Eine Speerspitze, die kein Abbild findet und eine Streckenänderung, die zu einer Katze mit Kommunikationsbedarf führt.
19.03.
Auch dieses Zeichen liegt nun neben den zwei anderen auf meinem Schreibtisch. Ich schaue sie oft an, versuche ihre Verwendung und ihre Handhabung zu verstehen, doch dies gelingt mir nur bei der steinernen Speerspitze. Im Internet ließen sich auch keine weiteren Hinweise über Alter oder Herkunft der Steinobjekte finden.
Nach dem Vorfall in der Bahn fand ich tagelang keine Ruhe. Mein Schlaf war unruhig, ich war permanent in unerklärlicher Sorge. Jeden Tag hielt ich an und in der Bahn Ausschau nach dem alten Mann, aber er kam nicht mehr.
Ich lief meine Runde weiterhin mehrmals die Woche. Meine Kondition war erstaunlicherweise fast sprunghaft gestiegen. Vorbei die Zeiten mit Knie- Rücken- oder Schulterschmerzen und auch die regelmäßig auftretenden Seitenstiche kamen nicht wieder. Ich kam jedesmal sehr schnell in einen Rhythmus mit gleichbleibender Atmung und konstantem Tempo. An einem trüben Märznachmittag, kurz vor dem Dunkelwerden - in Anbetracht des in diesem Jahr äußerst kalten, nassen und dunklen Frühjahr war dies also bereits ab dem Mittag festzustellen - lief ich meine übliche Strecke und stellte plötzlich fest, dass ich so vertieft in meine Grübelei war, dass ich eine Abbiegung verpasst hatte. Ich lief nun direkt auf den Wald zu. Etwas, das ich natürlich sonst absolut vermied, Joggerin allein im Wald. Dumm und dümmer. Ich konnte nur umdrehen oder das kurze Stück durch den Wald schnell hinter mich bringen. Ich entschied mich für den Weg nach vorne, umdrehen unterbricht einfach den Rhythmus zu sehr.
Ich sah schon von weitem den Übergang von der Straße auf den schmalen unbefestigten Weg, der durch den Wald führte. Die Bäume fingen ohne Übergang an, da links und rechts verfallene Wochenendhäuser standen, die wie ein Tor in den Waldweg führten. Ich konnte nicht weit hineinschauen, da die Bäume den kurvigen Weg beschatteten. Die ersten Schritte auf dem unebenen Waldboden waren fast unangenehm nach dem ruhigen Asphalt der Straße. Die Laubbäume und Sträucher waren noch unbegrünt und wie jeden Wintern konnte man sich nicht vorstellen, dass es je anders sein könnte. Da der Wald nicht gepflegt wurde, krochen die Büsche und Arme der Bäume bis auf den schmalen Weg und ich musste aufpassen, nicht hängen zu bleiben. Ich hörte meinen Atem in meinen Ohren, meine Schritte auf dem dunklen, nassen Boden und fühlte mich äußerst unwohl. Die Vögel, die bei meinem Eintritt noch gesungen hatten, waren nun verstummt. Der leichte, kalte Wind, auf der Straße noch unangenehm im Gesicht zu spüren, bewegte hier im kahlen Dickicht keinen Ast. Ich steigerte mein Tempo in gleichem Maße, wie sich mein Unbehagen steigerte. Die Kreuzung, an der ich abbiegen musste, um aus dem Waldstück wieder auf die Straße zu gelangen, schnitt ich in kürzestem Bogen, fast ausrutschend auf dem hier mit Schneeresten bedeckten Boden. Mein Blick suchte permanent das Gestrüpp und die Stämme ab, ob sich nicht etwas verbergen oder – noch schlimmer - gar zeigen würde.
Dann sah ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung, ich spürte, wie sich das Adrenalin in mein Blut ausschüttete, mein Herzschlag stieg um ein Vielfaches, ich konnte ihn in meinem Kopf hören. Aber statt im Sprint weiterzulaufen, tat ich etwas auch für mich völlig unerwartetes. Ich blieb stehen. Offensichtlich wollte ich es jetzt wissen. Ich realisierte, dass ich äußerst wütend war und bereit den nächsten vom letzten Sturm noch herumliegenden Ast zu ergreifen und damit zu tun, was auch immer zu tun wäre.
Hinter einem Baumstamm glitt eine Katze hervor. Eine Katze. Grazil, leichtfüßig elegant, schwarz mit drei weißen und einem schwarzen Fuß, setzte sie sich neben den Baum und schaute mich interessiert und völlig furchtlos an. Sie trug kein Halsband, war also offensichtlich kein Freigänger.
Ich treffe auf meinen Läufen viele wilde und freilaufende Katzen, deshalb war auch diese kein wirkliches Ereignis. Die meisten beachten uns Läufer nicht, zumindest scheint es so, dabei ist mir völlig klar, dass sie mir nur entspannt den Rücken zu drehen, weil sie mit einem kühlen Blick meine Wendigkeit, Sprungfähigkeit und meine kurzen Fingernägel mitleidig abtun.
Ich bewegte mich nicht und versuchte nur meine Atmung zu regulieren, um mit meinem Geschnaufe nicht die Geräusche im Wald zu überdecken, falls noch mehr als diese Katze, hier unterwegs sein sollte.
Sie stand auf und kam ruhig auf mich zu. Dies ist normalerweise eine sehr positive Geste, der ich ebenso normalerweise mit Hinknien und Streicheln begegne. Aber diese Katze machte nicht den Anschein, als wäre sie darauf aus. Sie sprang auf einen abgeschlagenen Baumstumpf unmittelbar vor mir, setzte sich wieder und schaute mich an. Sie putzte sich nicht, maunzte nicht, sie schaute mich nur intensiv und unverwandt mit ihren hellen grünen Augen an. Als ich auf sie zugehen wollte, hob sie, wie abwehrend, leicht eine Pfote. Ich blieb stehen, bei einem menschlichen Gesprächspartner hätte ich die Situation beschrieben als, sie suchte nach Worten. Das war hier natürlich absurd.
Als mir dies bewusst wurde, konnte ich auch meinen Blick aus dem ihren lösen und auf ein entferntes Bellen hinter mir drehte ich mich um. In der Ferne sah ich, dass sich Spaziergänger mit Hund näherten. Als ich mich wieder der Katze zuwendete, war sie verschwunden. Auf Katzenart, lautlos und offensichtlich sehr schnell.
Irritiert nahm ich meinen Lauf wieder auf. Es war nur eine Katze. Trotzdem war ich nicht erleichtert. Katzen haben im Gegensatz zu Hunden natürlich immer eher etwas majestätisch distanziert Geheimnisvolles. Diese Katze war aber, auch wenn sie sich nicht anfassen lassen wollte, nicht distanziert. Und auch im nach hinein ließ mich das Gefühl nicht los, dass sie eine Form der Kommunikation gesucht hatte.
Als ich am darauffolgenden Tag wieder lief, dachte ich gar nicht daran, den Wald zu meiden. Ich wusste, es war unklug, aber das einzige was ich wollte, war die Katze zu sehen und herauszufinden, was sie mir sagen wollte. Und ich versuchte nicht darüber nachzudenken, was ich damit meinte und wie ich das einordnen würde. Aber ich traf sie nicht wieder.
Doch der Wald behielt seine dunkle Ausstrahlung auf mich, auch an Tagen in denen die Sonne ihren Weg durch die dicht stehenden Bäume und Sträucher bis zu mir fanden. Ständig erwartete ich, dass eine Begegnung, welcher Art auch immer, stattfindet, eine Erklärung für die eigenartig dichte Atmosphäre in diesen paar Metern Wald zu finden ist. Und immer wenn ich Spaziergänger traf, fühlte ich mich um die wenigen einsamen Momente der Möglichkeit eines Ereignisses betrogen.
Der nächste Stein brachte den Tod mit sich.