Morgens
Er steht auf. Der Wecker klingelt immer weiter und weiter. Er sitzt auf dem Bett und hört dem ätzenden Geräsuch teilnamslos zu, das wie Säure in seine Ohren dringt. Der Wecker ist erschöpft und das Piepsen wird immer leiser bis es schließlich erstirbt. Ein Seufzen, dann erhebt er sich ächzend von der Bettkante. Mit schlurfenden Schritten bewegt er sich durch sein Zimmer, das man nur noch mit viel gutem Willen unter all dem Müll erkennen kann. Er zieht irgendetwas an, was über dem Schreibtischstuhl lag. Es könnte ein pinkes Kleid mit Rüschen sein und er würde es nicht merken. Sich die Augen reibend geht er in die Küche, um eine oder zwei Schüsseln pappiges Müsli zu essen. Seine Mutter steht am Herd und kocht Milch für die kleine Schwester auf, die nörgelnd auf ihrem Kinderstuhl hockt. Er sieht seine Mutter nicht an, er erträgt die eingefallene Haut und die Ringe unter den Augen nicht, er hält ihren vorwurfvollen Blick nicht aus. Sie schreit ihn niemals an, obwohl er es vielleicht brauchen könnte, nur ihre Augen sagen: "Wieso bist du so wie du bist? Wieso bist du nicht der Sohn, den ich mir gewünscht habe? Der Ohne grün gefärbte Haare und mit guten Schulnoten und mit einer netten Freundin, die er nach Hause bringt." Er schlingt sein Frühstück herunter und stürzt ins Badezimmer. Er betrachtet kurz sein Gesicht, seine südländischen Züge, die schön sein könnten, wenn er nur wollte, wenn er nur diesen Blick aus seinen Augen verbannen würde. Den Blick der sagt, dass ihm jetzt alles egal ist. Dass er nur noch weg will. Er braucht fünf Minuten fürs Zähne putzen, dann packt er sich seine Tasche, die im Flur steht, gefüllt mit ungemachten Hausaufgaben und einer nicht unterschriebenen Sechs in Mathe. Er denkt kurz daran, dass auch die meisten Helden in Büchern und Filmen, wenn sie Probleme in der Schlue haben, Probleme mit Mathe haben... es ist immer Mathe. Und er kann es verstehen.
Ohne sich zu verabschieden verlässt er die Wohnung und macht sich auf den Weg.
Den ersten Bus verpasst er, der zweite fährt ohne zu halten an der Haltestelle vorbei, erst beim dritten hat er Glück. Er steigt ein, kauft eine Karte und steckt sie in seine Hosentasche. In der Hosentasche sind noch viele andere Fahrkarten und er fragt sich, wann er sie wohl zum letzten Mal gewaschen hat. Egal. Nachdem er sich einen Sitzplatz ergattert hat, starrt er hinaus in die vorbeifliegende graue Welt. Grau und eintönig und sich immer drehend. Das ist die Welt. Und sie geht ihm am Arsch vorbei, wie alles andere auch. Er hat sie so satt mit ihren Lügen und ihrem immer wiederkehrenden Rythmus.
Die Schule ist hässlich und er muss sich wirklich überwinden durch die dreckige und beschmierte Tür zu gehen. Der ebenso dreckige und mit Plakaten und Bildern bekleisterte Gang ist menschenleer, weil die erste Stunde schon längst negonnen hat. Seine schlurfenden Schritte hallen so laut wider... Sie machen ihm fast Angst.
Ohne zu Zögern und ohne zu Klopfen tritt er in sein Klassenzimmer. "Aha, du beehrst uns auch noch mit deiner Anwesenheit!", begrüßt ihn die spitznasige Leherin. Er hat keine Ahnung, welches Fach sie nochmal unterrichtet, aber es kümmert ihn auch nicht...
Dann beginnt der Schultag für ihn, voller grauer Massen, die an ihm vorbeidrängen, voller Lachen, das er nicht versteht und voller Schulestunden, die er verschläft. Verzweiflung würde sich in ihm breit machen, hätte sie nicht schon jeden Zentimeter seines Körpers erobert. Er verzweilfelt an den immer gleichen Tagen. Er will raus hier aber er hat nicht die Kraft dazu. Es ist wie ein Strudel oder eine Wüste, in der man die Orientierung verliert. Er ist kein Held. Helden kämpfen und sterben. Er lebt und verzweilfelt langsam vor sich hin, einer der Feiglinge, die es nicht geschafft haben, nach einem Sturz wieder aufzustehen.
Mittags
Die Schülermassen strömen aus dem Schulhaus, kreischend, fröhlich. Die jüngeren Kinder springen umher wie kleine Rehe. Für sie ist das Ende des Schultags eine Erleichterung. Er schleppt sich zur Bushaltestelle, sie ist vollkommen überfüllt. Die von Freizeit betrunkenen Schüler nehmen keine Rücksicht auf die beiden alten Damen, die gemeinsam den Fahrplan studieren. Sie werden geschubst und geschoben, bis sie schließlich auf den Radweg stolpern. Ein Mann in Anzug auf einem klapprigen Fahrrad klingelt wie verrückt, aber sie können nicht ausweichen. Er will nicht wissen, was pssiert ist, hört nur den Zusammenprall und das Geschrei. Er beschließt, zu laufen.
Braune Blätter wirbeln mit dem Wind um seine Füße, als er den Gehweg entlang stapft, den Blick immer auf die Füße gerichtet, auf die alten Armeestiefel, die er immer noch liebt, weil sie das einzige sind, was sein Vater ihm je geschenkt hat, in einem seiner klaren Augenblicke, in denen er wusste, dass er seinen Sohn vor sich hat und nicht einen Fremden. Einen Fremden, der sein Feind ist. Eine Gothic Braut mit schwarz geschminkten Lippen huscht mit gesenktem Kopf und aufgesetzter Trauer an ihm vorbei. Wenn sie wüsste, wie sich Trauer und Verzweilflung wirklich anfühlen...
Beim Drogeriemarkt macht er halt- er braucht neue Batterien für den Wecker. Etwas Geld hat er noch, es müsste reichen. Er beeilt sich nicht. Findet seine Batterien, bezahlt und betritt mit einer kleinen weißen Plastiktüte in der Hand den Gehsteig.
Der Plattenbau taucht vor ihm auf. Ewig sucht er nach dem Schlüssel, findet ihn schließlich und öffnet sie schwere Tür. Das Teppenhaus ist kalt und ungemütlich, Schlammspuren zieren den Fußboden, die schon längst weggewischt hätten sein sollen. Durch jede Wohnungstür, an der er vorbei kommt, hört er ein kleines Stück der Leben dahinter. Einen pfeifenden Wasserkocher im ersten Stock, klappernde Highheels im zweiten, im dritten ein schreiendes Baby. Im vierten schluchzt eine Frau. Er weiß, dass seine Mutter damit aufhören wird, wenn er die Tür aufschließt. Sie will nicht schwach gesehen werden, vor allem nicht von ihm. Sie wird sich über die Augen wischen und sich im Bad einschließen, bis sie wieder normal aussieht, ihn dann mit ihrem Blick erstechen und vielleicht die Wäsche bügeln. Er stößt die Tür auf. Ohne überracht davon zu sein hört er, wie die Badezimmertür abgeschlossen wird. Um ihr nicht die Gelegenheit zu geben, ihn mit diesem Blick anzusehen, verkriecht er sich gleich in seiner Müllhalde. Er schmeißt sich auf sein Bett, dass die Sprungfedern quietschen, und greift nach seinem MP3- Player und drückt sich die Stöpsel in die Ohren. Schallendes Schlagzeug, Vibrierende Bässe, kreischende Stimmen bohren sich in seinen Kopf und lassen ihn die Welt draußen vergessen.
Abends
"Essen!", ruft seine Mutter durch seine Zimmertür, während sie dagegen hämmert. "Komm verdammt noch mal raus da, es gibt Abendbrot!" Schon so spät? Aha. Er schwingt sich aus den Kissen und zieht seine Schuhe aus. Er weiß, seine Mutter hasst Schuhe im Haus und er möchte sie nicht wütend machen. Er geht in die Küche und setzt sich an den Tisch. Gesprungene Teller grinsen ihn an, angelaufenes Silbergeschirr liegt daneben, passt so gar nicht hierher mit den geschwungenen Mustern darauf. Das einzige, was seiner Mutter von ihrer Familie geblieben ist, als sie seinen Vater heiratete. Die kleine Schwester sitzt schon im Kinderstuhl und quängelt- sie hat Hunger. "Ist gut Schatz, Esse kommt sofort.", beschwichtigt seine Mutter sie mit sanfter Stimme. Nie würde sie so mit ihm reden, ihn in den Arm nehmen und ihn trösten. Dabei ist sie das Einzige, dass ihm nicht egal ist, auch wenn er es sich nicht eingestehen möchte. Seine Mutter ist der einzige Mensch, der ihn noch verletzten kann. Jetzt verteilt sie weiche Kartoffeln und Dosengemüse auf die Teller. Alle essen schweigend. Kaum ist er fertig, lässt er seinen Teller stehen und macht sich auf in sein Zimmer. "Bleib gefälligst hier und hilf beim Abwasch, Daniele, !" Seine Tür knallt zu, seine Mutter seufzt. Er wechselt die Batterien in seinem Wecker aus, sie wäscht die schmutzigen Teller in der Spüle. Er zieht sein altes Schlabberhemd zum Schlafen an, sie muss die kleine Schwester ins Bett bringen.
Er liegt nun im Bett und starr an die Decke, mit der Gewissheit, dass der nächste Tag genauso werden wird wie dieser und wie der letzte und der vorletzte. Und er hat keine Lust mehr. Hätte er den Mut dazu, würde er Selbstmord begehen, da ist er sich ziemlich sicher.
Bis weit nach Mitternacht liegt er da, denkt nach und versucht gleichzeitig, nicht nachzudenken. Bis er darüber einschläft.
Wieder morgens
" siehe Kapitel 1 "