Einst, vor vielen, vielen Jahren herrschte über Persien ein mächtiger Sultan. Sein Reichtum war unermesslich und seine Macht grenzenlos. Die Wände seines Palastes waren mit Gold verkleidet und mit Ornamenten aus Edelsteinen reich verziert. In jedem Saal befand sich in der Mitte ein riesiges, mit sprudelndem Wasser gefülltes Becken, das angenehme Kühle verbreitete. Türen und Tore waren aus Zedernholz und ebenfalls kunstvoll verziert. In den angrenzenden Gärten erfüllten die schönsten Blumen aus allen Ländern der Erde die Luft mit ihrem betörenden Duft, und in den Zweigen der Bäume zwitscherten unzählige Vögel in allen Sprachen der Welt. Vierzig Köche sorgten sich täglich um das Wohl des Herrschers und bereiteten ihm die leckersten und vorzüglichsten Gerichte zu. Spaßmacher, Sänger und Tänzerinnen aus allen Teilen seines Reiches sorgten für seine Unterhaltung.
Während er in seinem Palast im Überfluss lebte, hungerte sein Volk, denn jeder musste dem Herrscher hohen Tribut zollen. Besaß einer zwei Ziegen, so musste er eine davon dem Sultan schenken. So war es auch mit den Schafen und Hühnern. Die Hälfte war immer für den Sultan. Aufgabe der Wesire und Statthalter war es, die Einhaltung seiner Gesetze streng zu überwachen und ihm darüber täglich Bericht zu erstatten. Da der Herrscher für seine Grausamkeit bekannt war, wagte es niemand, sich ihm zu widersetzen. Seine Hand sei nicht geschaffen zum Verteilen milder Gaben - so verkündete er es selbst immer wieder.
Doch so hart auch der Sultan zu seinen Untertanen und seiner gesamten Dienerschaft war, sah er in die grünen Augen von Samara, seiner Lieblingsfrau, die er einst als Gast eines abendländischen Königs kennen und lieben gelernt hatte, wurden seine sonst so harten Züge zunehmend weicher und seine dunklen Augen begannen hell zu strahlen. Er hatte sich sofort verliebt in die hübsche, hellhäutige Prinzessin mit dem langen, blonden Haar, das wie Gold in der Sonne glänzte. Auch ihr war der stattliche, dunkelhaarige Herrscher nicht ganz gleichgültig geblieben und nach anfänglichem Zögern willigte sie ein, seine Frau zu werden. Als nach kurzer Zeit Mehab, der kleine Kronprinz geboren wurde, war das Glück des jungen Paares vollkommen. Der Sultan liebte seinen Sohn über alle Maßen und erfüllte ihm jeden Wunsch. Stundenlang tobte er mit ihm durch den Palast und den angrenzenden Garten. Eines Tages blieb Mehab beim Spielen an einem Rosenstock hängen und verletzte sich an der Hand. Sofort ließ der Sultan alle Rosenstöcke aus dem Garten vernichten und holte Ärzte aus fernen Ländern an seinen Hof, die sich um Mehab kümmern mussten. Bald war die Wunde verheilt, nur eine ganz kleine, sternförmige Narbe konnte man noch erkennen.
Auch Samara genoss die kostbaren Stunden mit Mann und Kind, liebte sie doch beide sehr. Nur manchmal, wenn der Herrscher seine Zeit in den Schatzkammern mit dem Betrachten seiner Reichtümer verbrachte, schlich sich leichte Wehmut in ihr sonst so fröhliches Gemüt. Sie, die von Kindheit an gewohnt war, mit den Armen zu teilen und reichlich Almosen zu geben, konnte die an Geiz grenzende Sparsamkeit ihres Mannes nicht verstehen und bat ihn oft, mildtätig zu den Armen zu sein, doch vergebens.
Als ihr ihre treu ergebene Dienerin eines Abends von den vielen hungernden Kindern in den Straßen von Bagdad erzählte, die oft tagelang kein Stück Brot bekamen, fasste sie einen verwegenen Plan.
Sie befahl ihrer Dienerin, ihr einen schwarzen Mantel und einen dunklen Schleier zu besorgen. Dann sammelte sie in zwei Körben übrig gebliebenes Brot und Obst, legte Tücher darüber und wartete auf den Abend. Nach Einbruch der Dämmerung hüllte sie sich in den Mantel, verschleierte ihr Gesicht, so dass man nur die Augen sehen konnte und kletterte mit Hilfe ihrer Dienerin durch ein Loch in der Mauer aus dem Palastgarten. Ängstlich vergewisserte sie sich immer wieder, dass ihr niemand gefolgt war, doch nur der Gesang einer Nachtigall war zu hören. Nach kurzem Fußmarsch erreichte sie das Armenviertel der Stadt. Der Anblick der armen, hungernden Menschen, die ihr dankbar für eine einzige Dattel die Füße küssen wollten, erschütterte Samara tief. Nachdem sie alles Brot und Obst ausgeteilt hatte, eilte sie wieder auf dem selben Weg zurück in den Palast, wo sie von ihrer Dienerin schon erwartet wurde.
Auch am nächsten Tag gab sie vor, sich nicht wohl zu fühlen und bat den Sultan wieder um die Erlaubnis, sich noch vor Einbruch der Dunkelheit zurückziehen zu dürfen. Wieder ging sie mit zwei Körben voll Brot durch die dunkeln Straßen der Stadt. Jeden Tag erfand sie nun neue Ausreden, um ihrem Gemahl ihre nächtliche Abwesenheit zu erklären.
Die Geschichte von der mildtätigen Frau im schwarzen Mantel hatte sich unter der Bevölkerung schnell herumgesprochen und täglich kamen mehr Menschen und baten um eine milde Gabe.
Eines Tages hörte auch der Sultan von der geheimnisvollen Frau, die bereits als `Engel der Armen` bezeichnet wurde und befahl seinem Wesir, sie unverzüglich in den Palast zu bringen. So sehr sich Samara auch sträubte, dem Befehl des Sultans durfte sich auch sie nicht widersetzen und zitternd vor Angst folgte sie dem Wesir in den Palast.
Sofort nach ihrem Eintreten forderte sie der Sultan auf, den Schleier zu lüften, damit er ihr Gesicht sehen könne Da sie seiner Aufforderung nicht rasch genug nachkam, riss er ihr mit einer heftigen Handbewegung selbst den Schleier vom Gesicht und erstarrte – seine eigene Frau war die Wohltäterin. Das war also der Grund ihres sonderbaren Verhaltens in letzter Zeit. Statt die Freude seiner Gegenwart zu genießen, vergeudete sie sein Vermögen. Auf seine kurze Verblüffung folgte ein heftiger Zornausbruch. Mit hochrotem Kopf beschuldigte er sie des Diebstahls und der Verschwendung.
So sehr sie auch versicherte, nur die Überreste der üppigen Mahlzeiten bei Hofe verteilt zu haben – er schenkte ihren Worten keinen Glauben. Selbst als sie sich vor seinem Thron zu Boden warf und ihn bat, ihr doch ihr ungebührliches Verhalten zu verzeihen, rief er die Palastwache und wollte sie in den Kerker werfen lassen. Nur ihre Bitte, doch an Mehab - ihrer beider Sohn – zu denken, konnte ihn von seinem Entschluss abbringen und er milderte seine Strafe und verwandelte seine Frau in eine grüne Schlange. Ohne Füße sollte sie bis ans Ende ihrer Tage durch den Staub kriechen und nie mehr mit beiden Händen Almosen verteilen können – es sei denn, sie würde ihm als Abgeltung für ihr Vergehen einen großen Schatz bringen. Unverzüglich bekam der schnellste Reiter des Landes den Auftrag, die Schlange einzufangen und sie an der entferntesten Stelle des Reiches auszusetzen. Mehab aber, wurde Miriam - einer Nebenfrau des Sultans - übergeben, die sich fortan um den kleinen Thronfolger kümmern sollte. Miriam, selbst Mutter eines kleinen Sohnes, der um ein Jahr jünger war als Mehab und in der Thronfolge an zweiter Stelle stand, war dem Kind von Anfang an nicht gut gesinnt. Sie wünschte nichts sehnlicher, als ihren eigenen Sohn einst auf dem Thron zu sehen. Da sie wusste, dass Mehab der ganze Stolz seines Vaters war, musste sie sehr vorsichtig zu Werke gehen, um nicht den Argwohn des Sultans zu erregen.
Eines Abends belauschte Samaras Dienerin zufällig ein Gespräch zwischen Miriam und dem Großwesir, in dem Miriam den Großwesir bat, doch die Türen zu den Raubtierkäfigen nicht zu verschließen, wenn Mehab im Garten herumtollte, denn der Junge würde großes Interesse an den herrlichen Tieren zeigen. Die Dienerin erkannte die große Gefahr, in der sich Mehab befand und brachte das schlafende Kind noch in der selben Nacht zu einem Kaufmann in der Stadt. Händeringend bat sie ihn, doch den Kleinen an Kindes statt anzunehmen. Sie selbst könne nicht mehr länger für den Buben sorgen, da sie an einer sehr seltenen Krankheit leiden und wahrscheinlich bald sterben würde. Bei ihm wisse sie ihr Kind in guten Händen und Allah würde ihm sicher seine Wohltat vergelten. Der Kaufmann, der selbst keine Kinder hatte, fand Gefallen an dem Kleinen und nahm ihn auf, ohne seine edle Herkunft zu kennen. Das Kind entwickelte sich prächtig, war folgsam und bereitete seinen Zieheltern viel Freude. Wenn der Kaufmann auf den großen Märkten der Stadt seine Waren feilbot, begleitete ihn der Kleine und versuchte sich nützlich zu machen, so gut er eben konnte. Er half beim Ein- und Auspacken der Waren und gab Obacht auf den kleinen Esel. Seine große Leidenschaft aber war die Musik. Sah er irgendwo Sänger oder Tänzer, konnte er stundenlang ihren Darbietungen folgen und auch der Gesang der Vögel versetzte ihn immer wieder in Entzücken. Um ihm eine kleine Freude zu bereiten, schenkte ihm sein Ziehvater eines Tages eine Flöte. Ohne je in der Kunst des Flötenspiels unterwiesen worden zu sein, begann er sofort darauf zu spielen und entlockte dem Instrument die herrlichsten Weisen. Bald war es auf den Märkten von Bagdad ein gewohnter Anblick; oben auf dem Ladentisch pries der Kaufmann seine Waren an und unter dem Tisch saß Mehab und spielte auf seiner Flöte fremdländische Weisen. Leute, die Gefallen an der Musik des kleinen Jungen fanden, steckten ihm öfter eine Münze zu und so trug Mehab bald seinen Teil zum Familieneinkommen bei.
Samara, die grüne Schlange, irrte indes in der Wüste umher, immer bestrebt den Weg nach Bagdad zu finden. Um der glühenden Hitze zu entgehen, versteckte sie sich tagsüber in Felsspalten und schlängelte sich erst nach Einbruch der Dunkelheit weiter. Oft war sie nahe daran zu verzweifeln und nur der Gedanke an ihr Kind hielt sie am Leben. Endlich nach langen Wochen der Entbehrungen sah sie die Tore der Stadt vor sich. Sofort schlug sie den Weg zum Marktplatz ein, in der Hoffnung dort mit Abfällen ihren Hunger stillen zu können. Plötzlich drangen wohlbekannte Töne an ihr Ohr - Melodien aus ihrer Kindheit am Hofe ihres Vaters, Weisen, die auch sie ihrem Kind einst vorgesungen hatte. Neugierig kroch sie weiter – fühlte sie doch in ihrem Innersten ihrem Sohn sehr nahe zu sein. Und wirklich, unter einem Ladentisch saß ein kleiner Bub und spielte auf einer Flöte – Mehab. Vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken kroch die Schlange näher heran und begann sich langsam im Takt der Musik zu wiegen. Sie hob ihren Körper leicht vom Boden und drehte sich rhythmisch im Kreis. Dem Buben schien es Spaß zu machen, der tanzenden Schlange zuzusehen, denn immer inbrünstiger wurde sein Spiel und auch die Schlange drehte sich immer schneller im Kreis und vollführte sogar Luftsprünge, um dann wie von Geisterhand gehalten, wieder sanft auf der Erde zu landen. Jetzt wurden sogar andere Leute aufmerksam, klatschten in die Hände und warfen dem Jungen Geldstücke zu. Als der Bub sein Spiel beendet hatte, war auch die Schlange plötzlich verschwunden. Dieses Spiel wiederholte sich nun Tag für Tag. Der Bub spielte und die Schlange tanzte. Niemand wusste, woher sie kam und wohin sie ging. Manchmal strich sie auch zärtlich über die Füße des Kleinen, eine Berührung, die ihm sehr angenehm erschien. So zogen sie von Stadt zu Stadt und von Marktplatz zu Marktplatz. Bald sprach man im ganzen Land nur noch von dem Jungen mit der geheimnisvollen Schlange.Als sie wieder einmal nach Bagdad kamen, belauschte der Bub zufällig ein Gespräch zwischen zwei Männern. Sie erzählten vom unglücklichen Sultan, der in tiefe Schwermut verfallen sei, seit er seine Lieblingsfrau im Zorn verstoßen und danach auch seinen kleinen Sohn verloren habe.
Dem Knaben gingen diese Worte sehr zu Herzen und er wollte dem Sultan unbedingt helfen. So nahm er seine Flöte und die Schlange, packte beides in einen Korb und machte sich auf den Weg in den Palast, in der Hoffnung seine Musik und der Tanz der Schlange würden dem Sultan Freude bereiten. Die Diener des Sultans lachten zwar über den kleinen Jungen, führten ihn aber trotzdem in den Thronsaal. Der Sultan schenkte dem Kind vorerst gar keine Beachtung, tief in Gedanken versunken saß er auf seinem Thron. Erst als der Bub zögernd sein Spiel begann, hob er langsam den Kopf. Plötzlich fiel sein Blick auf die sternförmige Narbe an der Hand des Jungen. Neugierig geworden betrachtete er nun das Kind eingehender. Da ihm der Junge über die Herkunft der Narbe keine Auskunft geben konnte, fragte er nun nach dem Inhalt des Korbes. Bereitwillig erzählte ihm der Junge jetzt von der grünen Schlange, die seit geraumer Zeit nicht von seiner Seite weichen wollte und öffnete den Korb. Als der Sultan die Schlange sah, die sich jetzt ängstlich am Boden des Korbes ringelte, war es für ihn Gewissheit - er hatte wieder, wonach er sich so lange gesehnt hatte. Mit einem Jubelschrei drückte er Frau und Kind ans Herz. Samara bekam ihre menschliche Gestalt wieder, hatte sie ihm doch Mehab - seinen größten Schatz - zurückgebracht.