammt dünnen Wänden hellhörig geworden sein musste. Würde nicht anders sein, als bei Chuck. Irgendeine besorgte Großmutter mit Lockenwicklern im weißen Haar würde jetzt die Bullen rufen. Ich drehte mich weg, rannte zurück ins Wohnzimmer, wollte durch die Balkontür verschwinden, durch die ich gekommen war, als mir die Fotos an der Wand wieder ins Auge fielen. Samantha und Leila. In all der Rage, die mich gefangen gehalten hatte, hatte ich Leila fast völlig verdrängt. Meine arme Leila. Sie würde einen riesigen Schock bekommen, wenn sie ihre Mutter so finden würde. Nein, meine Tochter sollte nicht mehr leiden, als notwendig. Ich wollte ihr nicht antun, was man mir angetan hatte.
Es war dieser Moment, in dem mich erste Schuldgefühle überkamen. Wie Zecken bissen sie in mein Gewissen und versprühten ihr emotionales Gift. Samantha tat mir keinesfalls leid, sie hatte ihr Schicksal selbst geschmiedet. So hätte sie niemals jemanden behandeln dürfen. Nicht mich und auch niemanden sonst! Doch nun hatte ich auch Leilas Leben zerstört. So wie Sam und Chuck meines zerstört hatten. Was hätte ich nun noch für sie tun können? Alles, was mir einfiel war, dass ich meiner Tochter zumindest den Anblick erleichtern konnte. Sie sollte nicht auf angetrocknete Hirn- und Knochenstücke blicken müssen, wenn sie nach Hause kam. Das zu verhindern, war das Mindeste, was ich für sie tun konnte. Keine Wiedergutmachung, doch die war sowieso ausgeschlossen. Das wusste ich selbst in diesem Moment, in dieser ekstatischen Situation sehr genau.
Ich eilte durch die Wohnung, suchte ein Tuch, eine Tischdecke, irgendwas. Dann fiel mir die Couch wieder ein, über die ein Bettlaken ausgebreitet lag. Samantha musste im Wohnzimmer geschlafen haben. Wahrscheinlich hatte sie Leila das Schlafzimmer der kleinen Wohnung überlassen. Bei mir hatte sie es besser gehabt. Ich riss das Laken von der Couch, knüllte es zusammen und rannte zurück ins Badezimmer. Bevor die Bullen eintrafen, wollte ich zumindest damit fertig sein.
Mittlerweile schwamm hier alles in Blut. Was sollte ich tun? Ich konnte schließlich keine Reinigungsfirma kommen lassen, sondern nur das Nötigste abdecken. Meinen Blick auf Samanthas zusammengesackten Körper geheftet, stellte ich fast schon beängstigt fest, dass ich noch immer kein Mitleid für sie empfinden konnte. Ich suchte jedoch auch gar nicht erst bewusst in mir danach. Falls es irgendwo Gefühle für sie gab, die etwas anderes als Hass und Abscheu waren, so wollte ich sie gar nicht finden. Hatte sie denn Mitleid für mich gezeigt? Sie hatte es selbst nicht anders gewollt. Ich riss meine Gedanken los, machte weiter. Das Laken ausbreitend, beugte ich mich herunter, wollte Samantha auf den Rücken drehen, ihren Körper abdecken, als ich zur Salzsäule erstarrte.
Leila! Ich ließ das Laken los. Das konnte nicht sein, konnte nicht wahr sein, musste ein Irrtum sein! Vor meinen Augen tanzten schwarze Punkte, machten das grausige Bild undeutlich, das sich mir bot. Die Realität schien sich aufzulösen. Ich spürte, wie mir jemand die Fliesen unter den Füßen wegzog, verlor das Gleichgewicht, setzte mich unsanft auf den Boden und spürte sofort die Nässe des Blutes unter mir. Vor mir lag meine Tochter, mit aufgerissenem Schädel, mit Stücken von Hirnmasse und weiß schimmernden Knochensplittern im Gesicht. Und ich saß neben ihr, hockte in ihrem Blut. Mein Verstand schien mit mir Ping Pong zu spielen. Wenn ich nur versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, schien es, als würde er sofort wieder hinfortgefegt. Ich schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen, schloss die Augen, versuchte, mich zu beruhigen. Ich fühlte, wie mein Herz raste, wie es fast zu explodieren drohte. Ich hatte meiner eigenen Tochter das Hirn rausgeblasen. Dem Menschen, der am wenigsten mit alldem zu tun hatte. Dem Menschen, der vielleicht noch mehr gelitten hatte als ich selbst. Dem einzigen Menschen, den ich noch geliebt hatte und der mich geliebt hatte.
Scheiße noch mal, reiß dich zusammen, sagte ich mir immer wieder, doch das half nicht weiter. Ich öffnete meine Augen, sah Leila an. Mein Verstand begriff. Tränen schossen mir in die Augen, machten das scheußliche Bild gnädigerweise unklar. Wie, zur Hölle, konnte Leila hier sein, war die Frage, die mir nun in den Kopf schoss wie ein Blitzschlag. Wie nur? Sie hätte in der Schule sein sollen. Mir fiel wieder ein, dass sich sie eigentlich später abholen wollte. Mir fiel ein, dass ich ihr einen Brief geschrieben hatte. Alle Kräfte verließen mich.
Es war dieser Augenblick, in dem mich das Gefühl übermannte, jemand würde ein ganzes Meer über den schwelenden Brandherd der Wut in meinem Verstand kippen. Es zischte, dampfte, machte die Luft unerträglich. Ihre Erscheinung - ganz die Mutter, dachte ich plötzlich wieder. So oft hatten die Leute ihr das gesagt. Ganz die Mutter. Ich hatte Leila für Samantha gehalten. Ganz die Mutter. Den Sturkopf vom alten Herrn. Unter Tränen brach ich zusammen, schrie. Ich schrie meine Wut heraus, meinen Schmerz, einfach alles. Ich brüllte so laut, wie ich konnte, und es war mir egal, ob mich die ganze Welt hörte. All der Hass, der Zorn, der Unverstand, fielen von mir ab, flohen feige durch die Hintertür, ließen mich nackt in der Haut unerträglichen Kummers zurück.
Doch anders, als ich es mir in dem Moment gewünscht hätte, betäubte mich der brennende Schmerz keinesfalls. Stattdessen warf er mich gnadenlos zurück in die klare Kälte der Welt, die mich umgab. Ausgerechnet jetzt musste die Vernunft wieder Einzug halten, breitete sich in atemberaubendem Tempo in meinem Kopf aus, schickte sich an, verbrannte Erde wieder fruchtbar zu machen. The show must go on.
Ich spürte, wie Hitze in mein Gesicht fuhr, wie meine Augen unter all den Tränen brannten. Nun hockte ich in dieser Horrorversion von Samanthas Badezimmer, umgeben von dem Gestank geliebten Blutes, nicht länger vom Rausch meiner Wut betäubt, sondern völlig nüchtern und in dem Wissen, dass ich Leila erschossen hatte. Dass ich meine eigene Tochter ermordet hatte.
VI. Akt: Und Gerechtigkeit für alle?
Es mochten nur Minuten vergangen sein, die mir jedoch wie Stunden, wie Tage und schließlich wie Jahre erschienen, seit ich mich neben meine Tochter gesetzt hatte. Leila, meine Tochter, die ich ermordet hatte. Mit dieser verdammten Waffe. Mit meinen eigenen verfluchten Händen. Ich hatte Leilas Kopf auf meinen Schoß gebettet, während meine Finger durch ihr vom Blut verklebtes Haar strichen. Nun bezahlte ich mit unzähligen Tränen für das unschuldige Leben, das in dem Krieg gefallen war, den Chuck und Samantha provoziert hatten. Aber hatten sie das überhaupt? Oder war ich es selbst gewesen, der die ersten Salven abgefeuert hatte, bevor die wirkliche Kugel den Lauf der Waffe verließ? Ich wusste es nicht mehr. Ich wusste überhaupt nichts mehr. Und auch jetzt bin ich mir, was die Schuldzuweisungen betrifft, nicht mehr sicher. Ich hatte geschossen, und das war, was einzig zählte. Auch ist dies alles, was nun zählt, was immer zählen wird.
Als ich noch immer neben Leila hockte, war alles, was ich wusste nur, dass ich nicht an diesem Ort gefunden werden wollte. Ich wollte keine verurteilenden Blicke ertragen, wenn die Polizisten mich fanden und wegbrachten. Wollte keine schockierten Gesichter sehen. Ich wollte nicht auf Samantha treffen, wollte nicht ihre Schreie hören, die mich ganz sicher bis in alle Ewigkeit durch die Nacht gejagt hätten.
Viel von dem, was ich anschließend tat, hat keinen Weg in meine bewusste Wahrnehmung gefunden. Die Situation hatte mich in eine Art Trance versetzt. Woran ich mich deutlich erinnere ist, dass ich das Laken letztlich über Leila ausgebreitete. Über Leila, statt über Samantha. Ich konnte sehen, wie sich der zuvor weiße Stoff langsam rot verfärbte. Rot vom Blut meiner Tochter, Blut, das ich vergossen hatte. Auch dieser Gedanke blieb in mir haften.
Den Brief, den ich noch am selben Morgen geschrieben und den ich zusammengefaltet in meiner Hosentasche getragen hatte, legte ich auf Leilas verdeckten, leblosen Körper, ganz als würde ich glauben, sie könnte wieder aufwachen, ihn doch noch lesen, als könnte ich sie mit meinen Worten noch einmal zum Lächeln bringen. In diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher. Ein Wunsch, den mir niemand mehr erfüllen können würde.
Ich erinnere mich seltsamerweise auch sehr deutlich an die Blicke der alten Nachbarin, die in ihrer Küchenschürze in der Tür stand und mich wortlos mit ängstlichen und zugleich neugierigen Augen anstarrte, als ich die Wohnung verließ. Ihr Blick fiel auf meine vom Blut besudelten Hände. Und als ich sie ansah, mit meinem schuldigen und vom Weinen wahrscheinlich geschwollenen Gesicht, mit meinen roten Händen, da verschwand sie schleunigst wieder in ihrer Wohnung und schlug hastig die Tür zu.
Das Haus ließ ich rennend hinter mir, obwohl ich noch nicht mal wusste, wohin ich laufen sollte. Wahrscheinlich würden die Bullen auch hier nicht viel Zeit benötigen, um am Tatort zu sein. Die alte Frau hatte mit ziemlicher Sicherheit die Polizei angerufen. Und selbst wenn nicht, dann hatte es einer der anderen Nachbarn getan. Doch das war jetzt egal. Es war so oder so vorbei, ganz gleich, wohin ich nun gehen würde und was ich tun würde. Alles war vorbei.
Als ich schließlich wieder zu mir kam, stand ich in meiner eignen Wohnung im Esszimmer, sah auf den zertrümmerten Tisch hinab. Mir schoss der gesamte Ablauf dieses Tages wie ein Blitz durch den Kopf. Was hatte ich nur getan? Ich griff in die Tasche des Mantels, den ich Chuck gestohlen hatte, suchte die Pistole. Sie war verschwunden. Ich war mir sicher gewesen, sie beim Verlassen der Wohnung in die Tasche geschoben zu haben. Offensichtlich hatte ich sie unterwegs weggeworfen, so als könnte ich die Schuld einfach abstreifen, sie entsorgen, als wäre sie nichts weiter, als ein Stück zerbrochenes Geschirr. Als wäre überhaupt nichts geschehen. Scheiße! Es waren vier Kugeln im Lauf gewesen. Jetzt hätte ich die Waffe gebraucht. Eine Kugel würde ich benötigen, hatte ich gedacht. Nun hätte ich gern eine weitere für mich gehabt.
Aber ach, das wäre zu feige gewesen. Ich wollte nicht feige sein. Wie konnte ich Chuck und Samantha für alles, was sie mir angetan hatten, bezahlen lassen, während ich selbst meiner eigenen Strafe entfliehe? Ich sagte bereits, dass ich an Gerechtigkeit glaube. Chuck wurde für das, was er mir und meiner Familie angetan hatte, bestraft. Samantha auch. Obwohl sie lebt, ist sie von uns allen wahrscheinlich am schlimmsten dran.
Ich selbst habe meine Tochter getötet. Leila war jung, unschuldig, hatte niemandem etwas getan. Und mir am allerwenigsten. Für mich würde es niemals eine angemessene Strafe geben. Meine Strafe würde das Leben sein, das Leben mit diesem unerträglichen Wissen, mit dem grässlich bitteren Geschmack der Rache, der sich mit nichts auf der Welt je betäuben lassen würde.
Ein Leben im Gefängnis? Von mir aus. Was machte das schon?
Wie lange ich nun schon hier am Fenster stehe, überlege ich und weiß es ja doch nicht. Ich warte. Höre endlich, wie sich die Sirenen nähern. Das war es dann also. Alles vorbei. Gerechtigkeit für alle. Nur nicht für Leila. Meine geliebte Leila.
- Ende -