Von Problemen, Früchten und der Welt...
Es war Abend und die Sonne begann sich zu senken. Wie jeden Abend, entschied ich mich für eine erfrischende Dusche. Anders als andere Menschen, bin ich nämlich ein Abendduscher. Erst als dieses Thema irgendwann mal unter Freunden auf den Tisch kam, merkte ich, dass ein Großteil der Menschheit scheinbar morgens duscht. Morgens, zwischen Frühstück und Arbeit. Nein, das konnte ich nicht. Dafür hätte ich morgens weder den Nerv, noch die Zeit. Außerdem schien mir das abendliche Duschen seit jeher nützlicher, als abends mit dem arbeitsreichen Stressschweiß ins kuschelige, saubere Bett zu fallen. Nein, ich bin und bleibe überzeugter Abendduscher, auch wenn ich dafür noch heute fragende Blicke mancher Freunde in Kauf nehmen muss.
Ich schloss mich im Bad ein, legte mir mein Handtuch zurecht und fing an mich zu entblößen. Nackt fühlte ich mich nur an drei Orten wohl: im Bad, im Bett und in der Sauna. Da ich aber noch nie eine Sauna von innen gesehen hatte, war letzteres eher eine Vermutung meinerseits. Wie Gott mich schuf, umfasste ich bereits den silbrigen Wasserhahn der Duschkabine, als sich meine innere Stimme meldete:
«Nicht vergessen, heute ist Samstag.»
Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann diese Stimme das erste Mal zu mir sprach. Es muss jedoch schon eine Weile her gewesen sein. So lange her, dass ich mich nicht mehr an das Debüt meines imaginären Gesprächspartners erinnern kann. Wer oder was es war - keine Ahnung. Ich nenne es zwar innere Stimme, bin mir da aber nicht hundertprozentig sicher. Es kann auch mein Geist, meine Seele oder mein Gewissen sein, das sich ständig in meine Gedankenwelt einmischt, mir aber letztlich nur helfen will. Nur, wenn es mein Gewissen oder ein Teil von mir ist, was bin dann ich? Es kam mir nicht so vor, als ob ich zu mir selbst redete. Selbstgespräche hatte ich als kleines Kind geführt und diese Stimmen klangen anders. Die innere Stimme schien eher ein zweites Ich zu sein, welches ebenfalls meinen Körper bewohnte und sich nur ab und zu mal blicken ließ. Wie ein tierisch beschäftigter Mitbewohner einer WG. Also war es wohl doch meine Seele. Oder nicht? Ich habe schon lange aufgehört mir daraus einen Reim zu machen. Schon lange habe ich akzeptiert, dass es so ist, wie es ist und lausche dieser inneren Stimme. Und eben diese Stimme erinnerte mich nun daran, dass heute Samstag ist.
Ich runzelte die Stirn und stieg wieder aus der Duschkabine.
«Stimmt ja, Samstag. Das hätte ich beinahe wieder vergessen», dachte ich.
Was natürlich niemand außer mir wusste, war, dass ich zwei mal die Woche meine Haut peele, mir also eine spezielle, sandige Creme in die Gesichtshaut massiere, einwirken lasse und anschließend abspülte. Das machte ich zwei Mal die Woche, immer vor dem Duschen gehen. Also tat ich das, was ich eigentlich immer gern vermied und stellte mich vor den Spiegel über dem Waschbecken.
Ich schaute in das Antlitz meines Spiegelbildes und mir gefiel nicht wirklich, was ich da sah. Es ist nicht so, dass ich unglaublich hässlich war, aber die überwundene Pubertät ging nicht spurlos an mir vorbei und noch heute hatte ich eine empfindliche, fettig grobporige Haut, die zur unkontrollierten Bildung von Mitessern neigte. Kein Wunder also, dass ich es stets vermied in mein verpickeltes Gesicht zu starren. Zwar hatte sich mein Hautbild nach meiner Pubertät deutlich verbessert, aber spürbare Mitesser waren immer noch vereinzelt ein Thema. Mal größer, mal kleiner. Mal viele, mal wenige. Das deprimierte mich.
Nach unzähligen Terminen beim Hautarzt und ebenso vielen ausprobierten Cremes und Pasten, schien ich jetzt eine gute Kombination an hautschonender Pflege erwischt zu haben. Dazu gehörte eben auch das Peeling.
Ich befeuchtete mein Gesicht, schraubte den Verschluss der Tube auf und verrieb eine kleine Menge des Tubeninhalts in meinen Handflächen. Peeling-Cremes fühlen sich merkwürdig an. Wie eine Mischung aus Lehm und feinem Sand, woran ich mich auch zu Beginn erst gewöhnen musste. Doch wie alles im Leben, war auch diese Prozedur reine Gewöhnungssache. So verteilte ich die Pampe gründlich im Gesicht, ließ es einwirken und wusch mir den Rest von den Händen.
Während die Peeling-Creme seine Arbeit tat, in die Poren drang, einwirkte und langsam trocknete, fixierte ich wieder mein Spiegelbild. Ich fragte mich, warum ich nicht so sein konnte wie 90% aller anderen Jugendlichen meines Alters. Wieso habe ausgerechnet ich seit jeher diese nervigen Hautprobleme? Oder eher: Wieso leiden die anderen nicht ebenfalls an Akne, Pickeln und Mitessern?
Natürlich war ich mir im Klaren darüber, dass ich weder der einzige Mensch mit diesen Problemen, noch das personifizierte Paradebeispiel unreiner Haut war. Es gab immer Menschen, denen es schlechter ging als mir selbst. Aber wo bitte schön waren diese Leidensgenossen, wenn man im Fernsehen Straßenumfragen machte, Gäste in Talkshows einlud oder menschenverachtende Casting-Shows organisierte? Nie sah ich im Fernsehen oder auf belebten Einkaufsmeilen Menschen, die mein Leid teilten. Immer waren es junge Burschen, die dem Schönheitsideal entsprachen. Jene, mit einem makellosem Teint, aalglatter Haut und perfektem Lächeln. Solche, bei denen man sehr genau hinsehen musste, um überhaupt feinste Poren zu erkennen. Von Pickeln oder zumindest fettiger Haut, war nie etwas zu sehen.
Aber nicht nur die Haut allein schien alle Mitmenschen so perfekt erscheinen zu lassen. Die ganze Erscheinung passte irgendwie immer zum Befragten, Talkshow-Gast oder Wanna-Be-Star. Die zu glänzen scheinende Haut, die definierte Körpermaße, die modische Kleidung und die gestylten Haare.
Ich löste meinen Blick in den Spiegel und beäugte weniger begeistert meine blonden Haare. Die sandige Peeling-Creme trocknete derweil weiter vor sich hin. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass meine Haare nicht zu mir passten. Weder zu meinem Gesicht, noch zu meiner Person insgesamt. Es herrschte immer ein gewisses Ungleichgewicht, das sich schwer in Worte fassen lässt. Das ist mir schon in jungen Jahren aufgefallen und ich begann früh etwas daran zu ändern. Wenn ich lange Haare haben wollte, ließ ich sie einfach wachsen und mied jeden Frisör in der näheren Umgebung. Doch auch der Lennon-Look wollte sich partout nicht mit meinem Gesicht vertragen. Es passte einfach nicht, wirkte teils wie eine Perücke. Wenn ich stattdessen kurze Haare tragen wollte, ließ ich sie mir auf die gewünschte Länge bzw. Kürze stutzen - und war dennoch nicht zufrieden. Ob kurz oder lang, keine Haarpracht schien sich mit dem Rest meines Körpers zu vertragen. Der Gedanke, mir als letzte Lösung eine Glatze schnibbeln zu lassen, kam mir zwar schon mal in den Sinn, wurde aber schnell wieder verworfen. Immerhin wird Mutter Natur schon von ganz allein dafür sorgen, dass ich im hohen Rentenalter genügend Zeit haben werde, den Glatzen-Look ausgiebig zu testen. Also resignierte ich und fand mich letztlich damit ab, dass meine Haare ungefähr so gut zu mir passten, wie der Papst zu einer Homo-Eheschließung.
Es war wie verhext. Alles, was von der Allgemeinheit als „Problem“ bezeichnet wurde, sah ich immer sehr gelassen. Egal welche Situation oder welcher Umstand sich auch als „Problem“ entpuppte, ich war immer derjenige, der stets gelassen blieb und einen kühlen Kopf bewahrte. Sprang das Auto morgens mal nicht an und verhinderte mir somit den schnellsten Weg zu einem wichtigen Termin, atmete ich kurz durch, ging wieder ins Haus, schlürfte einen frisch gebrühten Kaffee und verschob den Termin per Telefon auf einen späteren Zeitpunkt. Wurde ich von meinem Arbeitgeber während der Probezeit fristlos entlassen, befasste ich mich nicht lange mit der Frage nach möglichen Gründen, sondern fuhr gemütlich nach Hause, trank einen heißen Kaffee und durchforstete das Internet nach einer neuen Stelle. Zerdepperten die Nachbarskinder im Fußballrausch eine frisch geputzte Fensterscheibe, blieb ich cool und regelte alles weitere im Gespräch mit den Eltern des kleinen Ballacks oder Poldis - natürlich bei einer Tasse Kaffee. In Situation, wo der Puls meiner Mutter (als Beispiel) in die höhe schnellen würde, blieb ich absolut gelassen. Wie das ging?
Ich stellte mir einen Apfel vor, direkt vor meinen Augen platziert. Langsam bewegte ich diesen Apfel von meinem Gesicht weg und musterte ihn in aller Ruhe aus einer größeren Distanz. Der Apfel symbolisierte die Welt. Warum es gerade ein Apfel und keine Orange war, weiß ich auch nicht. Jedenfalls neigten Menschen nach einer Weile automatisch dazu ihr Leben zu fixieren und steigerten sich in etwas hinein, was sie „Probleme“ nannten. Man merkte es oft selbst nicht, aber irgendwann verschlang einen diese Problemwelt, alles andere im Leben, gar Mitmenschen, verblassten allmählich. Erst wenn man sich die Zeit nahm etwas Abstand zu nehmen, fiel einem plötzlich auf, dass die scheinbar unüberwindbaren „Probleme“ gar keine waren. Man betrachtete die Welt und somit sein eigenes Leben für einen kurzen Moment aus einer weiten Distanz. Dieses Vorgehen erleichterte mein Leben enorm, wirkte allerdings nicht beim Thema Hautprobleme.
«Da, ich habe es gerade laut und deutlich gesagt», dachte ich. «Hauptprobleme. Probleme.»
Mein Gesicht fühlte sich an, als wäre ich vor einer halben Stunde in nassen Sand gefallen, mit dem Kopf voran. Einzelne Mini-Körner bevölkerten meine Haut. Die Peeling-Creme war getrocknet. Zeit, um es abzuwaschen.
«Hoffentlich wächst du schnell über das allgemein oberflächliche Gedankengut der Massen hinaus, ehe es deine Haare nicht mehr tun und du dein Leben im Nachhinein als vergeudet betrachtest.», riet mir meine innere Stimme.
Nickend nahm ich diese Worte zur Kenntnis, positionierte mich nachdenklich unter dem Duschkopf und griff zur silbrigen Armatur.