Lucy wird erleuchtet
Am Tage nach ihrer teilweisen Schuleinschreibung in der Wiesen-Schule besucht Lucy die weise Frau Eulalia Eule, die tief im finstersten Wald in einer riesigen uralten Eiche lebt, wie sich das für weise Eulen gehört. Sie selber ist allerdings mit ihrer standesgemäßen Wohnung etwas unzufrieden, da es in den hohen, gotischen Hallen der fast vollständig ausgehöhlten Eiche ziemlich zugig sei – behauptet sie - was ihrem Rheuma nicht zuträglich wäre.
Lucy glaubt das nicht so ganz, denn sie findet es bei Eulalia sehr geräumig und wohnlich und keineswegs zugig. Jeder Zentimeter ihrer Stube ist mit dicken Perser-Teppichen, plüschigen Decken, kuscheligen Kissen und süßen Spitzendeckchen bepflastert.
Aber da die alte Dame wohl in letzter Zeit recht einsam und zurückgezogen lebt, muss sie sich wohl bei ihrer unerwarteten kleinen Besucherin erst mal so richtig ausjammern. Lucy nimmt sich fest vor, dieses Mal artig zu sein und brav zuzuhören. Sie will ja lediglich einen Fernunterricht nehmen, das heißt also: die Aufgaben und die Lektionen von der Eule kriegen, und dann zu sich nach Hause abzischen und sich mit dem Lernstoff im Zustand des Kopf-unter Hängens, Umher-purzelns, Fliegens, Schaukelns, Rennens oder Nase-bohrens auseinandersetzen. Nur eines will sie nicht: STILLSITZEN.
Also trägt Lucy der (angeblich Erleuchteten, was soviel heißt wie: absolut total weisen) Eule ihre Bitte vor und wartet ab was passiert. Natürlich weiß sie, dass das ewig lange Schwadronieren über ihre Krankheiten und darüber dass ihre Verwandtschaft sie im Stich gelassen hat usw., nur ein Trick ist, mit dem sie Lucy prüfen will, ob sie als Schülerin für sie geeignet ist.
Alle wahren Meister machen das so: Sie langweilen ihre Schüler erst einmal ewig lang, und stellen ihnen sinnlose Aufgaben, wie:
Was ist das Gegenteil von einem Gegenteil?
Das dient vor allem dazu, aus der weiten Schar ihrer Jünger diejenigen heraus zu filtern, die allein als Meisterschüler geeignet sind. Nämlich diejenigen, die nach einem Jahr Fußboden-Schrubben, Bambusrohr-Meditieren und leere Wände Anstarren nicht komplett wahnsinnig geworden sind.
Im Fall der winzigen Hexe bedeutet die Prüfung, Kenntnis über sämtliche wichtige und quälende Eulenkrankheiten und die ebenso wichtige und quälende Eulenverwandtschaft zu erlangen, und während dieser endlosen Zeit des Zuhörens keine Plüsch-Allergie auszubilden.
Lucy übersteht diese Prozedur, die sicher vor ihr keine andere Schülerin überlebt hat, indem sie unter den weiten Ärmeln ihres Kleidchens sich ausgiebig und genüsslich die Fingernägel feilt, wobei sie sich selbst sämtliche Lieder aus dem Zauberspruch-buch vor summt.
Von Zeit zu Zeit sagt sie brav: „Ja Frau Eulalia!“, „Ich verstehe, Frau Eulalia!“ und „Wie tragisch, Frau Eulalia!“. Diese drei Floskeln sind absolut ausreichend, um die Dame im Wortfluss zu halten.
Gerade überlegt sich Lucy, wie sie unbemerkt auch noch die Fußnägel feilen kann, als ihre Lehrerin endlich zur Sache kommt.
„Ach ja übrigens, Kleines, sie beginnen am Besten mit der Meditation des unverhofften Wissens nach Balduar Überschwang, einem erleuchteten Glühwürmchen aus dem sechzehnten Jahrhundert.
Sie reicht Lucy eine zerlesene Kladde, offensichtlich das Orginalwerk, so ramponiert wie es aussieht. „Wenn sie erste Erfolge verzeichnen, kommen sie wieder zu mir und...“
Die Eule will zu einer erneuten stundenlangen Rede anheben, aber Lucy hat sich das Büchlein geschnappt, fröhlich „Vielen Dank, Frau Lehrerin! Und auf Wiedersehen!“ gerufen, ist mit einem Satz zur Tür gesprungen und „Peng“ knallt diese hinter ihr zu.
Zurück bleibt nur die in der Eile vergessene Nagelfeile, ein Häuflein Hornspäne im Teppich und eine äußerst verdatterte Eulenlehrerin.
„Äh ja...auf Wiedersehen meine Liebe...!“, murmelt sie noch, vor sich hin, ohne einen Gegenüber zu besitzen, dann dreht sie den Kopf herum und schläft tief seufzend ein.
Lucy hingegen begrüßt jubelnd ihre Freunde, die dieses Mal draußen hatten warten müssen. Willibald hatte Birka und dem Simsipursbum das Pokern beigebracht um sich die Zeit zu vertreiben und das widerum hatte Simsi schamlos ausgenutzt. Simsipursbum-Gesichter sind praktisch die perfekten Pokerfaces. Können diese Augen lügen? Niemals, würde man sagen, doch weit gefehlt!
Willibald hatte inzwischen seine sämtliche Habe und drei seiner Punkte an das Simsipursbum verloren, Birka hatte sogar ihren Baum versetzen müssen.
Lucy blickt ihr Lieblingshaustier streng an. Diesen speziellen strengen Hexenblick (man nennt ihn zu Recht auch den 'BÖSEN BLICK' und Lucy hat ihn von ihrer Großmutter Zerfsckrqrsl geerbt) kann selbst das ausgekochteste Simsipursbum nicht vertragen. Es rollt sich sofort zu einer zitternden Kugel zusammen und linst nur mit einem um Abbitte flehenden Auge daraus hervor.
Da verschwindet der Hexenblick sofort wieder aus Lucys süßem Gesichtchen und sie krault ihr erschrockenes Simsi zart zwischen den Ohren. „Das gibst Du jetzt brav alles wieder zurück!“ ermahnt sie es noch. Dann schwingt sie ihr neues Lehrbuch vor ihren Freunden hin und her. „Hurra, jetzt werde ich erleuchtet!“, ruft sie und wirft sich auf Willibalds Rücken um nach Hause zu fliegen, wo sie auf der Stelle die ersten Übungen machen will.
Von ihren Freunden umringt sitzt Lucy nun schon bald mit hochroten Ohren in ihrem Hexenhäuschen am Küchentisch und schlägt die „Meditation des unverhofften Wissens“ auf.
Dabei muss sie zur ihrem Entsetzen feststellen, dass dieser idiotische – Entschuldigung: erleuchtete – Balduar von ihr verlangt STILLZUSITZEN.
Zunächst einmal muss man den Lotus-Sitz lernen, das ist praktisch ein Knoten in den Hinterbeinen.
Das Simsi beherrscht das sofort perfekt, Birka lernt es nach einiger Übung, Willibald geht schon nach dem ersten Versuch in die Käferkneipe zum „lahmen Flügel“ um dort einen auf die Erleuchtung zu heben.
Lucy schnauft und stöhnt, ihre Füsschen wollen sich einfach nicht in die passende Stellung drehen lassen. Endlich schafft sie es mittels eines Verknotungs-Spruches aus ihrem Zauberbuch.
Befriedigt stellt sie fest, dass sie in dieser Haltung beim nächsten Treffen mit der Eule auch noch perfekt heimlich ihre Fußnägel feilen kann.
Nun muss man Räucherstäbchen aufstellen und für eine angenehme Umgebung sorgen. Lucy blättert einfach weiter – bei einer Hexe brennen immer ein paar Räucherstäbchen, und für ein angenehmes Wohnklima hat sie bereits gestern durch die großzügige Verteilung von Allwetter-Schleim in der Wohnstube gesorgt.
Jetzt soll man ganz STILLSITZEN, die Augen fest geschlossen, Daumen und Zeigefinger aneinander gedrückt. Dabei singt man die Silbe: 'OM'.
„OOOOOOOOOMMMMMMMM!“, brüllt Lucy ausgelassen, so dass Birka und das Simsipursbum im Lotussitz rückwärts vom Tisch fallen. Lucy lässt sich davon nicht aus der Konzentration bringen, sie muss fanatisch darauf acht geben, dass ihr rechter großer Fußzeh nicht wackelt, denn das will dieser partout nicht aufgeben.
Birka sehen sich unterm Tisch fassungslos an: Außer im tiefen Hexenschlaf haben sie Lucy noch nie so lange still sitzen sehen. Zehn Sekunden, zwanzig, eine halbe Minute...
Sorgenvoll schielen sie nach oben. Das wird doch bei der kleinen Hexe hoffentlich nicht hängen bleiben? Wie sollen sie denn in Zukunft mit ihr spielen, wenn sie stundenlang verknotet auf dem Küchentisch hockt?
Vierzig Sekunden, fünfzig Sekunden, der tapfer mit zählenden Kuckucksuhr kommen bereits die Tränen.
Genau in der sechzigsten Sekunde reißt Lucy die Augen auf und die Arme in die Höhe:
„ICH BIN ERLEUCHTET!“, ruft sie überglücklich.
Damit entwirrt sie in rasender Geschwindigkeit ihre Beine, kickt Balduars Buch in das offen stehen gebliebene Maul ihres Ofens und beginnt auf dem Tisch Tango zu tanzen. „OH LA LA!“, ruft sie, „dass Erleuchtung so beglückend sein kann! Das hat sich auf jeden Fall gelohnt!“
Natürlich sind die Anderen begierig darauf, zu erfahren, welches unverhoffte Wissen nun in Lucy gefahren sei.
„Meine Lieben...!“ beginnt sie nun geheimnisvoll zu ihren wissensdurstigen Schülern zu sprechen: „Eine wahrhaft Erleuchtete gibt ihr Wissen niemals einfach so preis! Ihre Aufgabe ist es, rätselhafte Anweisungen zu erteilen! Darum wahrlich ich sage euch: Holt mir Gemüse aus dem Garten!“
Das Simsipursbum und ihre Freundin Birka sind verständlicherweise etwas verwirrt, aber die gnädige Lucy klärt sie glücklicherweise gleich auf:
„Erleuchtete haben tierischen Kohldampf und brauchen dringend eine gute Hexen-Suppe! Und die kochen wir jetzt!“, ruft sie entrückt. Und dann mit ganz normaler Stimme: „Im übrigen habe ich erfahren, dass Erleuchtete den ganzen Tag spielen und NIEMALS STILLSITZEN. Das tun nur die dummen Unerleuchteten, die dadurch eines Tages in diesen göttlichen Zustand kommen wollen!“
Befriedigt über diese glorreiche Erkenntnis knallt Lucy den großen Hexenkessel auf den Ofen, dass die Funken nur so sprühen.
Da begreifen ihre Freunde erleichtert, dass sie ihre alte Lucy wieder haben, und auch sie fangen vor Begeisterung an zu tanzen.
„Hoch lebe unsere erleuchtete Lucy!“, schreien sie im Chor. In dem Augenblick fällt ihnen ein, dass 'Lucy' ja eigentlich so viel wie 'Licht' heißt.