Kurzgeschichte
Einer von Zehntausend

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"Einer von Zehntausend"
Veröffentlicht am 07. Juni 2010, 6 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Es tut mir leid, dass ich \\\"Restrisiko\\\" löschen musste, aber es ist jetzt in einer Kurzgeschichtensammlung namens \"Das Unfassbare\" vom ipm-verlag veröffentlicht worden. Wer Interesse hat, kann sich bei mir melden. Unter www.bookrix.de/-schneeflocke kann "Restrisiko" nach wir vor noch lesen. LG Flocke
Einer von Zehntausend

Einer von Zehntausend

0,0125 % aller Deutschen. Nicht viel, mögen manche meinen. Und doch sind es 10.000. 10.000 Menschen. So viele begehen jedes Jahr Selbstmord. Das bedeutet, dass jedes Jahr mehr Menschen durch die eigene Hand sterben als durch einen Verkehrsunfall.

 

Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?

10.000 Menschen sehen jedes Jahr keinen anderen Ausweg mehr. 10.000 Menschen erscheint ihr Leben nicht mehr lebenswert. 10.000, und einen davon habe ich gekannt.

 

„Ich hatte die Frau fürs Leben schon gefunden“, soll er gesagt haben, über ein Jahr nach der Trennung. Es war ihr Bild, das er mit in den Tod nahm. Selbstmord aus Liebeskummer? Die meisten schütteln nur verständnislos den Kopf, wenn sie das hören.

„Nur wegen einer Frau? Es gibt noch so viele andere – wer weiß, was in ein paar Jahren gewesen wäre“, heißt es dann. Es ist erstaunlich, aber jeder scheint eine Meinung zu haben. Jeder scheint zu wissen, wie es ist, in dieser Situation zu sein. Jeder hat einen klugen Ratschlag.

 

Warum hat er so selten von ihr gesprochen? Keiner hatte geahnt, dass er noch so an ihr hing. Er schien erstaunlich schnell darüber hinweg gekommen zu sein, man hatte ihm zumindest nichts angemerkt. Sicher, es war schon seltsam, dass er nach all der Zeit noch keine Neue gefunden hatte...

Man hätte denken können, er hätte sie völlig aus seinen Gedanken verbannt. Hat er deswegen nie über sie gesprochen, weil er wusste, dass ihn niemand verstehen würde?

 

Eine Trennung ist in mancherlei Hinsicht schlimmer als der Tod eines geliebten Menschen. Jeder bemitleidet dich, wenn dein Partner stirbt. Wenn er dich verlässt, stirbt ein Teil von dir mit der Trennung, mit dem Unterschied, dass es niemand versteht, dass es niemand nachvollziehen kann, und dass es niemand sieht.

„Zum Streiten gehören immer zwei“, heißt es dann, oder „Er wird schon seinen Teil dazu beigetragen haben“, oder so ähnlich. Und es gibt keinen Ort, an dem man über diesen Teil seines Lebens trauern könnte, der doch so unwiederbringlich verloren ist, als wäre der Andere tatsächlich gestorben. Und zum Schmerz des Verlustes kommt dann vielleicht noch der Schmerz des Betrogen-Seins hinzu.

 

Hatte er geschwiegen, weil er wusste, dass es keiner verstehen würde? Dass er nur leere Phrasen wie „Das Leben geht weiter“ oder „Du wirst darüber hinweg kommen“ oder „Du wirst dich wieder verlieben“ als Antwort bekommen würde?

So etwas wie wahre Liebe, in der Literatur und im Fernsehen hoch stilisiert und dramaturgisch überzeugend immer und immer wieder heraufbeschworen, hat in der Realität keinen Platz.

In einer Gesellschaft, die einen immens großen Wert auf Oberflächlichkeiten legt, sind selbst Werte wie Freundschaft so selten geworden, dass man sie mit der Lupe suchen muss (und ich meine hiermit nicht die Freundschaft, die sich auf das Austauschen des neusten Klatsches und Tratsches beschränkt) weil niemand mehr die Zeit zu haben glaubt, sich mit anderen Menschen wirklich zu beschäftigen und nicht nur über Belanglosigkeiten zu reden.

In einer Gesellschaft, in der Ehen aus der Laune eines Augenblicks heraus geschlossen werden und die Scheidungsrate so hoch ist wie nie zuvor, in der „bis dass der Tod uns scheidet“ und „in guten wie in schlechten Zeiten“ zu blosen Floskeln verkommen ist, da in einem von zwei Fällen der Richter scheidet und es die schlechten Zeiten (wenn nicht sogar schon die guten) sind, die zu einem solchen Ende einer Ehe führen, in solch einer Gesellschaft ist der Glaube an die Liebe fürs Leben verloren gegangen.

 

Und wenn es tatsächlich die Liebe seines Lebens war, wie er andeutete? Hat er deswegen beschlossen, zu gehen, weil er das Allein-Sein nicht mehr ertrug? Weil er an jenem Abend in eine leere Wohnung zurückkam und da niemand war, der auf ihn wartete, mit dem er hätte reden können? Hat er sich gefragt, ob der Rest seines Lebens so ablaufen würde, ohne einen Menschen, der ihn wirklich verstanden hätte? Hat er die Einsamkeit nicht mehr ertragen?

 

So viele Menschen sind allein in dieser Welt. Obwohl sie umgeben sind von anderen Menschen, viele Freunde und Bekanntschaften haben, sind sie doch in Wahrheit allein. Denn man ist nur dann nicht allein, wenn man Teil eines Ganzen ist. Und nicht allen ist es vergönnt, diesen andern Teil zu finden und auch zu behalten.

 

Und so begehen jedes Jahr 10.000 Menschen in der Bundesrepublik Deutschland Selbstmord. Das bedeutet, dass jedes Jahr mehr Menschen durch die eigene Hand sterben als durch einen Verkehrsunfall.

 

Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?

Dass verdammt viele Menschen sehr einsam sind. Dass wir den wichtigen Dingen des Lebens zu wenig Zeit einräumen. Dass wir zu sehr mit uns beschäftigt sind und zu wenig zuhören. Dass wir zu wenig sehen. Dass wir zu wenig tun, um etwas daran zu ändern.

Es sagt uns, das 10.000 Menschen jährlich das Leben in unserer Gesellschaft als nicht lebenswert ansehen. Das sollte uns zu denken geben.

 

(c) by Schneeflocke

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schneeflocke
Es tut mir leid, dass ich \\\"Restrisiko\\\" löschen musste, aber es ist jetzt in einer Kurzgeschichtensammlung namens \"Das Unfassbare\" vom ipm-verlag veröffentlicht worden.
Wer Interesse hat, kann sich bei mir melden.
Unter www.bookrix.de/-schneeflocke kann "Restrisiko" nach wir vor noch lesen.
LG Flocke

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schneeflocke Re: -
Zitat: (Original von ZMistress am 17.06.2010 - 22:48 Uhr) Ich habe heute erst einen Text darüber gelesen, dass es doch so albern wäre, sich umbringen zu wollen, weil man verlassen wurde, wo es vielen Menschen in Diktaturen (in diesem Fall Nordkorea) doch viel schlechter geht. Ich fand das ungeheuer zynisch.
Jeder Mensch hat seine eigenen Empfindungen und auch der Schmerz einer enttäuschten Liebe ist für keine zwei Menschen genau gleich und wirklich nachzuempfinden. Nur weil jemand es in einem Wohlstandsland oberflächlich betrachtet gut hat, kann er doch innerlich zerbrechen, weil er mit etwas in seinem Leben nicht zurechtkommt.

Dein Text macht wirklich nachdenklich und erinnert daran, seinen Mitmenschen nicht aus Gedankenlosigkeit (denn meist steckt hinter dummen Sprüchen ja nicht wirkliche Bosheit) so niederzureißen.


Danke für deinen Kommentar! Es freut mich, dass der Text nachdenklich macht, genau das wollte ich damit erreichen. Zu vieles wird einfach totgeschwiegen oder mit flapsigen Sprüchen beiseite geschoben.
Ich denke auch, das Schmerz etwas ist, dass kein anderer wirklich nachvollziehen kann, denn jeder empfindet (und zeigt) ihn anders.

Liebe Grüße,
Tina
Vor langer Zeit - Antworten
ZMistress Ich habe heute erst einen Text darüber gelesen, dass es doch so albern wäre, sich umbringen zu wollen, weil man verlassen wurde, wo es vielen Menschen in Diktaturen (in diesem Fall Nordkorea) doch viel schlechter geht. Ich fand das ungeheuer zynisch.
Jeder Mensch hat seine eigenen Empfindungen und auch der Schmerz einer enttäuschten Liebe ist für keine zwei Menschen genau gleich und wirklich nachzuempfinden. Nur weil jemand es in einem Wohlstandsland oberflächlich betrachtet gut hat, kann er doch innerlich zerbrechen, weil er mit etwas in seinem Leben nicht zurechtkommt.

Dein Text macht wirklich nachdenklich und erinnert daran, seinen Mitmenschen nicht aus Gedankenlosigkeit (denn meist steckt hinter dummen Sprüchen ja nicht wirkliche Bosheit) so niederzureißen.
Vor langer Zeit - Antworten
schneeflocke Re: Es ist die, -
Zitat: (Original von escribir am 13.06.2010 - 08:00 Uhr) Ohnmacht, nichts dagegen tun zu können. Klar ist mal der eine oder andere schlecht drauf, aber wer will abwägen ob es einer von 10.000 ist...
Starke info...

LG Bernd


Das ist genau das Problem! Da hast du Recht! Jeder hat mal einen schlechten Tag, und ich weiß nie, wie ernst gewisse Aussagen gemeint sind...

LG Flocke
Vor langer Zeit - Antworten
schneeflocke Kommentar vom Buch-Autor gelöscht.
Vor langer Zeit - Antworten
schneeflocke Re: Es ist gut geschrieben -
Zitat: (Original von Luzifer am 13.06.2010 - 01:02 Uhr) doch werde ich, als einer der Menschenm versuchen für sie zu sprechen. Selbstmord ist in meinen Augen ein feiger Akt, doch heißt es nicht, dass ich ihn in manchen Fällen nicht beführworte. Wie solllte denn jemals jemand an das Glück glauben, wenn ihm von allen Seiten die Harmonie der Geselligkeit suggeriert wird? Sowas wie Schicksal gibt es nicht und jeder bestimmt seinen eigenen Einfluss auf Erden. Wenn einer daran nicht glaubt, ist es ok. Wenn er versucht dich umzustimmen, vernichte ihn.


Hallo Luzifer!
Danke für den schnellen Kommentar!
Das hier war so eine Art Gedankenspielerei (und deswegen auch nicht so ausgefeilt wie meine anderen Geschichten)
- das heißt nicht, dass ich Selbstmord befürworte, keineswegs. Ich denke nur manchmal, dass vieles verhindert werden könnte, wenn man diese Menschen verstehen würde und ihnen das auch begreiflich machen könnte und ihnen dann die Hilfe zukommen lässt, die sie benötigen...aber es ist natürlich eine falsche Art, seine Probleme zu lösen, indem man einfach vor ihnen flüchtet (und genau das tut so jemand).

Liebe Grüße,
Flocke
Vor langer Zeit - Antworten
Luzifer Es ist gut geschrieben - doch werde ich, als einer der Menschenm versuchen für sie zu sprechen. Selbstmord ist in meinen Augen ein feiger Akt, doch heißt es nicht, dass ich ihn in manchen Fällen nicht beführworte. Wie solllte denn jemals jemand an das Glück glauben, wenn ihm von allen Seiten die Harmonie der Geselligkeit suggeriert wird? Sowas wie Schicksal gibt es nicht und jeder bestimmt seinen eigenen Einfluss auf Erden. Wenn einer daran nicht glaubt, ist es ok. Wenn er versucht dich umzustimmen, vernichte ihn.
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