Lucy geht zur Schule
Lucy Lieblich ist im Grunde genommen ein sehr wissbegieriges Mädchen. Neugier und Forscherdrang sind ihr sozusagen in die Wiege (oder vielmehr in die Handtasche der Oma) gelegt worden.
Darum reicht ihr auch bald schon ihr Hexenspruch-buch und die Kräuter-fibel und die 'Geschichte der Worthexerei' von Martha Reichranitzka, nicht mehr aus. Letztere ist sowieso ziemlich langweilig und unverdaulich für ein winziges Hexenkindchen.
Schon seit Tagen erzählen ihr die befreundeten Tiere von der Wiesen-schule beim Brombeerbusch.
Dorthin gehen alle kleineren Tiere, Kobolde und Elfen, Wichtel und Wurzelmännchen um sich weiterzubilden.
Der Lehrer ist der gemütliche Herr Kröterich, der angeblich den Stein der Weisen verschluckt haben soll, oder zumindest einer seiner Vorväter, oder vielleicht auch nur ein Vorvater seiner Vorväter.
Auf jeden Fall weiß er sehr viel und hat auch die Wiesen-Bibliothek unter sich, die sich in einem hohlen, umgefallenen Baumstamm befindet.
Aber es gibt auch Gerüchte dass man in der Wiesen-schule ganz artig und still auf seinem Platz sitzen muss. Und still sitzen – das ist das Allerletzte was Lucy beherrscht. Darum ist sie bisher noch nicht auf die Idee gekommen, dort hin gehen zu wollen.
Dennoch ärgert es sie, dass alle Anderen über so Vieles besser Bescheid wissen, als sie selber. Und wenn sie dann nachfragt, woher sie denn dieses Wissen haben, so antworten sie ihr ganz hochnäsig: „Aus der Wiesen-schule natürlich, aber davon hast Du ja keine Ahnung!“
Auch möchte sie so gerne einmal mit so einem schönen Schulranzen über die Wiese laufen, wie ihn die anderen kleinen Tiere besitzen, welche dort beim Brombeerbusch in die Schule gehen.
Das allein ist schon ein Zeichen, dass man zu den intelligenteren Tieren der Wiese gehört. Schließlich wird auch nicht jeder in der Wiesen-schule aufgenommen. Man muss erst beim Herrn Kröterich eine Prüfung ablegen. Und von der wird gemunkelt,dass sie nicht ohne sei...
„Pah!“ Lucy kann dafür hexen, und besitzt selber drei ganz schlaue Bücher. Sollen die kleinen Angeber doch in ihre blöde Schule rennen und wie angewurzelt in ihren Schulbänken sitzen. Sie hat Besseres zu tun! Zum Beispiel kann sie...ja was eigentlich? Im Augenblick fällt ihr nichts dazu ein.
Dummerweise ist nämlich auch ihre neue Freundin Birka seit letzter Woche in der Schule und deswegen muss sie zum Spielen mit ihr immer warten, bis Diese heimkommt und dann auch noch ihre Hausaufgaben erledigt hat. Das nervt wirklich oberhexenmässig!
Darum beschließt Lucy nun doch einmal beim Herrn Lehrer Kröterich vorbei zu schauen ob sie nicht doch einmal in die Schule aufgenommen werden kann. Zumindest für einen Probetag. Dann kann sie ja immer noch entscheiden, ob sie bleiben will oder nicht.
Für ihre Vorstellung macht sich Lucy extra fein, denn sie will einen guten Eindruck machen. Statt ihres Alltags-Hexen-Kleidchens zieht sie sich das Feine an, welches eigentlich für die Hexen-festtage und den Tanz auf dem Blocksberg gedacht ist.
Das ist aus feiner blauer Spinnweb-Seide, mit aufgedruckten goldenen Sonnen und silbernen Monden und Sternen. Ihren grünen Hexenhut verziert sie mit ein paar roten Blüten aus ihrem Moos-garten und einer der Spinnen von ihrem Mobile, die sie kurzerhand abreißt und daran bindet.
Jedes Mal wenn sie nun mit dem Kopf wackelt, leuchten die Augen der Spinne unheimlich rot auf, was Lucy äußerst vornehm findet.
Dann bindet sie einen losen Strick um ihre drei Bücher und wirft sich den Packen über die Schulter. Das ist zwar nicht so famos wie ein echter Schulranzen, aber ein wenig macht es schon her.
Auf diese Weise bestens für ihren Auftritt in der Wiesen-schule vorbereitet hüpft Lucy auf ihren Käfer Willibald, pflückt sich das Simsipursbum von der Lampe und setzt es sich auf die Schulter, und los geht’s!
Das gibt ein großes Hallo und willkommene Ablenkung bei den Schülern, als das winzige Hexchen dahergefegt kommt und über der Wiesen-Schule in ihrem Aufzug lustige Loopings fliegt.
Besonders Birka, die ihre Freundin eigentlich schon sehr vermisst hat, winkt heftig mit einem orangeroten Löschpapier.
Nur der Herr Kröterich blickt äußerst missbilligend unter seiner dicken Hornbrille hervor. Er will schließlich unterrichten und hat keinen Sinn für solche Späße.
„Nun hören sie doch endlich auf mit diesem Unsinn!“, knurrt der aufgebrachte Lehrer. „Merken sie denn nicht, dass sie meinen Unterricht stören?“
„Aber ja!“, erwidert Lucy fröhlich, „das lag ganz in meiner Absicht! Ich verspreche aber, damit aufzuhören, sobald sie mich auf bestehende Schultauglichkeit prüfen. Ich beabsichtige nämlich der Wiesen-Schule beizutreten!“
Da bleibt dem armen Lehrer nichts anderes übrig, als die Schulstunde zu unterbrechen und Lucy einer eingehenden Prüfung zu unterziehen, von der er insgeheim hofft, dass sie diese nicht besteht. Denn einen Wirbelwind wie Lucy Lieblich in der Klasse zu haben ist für einen ehrbaren Lehrer nicht einfach.
Doch Lucy hat sich gut vorbereitet und kann alle Fragen des gestrengen Lehrers beantworten.
Dieser seufzt schließlich und gibt ihr einen Wink, sich auf einen freien Platz – neben ihrer Freundin Birka – zu setzen.
Diese erwartete Lucy schon mit hochrotem Kopf vor Stolz, eine so außergewöhnliche Freundin zu haben.
„Ach ja!“, meinte der Lehrer noch beiläufig, „Haustiere sind im Unterricht nicht zugelassen, und nehmen sie bitte ihren Hut ab, Kopfbedeckungen sind nur bei türkischen Honig-Bienen erlaubt!“
„Ich nehme meinen Hut nie ab, werter Herr Lehrer!“, widerspricht Lucy eifrig. „Außer wenn ich meine monatliche Größen-messung mache! Im übrigen habe ich eine türkische Großtante. Die nimmt ihren Hut nicht einmal ab, wenn sie sich die Haare wäscht!“
Der Herr Kröterich brummelt ärgerlich, will nun aber endlich mit dem Unterricht fort fahren. Mit der wortgewandten Worthexe eine Diskussion anzufangen scheint ihm nicht sinnvoll, zudem könnte das seine Autorität untergraben.
Aber um den Lehrer nicht all zu ärgerlich zu stimmen schickt Lucy ihr Simsipursbum fort. Das gehorcht aufs Wort, verschwindet in der Wiese um gleich darauf unter Lucys Schuhspitze heimlich wieder aufzutauchen. Lucy krault es zärtlich mit ihrer großen Zehenspitze zwischen den Ohren.
„Schlaues Simsi, hast dir einen Gang gegraben!“, flüstert sie.
„Ruhe dahinten!“, donnert nun der Lehrer. „Wo waren wir stehen geblieben...ach ja, Ameisen haben sechs Beine, Spinnen acht und Mäuse vier. Wieviel Beine sind das, wenn sich zwei Ameisen, eine Spinne und ein Mäuschen zum Frühstück treffen?
Lucys Finger schießt sofort in die Höhe und schnalzt unartig.
Birka boxt sie unter der Bank in die Seite und flüstert: „Schnalzen darf man nicht!“
„Wirklich?“ die kleine Hexe kann es nicht verstehen, will aber nun brav sein. Also steckt sie beide Finger in den Mund und lässt einen schrillen Pfiff ertönen. „ICH WEISS ES!!!!!!“ brüllt sie im Birka-Aufweck-ton, der der halben Klasse einen Hörschaden versetzt. „Es sind achtundzwanzig Beine!“
„Falsch!“ kommentiert der Lehrer, „es sind vierundzwanzig Beine, und außerdem warten sie bitte, bis sie aufgerufen werden und machen nicht einen solchen Lärm!“
„RICHTIG! Brüllt nun Lucy zurück, „weil der Frühstückstisch nämlich auch noch vier Beine hat! Ätsch angeschmiert!“
Der Lehrer befiehlt nun der kleinen Lucy entnervt, einfach vorläufig den Mund zu halten, was sie auch unter Ziehen der grässlichsten Grimassen für den Rest der Stunde schafft.
In der nächsten Stunde ist Musik-Unterricht und Lucy darf vorsingen. Oh – wie schön und rein singt sie da, die ganze Klasse ist gerührt und auch der Lehrer versöhnt sich innerlich wieder mit ihr.
Vor allem hat sie einen Zauberspruch gesungen und nun regnet es Holunder-Limonade und für den Lehrer einen Kräuter-Tee und einen Strauss Wiesen-Blumen.
Auch im Sport-Unterricht glänzt Lucy mit Bocksprüngen und Purzelbäumen, die sie zusammen mit dem Simsipursbum geübt hat, welches im Gesamten ein Akrobat und im Besonderen ein Purzelbaum-Meister ist. Es kann sogar Purzelbäume die Wand hoch machen.
Am Schluss des Tages nimmt der Herr Kröterich Lucy noch einmal beiseite und rät ihr, vielleicht doch einen Privat-fern-Unterricht bei der Frau Eule zu nehmen, weil er vorläufig noch extreme Probleme sehe bei ihr mit dem Still-Sitzen und den Schul-Regeln.
Aber zur Musik- und Sport-stunde dürfe sie gerne kommen.
„Juhu!“, ruft Lucy erfreut, „ganz genau so habe ich es mir vorgestellt! Ein ganz klein bisschen möchte ich aber auch zu den Ferien kommen!“
Das verspricht der Lehrer und alle winken Lucy nach, als sie mit einem ausladenden Ehren-Looping auf Willibald entschwindet. Birka kommt gleich mit, sie kann ja selber fliegen, wenn auch keine Loopings. Dies war jedenfalls auch für sie einer der aufregendsten Schul-Tage, und sie freut sich schon auf die Stunden in denen Lucy mit ihr zusammen lernt.