Kurzgeschichte
Fata Morgana

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"Fata Morgana"
Veröffentlicht am 22. Juni 2010, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Es tut mir leid, dass ich \\\"Restrisiko\\\" löschen musste, aber es ist jetzt in einer Kurzgeschichtensammlung namens \"Das Unfassbare\" vom ipm-verlag veröffentlicht worden. Wer Interesse hat, kann sich bei mir melden. Unter www.bookrix.de/-schneeflocke kann "Restrisiko" nach wir vor noch lesen. LG Flocke
Fata Morgana

Fata Morgana

„Sieh immer nach vorn, nie zurück“, hat man mir gesagt, als ich noch ein Kind war. Und ich habe es geglaubt, habe den Satz zu meinem Lebensmotto erhoben. Er fasst alles zusammen, was es über mein Leben zu sagen gibt. Ich blicke nach vorne, nicht zurück.

Immer einen Schritt vor den anderen setzend, habe ich stets das Ziel vor Augen. Die nächste Hürde. Den nächsten Anstieg. Berg um Berg habe ich schon erklommen, mit jedem Schritt ein wenig erschöpfter, mit jedem Schritt ein wenig mutloser. Denn mit jedem Schritt scheint das Ziel ein wenig mehr in der Ferne zu verschwinden.

Heute ist es so weit in den Dunstschwaden verschwunden, in denen in der Ferne der Himmel in den Horizont übergeht, dass ich mich manchmal frage, ob ich es jemals erreichen werde. Doch es lockt so sehr. Eine grüne Oase im grauen Staub der Wüste. In der grauen, toten Wüste, die mich umgibt. Stein, Sand, Geröll und Staub, so weit das Auge reicht. Natürlich würde ich alles dafür geben, die grüne Oase zu erreichen. Wasser, Wiesen, Blumen, dort gibt es alles im Überfluss.

Wie eine Fata Morgana hängt das Bild des Paradieses in der Luft. Dieses Bild ist es, das mich antreibt. Das mir die Kraft gibt für den nächsten Schritt, für den nächsten Atemzug. Denn Schritt für Schritt werde ich langsamer. Schritt für Schritt werden meine Beine müder. Schritt für Schritt scheint der Weg steiler zu werden. Wieder ein Berg, den es zu erklimmen gilt. Und ich bin mir sicher, dass hinter ihm der nächste schon auf mich wartet. Und hinter diesem der nächste. So war es schon immer. Seit ich mich vor so vielen Jahren auf den Weg gemacht habe, hat sich daran nichts geändert. So lange bin ich schon unterwegs, dass ich mich nicht einmal mehr erinnern kann, wie es früher war. War die Welt stets eine Wüste? Habe ich als Kind zwischen den grauen Steinen gespielt oder im frischen Grün einer Wiese? Ich vermag es nicht mehr zu sagen. Jetzt gibt es kein Grün mehr in meinem Leben, jetzt gibt es nur noch die staubige Straße und mich, und das Ziel in der Ferne.

 

Erschöpft halte ich einen Augenblick inne, wische mir hastig den Schweiß von der Stirn. Nur einen Moment Pause, nur einen Moment, denke ich, dann wird es leichter sein. Ich muss nur kurz zu Atem kommen...

Doch da höre ich sie schon, die Stimmen hinter mir. Sie sind so kurz davor, mich einzuholen. Seit Monaten, seit Jahren schon verfolgen sie mich, diese Stimmen. Manche sind über die Jahre zu alten Bekannten geworden, vertraut, wenn auch furchteinflösend. Nie habe ich sie gesehen, ich kenne die Gesichter nicht, die zu den Stimmen gehören, doch das ist gleich. Ich weiß, dass ich mich nicht umwenden darf. Ich weiß, dass ich nicht zulassen darf, dass sie mich einholen. Ich bin in Führung, wenn auch nur knapp. Diesen Vorsprung darf ich nicht riskieren. Zu viel steht auf dem Spiel. Ich muss das Ziel erreichen...koste es, was es wolle.

 

Mühsam rapple ich mich wieder auf. Die Blasen an meinen Zehen schmerzen, als sie an den zu engen Schuhe reiben. Seit langer Zeit schon bin ich ihnen entwachsen, ich brauche neue Schuhe, passende, doch auch dafür ist keine Zeit. Es muss eben so gehen. Ich muss weiter, auch wenn ich nicht glaube, dass ich noch lange durchhalten werde. Irgendwann werde ich zusammenbrechen, wie die vielen anderen, die schon vor mir gefallen sind. Ich bin im Laufe der Jahre an ein paar von ihnen vorbeigekommen, als ich durch den Staub stapfte. Halbtote Gestalten, die Gesichter grau vor Erschöpfung, die Augen blicklos und leer, so lagen sie reglos am Straßenrand. Doch ich habe den Blick nicht vom Ziel abgewendet, so, wie man es mir beigebracht hat, und bin stumm weitergegangen.

Ich wusste, wenn ich versucht hätte, ihnen zu helfen, hätte das nur mein eigenes Scheitern zur Folge gehabt. Und ich muss weiter. Ich muss weiter. Ich habe keine Wahl. Immer weiter, selbst wenn sich meine Blasen wund reiben und bluten, selbst wenn ich keuchend nach Luft ringe, selbst wenn mein Herz aus meiner Brust springen will und mühsam in meinem Brustkorb klopft, wie der überlastete Motor einer braven, kleinen Maschine. Selbst als mein Blickfeld körnig und grau wird und die Welt vor meinen Augen verschwimmt, grau in grau, und die Luft wie Feuer in meinen Lungen brennt, wende ich den Blick nicht ab. Ein Fuß vor den anderen, wiederhole ich mein Mantra. Du hast keine Wahl.

 

Dann kommt jener Augenblick, den ich so gefürchtet habe. Ich stolpere über einen Stein oder eine Unebenheit im Boden. Genau weiß ich das nicht, denn ich darf mein Ziel nicht aus den Augen verlieren. Niemals darf ich den Blick abwenden. Doch jetzt bleibt mir keine andere Wahl. Mein Blickfeld wird schwarz, ich sinke entkräftet zu Boden. Meine Beine haben mir endgültig den Dienst versagt. Ich bin verloren.

Ich habe das Ziel aus den Augen verloren und werde es nie wieder finden können. Die Straße verzeiht nicht. Sie führt nur in eine Richtung, und sie nimmt niemanden wieder auf, der vom Weg abgekommen ist.

Jetzt werden sie mich einholen, die Stimmen, die mich immer verfolgt haben. Sie werden an mir vorbeiziehen, hoch erhobenen Hauptes, den Blick in die Ferne gerichtet. Sie können mir nicht helfen, ohne selbst zu scheitern. Und sie werden mir nicht helfen, denn insgeheim werden sie froh sein, mich fallen zu sehen. Einer weniger, der zwischen ihnen und dem Ziel steht. Einer weniger, der es ihnen streitig machen kann. Einer weniger, der in Führung ist. Jetzt bin ich eine der gefallenen, grauen Figuren. Niemals werde ich der Wüste entrinnen können. Eine Ewigkeit im Staub steht mir bevor. Heiße Tränen rinnen meine schweißbedeckten Wangen hinab. Tränen der Erschöpfung, der Verzweiflung, der Hoffnungslosigkeit.

 

Langsam sinkt da der schwarze Schleier, der mich geblendet hat. Ich kann wieder atmen, ein Gewicht scheint von meiner Brust genommen worden zu sein. Ich atme tief die klare, frische Luft ein. Ein Vogel zwitschert, ich höre sogar den Wind, der leise durch das hohe Gras streicht – welches Gras? Und Vögel? Vorsichtig öffne ich die Augen. Zum ersten Mal seit Jahren habe ich nicht das Ziel im Blick. Zum ersten Mal seit Jahren sehe ich, was genau vor mir ist. In diesem Augenblick.

Wo ist die endlose, graue Wüste? War es schon immer so grün hier? Staunend sehe ich mich um. Tatsächlich, ich bin auf einer Wiese. Auf einer wunderschönen Blumenwiese. Ein Bach plätschert leise zu meiner Rechten. Blumen. Farben. Gras. Wasser! Wann habe ich das letzte Mal getrunken? Hastig eile ich hinüber, tauche meine Hand in das erfrischende, kühle Nass, trinke gierig. Dann spüle ich mir den Staub vom Gesicht. Den schweren, erdrückenden, grauen Staub. In schwarzen, öligen Schlieren treibt er langsam davon.

 

Und dann höre ich sie. Die Stimmen. Die Stimmen, die mich verfolgt haben. Seltsam hohl klingen sie, so viel flacher, so viel lebloser als das muntere Plätschern des Baches. Und als ich in die Richtung sehe, aus der die Stimmen kommen, aus der ich soeben gekommen bin, erkenne ich eine breite, graue Schneise. Wie eine alte, nie verheilte Brandwunde sticht die staubige Straße aus dem frischen Grün der Wiese heraus, einer hässlichen, breiten Narbe gleich windet sie sich durch das Gras. Ein grauer Streifen im satten Grün. Und auf der toten, grauen Straße schleppen sich drei tote, graue Gestalten voran, den Blick in die Ferne gerichtet, die Schultern gebeugt. Kaum scheinen sie die Kraft aufzubringen, sich auf den Beinen zu halten.

Sehend und zugleich doch so blind hasten sie voran, um einen Schatten zu fangen, eine Spiegelung, ein Fata Morgana. Denn das wahre Paradies ist in greifbarer Nähe. Sie müssten nur einmal den Blick abwenden. Nur ein einziges Mal. Doch das tun sie nicht. Sie haben es nicht anders gelernt. Eines Tages werden auch sie fallen.

Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht werden sie den Rest ihres Lebens damit zubringen, einen Schatten zu jagen.

 

(c) by Schneeflocke

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ZMistress Ich kann mich eigentlich nur Gunda anschließen. Großartig geschrieben, die Bilder sind so lebhaft und das, was sie vermitteln, so vertraut.

Und da ich heute so in Trekkielaune bin, noch ein Star Trek Zitat (wenn du es übersetzt haben willst sag Bescheid, ich bin grade nur etwas faul):
"I'm no writer, but if I were, it seems to me that I'd want to poke my head up once in a while and take a look around... see what's going on. It's life, Jake; you can miss it if you don't open your eyes.
Vor langer Zeit - Antworten
Luzifer Jagt - nicht jeder von uns irgend einem Schatten nach? Die Kunst ist es jedoch den Schatten nicht zur Allmacht zu machen. Die Welt hat viel Schönheit in den einfachsten Sachen. Man muss sie nur sehen, fühlen, riehen, schmecken und leben. =)

Ansonsten halte ich es wie Gunda. Einfach wundervoller Schreibstil. =)
LG
Luzifer
Vor langer Zeit - Antworten
schneeflocke Re: Ich denke ... -
Zitat: (Original von Gunda am 23.06.2010 - 08:34 Uhr) ... was deinen Schreibstil, die Formulierungen, die grammatikalische Korrektheit etc. angeht, brauche ich nicht wieder in Lobeshymnen auszubrechen, nicht wahr, Tina? Das ist einfach sehr gut.

Und zum Inhalt: Ich habe vor kurzem ein Gedicht zur Konfirmation des Sohnes von Freunden geschrieben. Darin wies ich ihn u.a. darauf hin, dass es schön ist, ein Ziel vor Augen zu haben, dass man aber auf dem Weg dorthin nicht versäumen soll, alles zu betrachten, was der Wegrand einem an Schönem bietet, man verpasst sonst viel zu viel. Und wenn der Weg nicht immer schnurgerade verläuft, sollte man sich einlassen auf die verschlungenen Seitenpfade, sie können sehr reizvoll sein ...

Ein sehr runder Text, Tina. Er sollte Pflichtlektüre für alle werden, die mit Scheuklappen durchs Leben gehen, aber wer würde das schon von sich zugeben ...

Lieben Gruß
Gunda


Hallo Gunda!

Vielen Dank für den lieben Kommentar! Es freut mich, dass dir mein Schreibstil gefällt, und es stört mich überhaupt nicht, dass du das wieder einmal erwähnst *g*.

Ich denke, wir gehen einfach viel zu oft mit diesem Tunnelblick durchs Leben, weil man manchmal einfach zu viel zu tun hat, um sich auf etwas anderes zu konzentrieren als das Ziel, das erreicht werden soll. Diese Situation dürfte jeder schon einmal erlebt haben.
Aber dann muss man sich eben einfach auch mal gestatten, das Ziel für den einen oder anderen Augenblick aus den Augen zu verlieren, um einfach zu leben.

Danke fürs Lesen, ich freu mich jedes Mal, wenn ich einen Kommentar von dir bekomme...

Liebe Grüße,
Tina
Vor langer Zeit - Antworten
Gunda Ich denke ... - ... was deinen Schreibstil, die Formulierungen, die grammatikalische Korrektheit etc. angeht, brauche ich nicht wieder in Lobeshymnen auszubrechen, nicht wahr, Tina? Das ist einfach sehr gut.

Und zum Inhalt: Ich habe vor kurzem ein Gedicht zur Konfirmation des Sohnes von Freunden geschrieben. Darin wies ich ihn u.a. darauf hin, dass es schön ist, ein Ziel vor Augen zu haben, dass man aber auf dem Weg dorthin nicht versäumen soll, alles zu betrachten, was der Wegrand einem an Schönem bietet, man verpasst sonst viel zu viel. Und wenn der Weg nicht immer schnurgerade verläuft, sollte man sich einlassen auf die verschlungenen Seitenpfade, sie können sehr reizvoll sein ...

Ein sehr runder Text, Tina. Er sollte Pflichtlektüre für alle werden, die mit Scheuklappen durchs Leben gehen, aber wer würde das schon von sich zugeben ...

Lieben Gruß
Gunda
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