Asna
Tamaril lehnte sich zufrieden zurück. Er hatte es genossen, Ayala wieder für sich allein zu haben. Mit ihr durch die Felder zur Straße zu wandern, sich über den aufhörenden Regen zu freuen, all das weckte lang verschüttete Gefühle, die so gut taten.
Selbst als der Hunger ihr zuzusetzen begann, trübte das seine Stimmung kaum. Mit einiger Anstrengung baute er einen wilden Cranstrauch in die Geschichte ein und war entzückt als sie sich an den saftigen Früchten erfreute. Einen Moment später jedoch meldete sich ein leiser Zweifel daran, dass er das Richtige tat. Er hatte noch nie einen Cranstrauch gesehen, geschweige denn davon gegessen, doch in den Berichten, die er schrieb, war das Gewächs mehrmals erwähnt worden. Was aber, wenn er es nicht richtig in die Geschichte eingebaut hatte? Wenn wieder etwas schief gelaufen war und er Ayala vielleicht sogar vergiftet hatte? Er hatte bereits ihren Arm auf dem Gewissen...
Nein. Er schob den Gedanken energisch beiseite. Dass sie ihren Arm eingebüßt hatte, war allein die Schuld des Grauäugigen. Tamarils Finger krampften sich um die Schreibfeder. Er würde in Zukunft auf sie achten und sie vor diesem Monster beschützen.
*****
Ayala lehnte den Kopf zurück und ließ den Blick über die hochragende Stadtmauer schweifen. Sie hatte es geschafft. Hier würde sie endlich auf Ihresgleichen treffen. Sicher, sie hatte sich langsam an Jorcan und seine kühle Art gewöhnt, doch mit jemandem reden zu können, der sie nicht verächtlich behandelte und der nicht so viel Blut an seinen Händen kleben hatte, wäre schon allein den Weg hierher wert.
Kurz vor ihr passierte ein Bauer, der einen kleinen Karren vor sich herschob, die Stadttore und Ayala beeilte sich, ihm zu folgen. Die Wachen warfen ihr überraschte und neugierige Blicke zu, doch verwehrte ihr niemand den Zutritt.
Eine Weile wanderte sie durch die Straßen und überlegte, wen sie wohl ansprechen konnte, um zu erfahren, wo sie Proviant und vielleicht eine Karte erhalten konnte. Doch stets versagte ihr der Mut, wenn sie jemanden näher in Augenschein genommen hatte.
Die Stadt war um einiges größer als der Hof auf dem sie aufgewachsen war. Zwar hatte dort einige Bauernfamilien zusammen gelebt, doch hier mussten es wohl hunderte Häuser sein, die sich aneinanderreihten. Am Stadtrand war sie noch an einfachen Lehmbauten vorbeigewandert, doch je näher sie dem Marktplatz kam, desto häufiger sah sie auch prächtige Steinhäuser. Vor dem Rathaus blieb sie einen Moment stehen und blickte ratlos auf ihre Füße. Was sollte sie nur erzählen, damit sie Hilfe erhielt? Sie war nur ein von der Reise verdrecktes Mädchen, das mit einer schier unglaublichen Geschichte daherkam.
Noch ehe sie zu einem Schluss kam, knurrte ihr Magen bedrohlich und erinnerte sie daran, dass sie seit der wilden Crans nichts mehr zu essen bekommen hatte. Sie ließ ihr Bündel zu Boden sinken, schob die Schnüre, die die Decke zusammenhielten zur Seite und faltete ihre Habseligkeiten auseinander.
Dann stockte ihr Atem. Er konnte nicht fort sein! Wo war er nur? Doch so sehr sie auch suchte, der kleine Beutel, in dem sie ihre spärlichen Ersparnisse über die Berge und darunter hindurch getragen hatte, war fort. Vielleicht hatte sie ihn bei ihrem unfreiwilligen Bad in dem Bach, den sie durchquert hatten, verloren. Oder sie war Opfer eines geschickten Taschendiebs geworden. Oder sie hatte beim Zusammenpacken in einem Moment der Unachtsamkeit vergessen, den Beutel gut zu verstauen. Letztlich spielte es keine Rolle, wie es geschehen war. Ihr Geld war fort.
Müde sackte sie in sich zusammen. Sie spürte schon wieder Tränen in ihren Augen aufsteigen, doch dann gab sie sich einen Ruck, verschnürte ihr Bündel wieder und atmete tief durch und trat auf einen der Händler zu, der an seinem Stand Gemüse und Hühner in kleinen Käfigen anbot. Der Mann hatte ihr offensichtlich schon eine Weile zugesehen und ihr panisches Suchen bemerkt, denn seine Augen wurden misstrauisch schmal, als sie sich ihm näherte.
„Verzeiht“, begann sie unsicher, doch der Händler schnitt ihr ungeduldig das Wort ab.
„Hast du Geld?“, fragte er mürrisch.
Hilflos suchte sie nach Worten, doch bevor sie ihre Lage erklären konnte, sprach er schon weiter: „Ich weiß nicht, wo du herkommst, aber hier in Asna werden Bettler und Taugenichtse nicht verhätschelt. Wenn du nicht zahlen willst, dann scher dich fort und zwar schnell.
Ayala warf noch einen sehnsüchtigen Blick auf die Auslagen, dann wanderte sie weiter durch die Straßen. Schließlich ließ sie sich erschöpft auf der Schwelle eines Hauseingangs nieder. Ihre Füße schmerzten und ihr Magen knurrte, während sie enttäuscht dem Treiben auf der Straße zusah.
Nach einer Weile wurde sie sich bewusst, dass auch sie beobachtet wurde. Auf der anderen Straßenseite stand ein junger Mann, der sie mit offensichtlichem Interesse betrachtete. Ayala spürte wie ihre Wangen heiß wurden und senkte verschämt den Blick. Mehr denn je fühlte sie sich schmutzig und zerlumpt und ihr Beobachter war weder das eine noch das andere.
Er trug eine Uniform der falamischen Armee und hatte das glatte, blonde Haar zu einem langen Zopf zurückgebunden. Sein schmales Gesicht und seine aufrechte Haltung konnte man nur als schneidig bezeichnen.
Ayala blickte vorsichtig auf, um zu sehen, ob er immer noch zu ihr hinübersah und errötete noch mehr als sie sein Lächeln sah. Schnell senkte sie die Augen wieder und starrte auf ihre schlammbefleckten Stiefel.
„Ihr müsst sehr mutig sein, wenn Ihr in Zeiten wie diesen auf Reisen geht“, hörte sie eine höfliche Stimme dicht neben sich.
Sie sah zu dem Soldaten auf und versuchte verzweifelt eine Antwort herauszubringen, die nicht übermäßig dumm klang und bei der sie nicht stammelte. Als wisse er um ihre Not, verbeugte sich der Fremde und redete einfach selbst weiter: „Verzeiht mir meine Kühnheit. Ich weiß, es gehört sich nicht, eine junge Dame einfach so auf der Straße anzusprechen, doch ich muss gestehen, dass ich mir größere Vorwürfe machen würde, hätte ich es nicht getan. Ich bin Leutnant Niron vom dritten Regiment und zur Zeit hier in Asna stationiert. Würdet Ihr mir die Ehre erweisen, mir auch Euren Namen zu nennen?“
„Ayala“, sie flüsterte es fast. „Ayala Norinlas.“
Er lächelte und seine Augen glitzerten. „Was für ein hübscher Name. Er passt gut zu Euch, auch wenn ich Euch eher die Starkherzige nennen möchte.“
Ayala sah ihn groß an und er neigte den Kopf etwas zur Seite und erklärte: „Das Land ist in Aufruhr. Mörderbanden der Shakarie sind in unsere Dörfer eingedrungen und haben Schreckliches angerichtet. Doch Ayala Norinlas zögert trotz aller Gefahren nicht, die Sicherheit einer befestigten Stadt zu verlassen und hierher nach Asna zu kommen. Wie hätte ich nicht von Euch beeindruckt sein sollen? Doch hoffe ich, dass Eure Begleitung zumindest stark und mutig ist.“
Er warf Ayala einen Blick zu, der halb eine Frage und halb eine Aufforderung war. Fast hätte sie genickt, doch rechtzeitig fiel ihr Jorcans Warnung ein und sie biss sich hastig auf die Zunge. „Ich war“, begann sie zögernd, „in einem Dorf in den Bergen. Minto nannten wir es...“ Sie stockte und versuchte nicht an konkrete Bilder zu denken, weder an spielende Kinder, noch an leblose Körper und Blut, doch trotz allem stieg wieder Entsetzen in ihr auf. Sie versuchte, die Tränen wieder zurückzudrängen, doch nun da sie zum ersten Mal erzählen sollte, was geschehen war, zerbröckelte die Mauer, mit der sie sich vor ihren Erinnerungen abgeschirmt hatte. Sie wusste nicht, wie sie aussprechen sollte, was sie hierher geführt hatte, ohne zusammenzubrechen, doch da fiel ihr Niron ins Wort.
„Du bist aus Minto? Bei der Krone, ich hätte nicht mal zu träumen gewagt, dass jemand dieses Massaker überlebt hat! Gab es noch andere Überlebende? Aus Minto oder den anderen Dörfern?“
Sie starrte ihn überrascht und wie betäubt an, dann schüttelte sie den Kopf. „Den anderen Dörfern?“, fragte sie tonlos.
Er zögerte nur einen Moment und antwortete dann mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen: „Nun ja, dein Dorf war nicht das einzige, das angegriffen wurde. Wahrscheinlich war Minto das erste, aber leider nicht das letzte Dorf bevor wir sie aufhalten konnten.“
Er wollte Ayala beruhigend die Hand auf den Arm legen, griff aber nur nach dem leeren Umhang. Seine Augen weiteten sich. „Wie...?“, begann er, doch das Mädchen begann so heftig zu schluchzen, dass er alle Fragen herunterschluckte.
Sacht legte er den Arm um ihre Schultern, half ihr hoch und führte sie durch einige Straßen zu einem Haus in der Nähe. Ayala stolperte tränenblind an seiner Seite weiter und blieb stumm als Niron ihr in der Schenke, die sie betreten hatten, ein Zimmer besorgte. Er fragte sie ob sie etwas zu essen wolle, doch sie hörte ihn kaum. Erst als sie in ihrem Zimmer stand und sich Niron diskret zurückzog, stürzte sie auf das Bett zu und vergrub das Gesicht in Kissen und Laken.