Beschreibung
Diese Geschichte ist als Kinderbuch gedacht gewesen.
In letzter Zeit wird immer wieder darauf hingewiesen, wieviele TonnenLebensmittel jährlich in Deutschland in der Tonne landen.
Diese Geschichte möchte erneut zum Nachdenken über ein verändertes Bewusstsein gegenüber dem Wert des Brotes anregen.
Die Ährenfee
Chris und Uli sind echte Stadtkinder. Sie wissen, wo man am besten einkauft und gehen jeden Morgen zum Supermarkt, um dort frische Brötchen oder Brot zu holen. Heute hatte ihnen die Mutter Vollkornbrot mit Käse und Radieschen als Pausenbrot in die Schule mitgegeben. Aber das schmeckte ihnen nicht und so landete es im Schulpapierkorb. Wieder von der Schule zuhause, fragt sie die Mutter, ob sie ihr Brot gegessen hätten und ob es geschmeckt habe. Beide nicken nur stumm.
Das Wochenende steht vor der Tür. Da die Großeltern wegen ihrer Gesundheit vor kurzem aufs Land gezogen sind, soll es nun den ersten Besuch dort geben. Die ganze Familie ist mit dem Auto hinausgefahren. Oma und Opa wohnen am Ende des Dorfes, wo sie direkt neben den Feldern ein kleines Häuschen zur Miete gefunden haben. Ein Garten ist auch da. Hier zieht Oma nun Gemüse und Blumen für den Hausgebrauch.
Die beiden Buben haben in ihrem Gästebett tief und fest geschlafen und so ziehen sie heute ganz unternehmungslustig los, um die neue Umgebung zu erkunden. Für die beiden Stadtkinder gibt es ja unendlich viel Neues und Unbekanntes zu entdecken, während sich die Erwachsenen bei einem Gartenrundgang und anschließendem Kaffee und Kuchen auf ihre Weise unterhalten.
Gleich hinter Omas Garten erstreckt sich eine riesige "Wiese". Da blühen die schönsten Blumen und das Gras steht so hoch, dass es den beiden Buben fast bis an die Schultern reicht. Erst pflücken sie ein paar Blumen. Dann entdecken sie, dass es ideal ist, um sich darin zu verstecken. Sie genießen dieses Spiel, rennen mit hoch erhobenen Armen zwischen den harten Halmen hindurch, jagen sich, bauen sich tolle Nester zum Verstecken und toben sich so richtig aus. Am Ende der "Wiese" steht ein größerer Baum, der zum Klettern einlädt. Nichts wie hin!
Als sie aber unter dem Baum angekommen sind, überfällt sie plötzlich eine heftige Müdigkeit und sie legen sich in den Schatten des Baumes. Schnell sind beide eingeschlafen. Plötzlich steht ein junges Mädchen vor ihnen, das bitterlich weint.
Weil beide nicht hartherzig sind, fasst sich Chris, der Mutigere von beiden, ein Herz und fragt: „Wer bist du denn und warum weinst du so schrecklich? Was ist denn passiert?“ Auf diese Frage hin weint das junge Mädchen noch viel schlimmer. Die Tränen werden immer dicker und größer, die Schluchzer immer heftiger und das Mädchen kann vor lauter Weinen nicht sprechen. Die beiden Lausbuben fühlen tiefes Mitleid mit ihr. In diesem Augenblick werden ihre Tränen weniger und unter vielen Seufzern beginnt sie zu sprechen. „Ich bin die Herrin hier über dieses Kornfeld.“ „Kornfeld?“ wiederholen die Buben wie aus einem Mund. „Aber das ist doch eine Wiese,“ meint Uli. Da beginnt das Mädchen wieder zu weinen. Als sie sich ein wenig beruhigt hat, antwortet sie nach einiger Überlegung: „Es ist nicht meine Art, viel zu erzählen, stattdessen begleitet ihr mich am besten.“
Wie auf den Flügeln des Windes geht es dahin und als sie landen, ist es heiß und staubig und die Sonne brennt erbarmungslos vom Himmel. Die zwei Buben schauen sich an und stellen fest, dass sie eine schwarze Hautfarbe haben und bis auf ein Hüfttuch nackt sind. Uli hat Tränen in den Augen. „Ich habe solchen Hunger! Wenn ich doch nur ein Stückchen Brot hätte!“ Da meint Chris: „Ich wäre schon mit einer Brotkruste zufrieden.“ Da nähert sich ihre Mutter und bringt ihnen eine kleine Schale mit trüb-braunem Wasser. „Meine Kinder, trinkt, dann tut der Hunger nicht gar so weh.“ Tränen glitzern in ihren Augen, als sie sich abwendet. Die Kinder legen sich in den dürftigen Schatten eines fast kahlen Baumes, um ihren Hunger zu verschlafen. Und weiter geht die Reise mit der Herrin des Kornfeldes.
Als sie wieder erwachen, liegt es an der Kälte, die sie umgibt. Eine dünne Schneeschicht bedeckt den Boden und riesig hohe Berge erheben sich ringsum. „Mich hungert,“ sagt Chris, „wo nur der Vater mit der Jagdbeute bleibt?“ Uli weint nur still vor sich hin, weil auch ihn schon seit drei Tagen der Hunger quält. Da nähert sich der Vater – auch diesmal mit leeren Händen. Tränen stehen in seinen Augen, aber er geht wortlos weiter. Die Kinder folgen ihm bis zum weit entlegenen Zelt, wo sie dann vor Erschöpfung einschlafen. Sie träumen von ihrem weggeworfenen Schulbrot. Aber immer, wenn sie danach greifen wollen, entwischt es wieder ihren Händen. Und der Hunger nagt und nagt. Doch währenddessen geht die Reise auf Traumflügeln weiter.
Als sie wieder aufwachen, bringt das junge Mädchen sie zu ihrer Urgroßmutter. Sie treffen sie auf einem abgeernteten Getreidefeld. Die Urgroßmutter hat einen Korb am Arm hängen. Als Uli fragt, was sie denn hier wollen, sagt die Urgroßmutter: „Wir wollen Ähren sammeln, die der Bauer beim Ernten verloren hat. Wir schlagen dann die Körner heraus, malen sie und backen Brot daraus.“ Schweigend helfen die Buben ihrer Urgroßmutter. Doch bald schmerzt der Rücken und die Kinder wollen nicht länger helfen. „Uroma, warum kaufst du das Mehl nicht einfach im Laden, dann brauchst du dich auch nicht mehr dauernd zu bücken.“ Uli hat das gesagt und beide bleiben stehen. Nach einigem Nachdenken schaut die alte Frau ihre Urenkel an und sagt: „Brot und Getreide sind so kostbar, dass man sich nicht oft genug davor verneigen und dafür bücken kann!“ Dann segnet sie die Ähren in ihrem Korb und betreten schweigend folgen ihr die Kinder nach Hause.
Dort erwartet sie wieder das junge Mädchen. Sie weint nicht mehr, aber sie sieht noch immer sehr traurig aus, als sie mit Uli und Chris zu dem Feld zurück kehrt, an dem sie den beiden Buben begegnet ist. Die Spuren ihres wilden Spieles sind nur allzu deutlich zu erkennen. Bedrückt stehen die Buben da, als sie ihnen erklärt: „Das ist ein Getreidefeld. Auf den hohen Halmen sitzen die Ähren, welche die Körner enthalten. Aus den Körnern wird in der Mühle Mehl gemahlen und daraus backt der Bäcker Brot oder Brötchen.“ „Und wir haben gedacht, dass alles aus der Fabrik kommt!“ „Und wir haben gestern in der Schule unser Brot weg geworfen, weil es uns nicht geschmeckt hat.“ „Und ich habe im Traum solchen Hunger gehabt und wäre sogar mit einer Kruste zufrieden gewesen.“ „Und haben denn nicht alle Kinder immer genug zu essen?“ „Ist es denn wirklich so schrecklich mit dem Hunger wie im Traum?“ Wild durcheinander reden die beiden nun, während sie vor dem Acker stehen. Plötzlich sehen sie die schlimmen Spuren ihres Spieles und es wird ihnen bewusst, was sie angestellt haben. Unter Tränen fragen die beiden: „Wie können wir denn wieder gut machen, was wir da angestellt haben?“
Als das Mädchen Chris und Uli so zerknirscht vor sich stehen sieht, hellt sich ihr Gesicht ein wenig auf und sie antwortet: „Ich bin die Ährenfee und bewache diesen Acker hier. Wenn ihr mir versprecht, nie wieder Brot weg zu werfen und nie wieder in einem Getreidefeld zu spielen, dann will ich bis morgen früh die Halme heilen und die Ähren wieder aufrichten.“
Die Buben versprechen hoch und heilig alles, was die Ährenfee von ihnen verlangt. Jetzt lächelt sie sogar wieder und verschwindet zwischen den Halmen.
Als die beiden Burschen wieder aufwachen, liegt ein bunter Feldblumenstrauß neben ihnen. „Das war bestimmt die Ährenfee, weil wir ihr versprochen haben, kein Brot mehr weg zu werfen,“ sagt Uli. Dann nehmen sie die Blumen und dem Feldweg folgend sind sie bald wieder bei Oma und Opa. Oma freut sich sehr über den Strauß, von dem Erlebten erzählen sie ihr jedoch nichts.
Erst in der folgenden Woche, als ihre Mutter einige hart gewordene Brotscheiben und Brötchen wegwerfen will, schreiten beide heftig ein. „Brot darf man niemals wegwerfen, es ist viel zu kostbar,“ sagt Chris und Uli fügt an: „Es gibt doch so viele Menschen, die nicht genug zu essen haben und Hunger tut schrecklich weh.“ Die Mutter ist sprachlos und schaut von einem zum anderen. „Wir wollen das Brot für die Pferde sammeln und es dann bei Oma und Opa abgeben.“
Ein paar Tage dauert es noch, dann erzählen Chris und Uli doch, was sie an ihrem ersten Wochenende bei Oma und Opa erlebt haben.
© Heidemarie Opfinger