Die Geschichte einer mutigen jungen Frau, die sich ihre Freiheit erkämpft und eine abenteuerliche Reise erlebt. Der dritte Teil der Erzählung.. Bisherige Teile: 1) Das Tal von Illoqqortormiut 2) Uniqqart Eettinut Sihannouk Coverbild: Fred Walton, GNU
Die Nacht ist sternenklar und der Mond steht voll und silbern wie ein wachsames Auge über der Stadt. Wie glimmende Berge ragen die hell erleuchteten Wolkenkratzer empor.
Susi Sihannouk beugt sich ein Stück nach vorn.
Unter ihr, weit unter ihr!, erstreckt sich am Fuße der Häuserschlucht eine breite Straße wie ein helles Band. Automobile, klein wie Käfer, ziehen dort ihre Bahnen, kreuzen die Ameisenpfade der Menschen.
Ein beständig an- und abschwellendes Rauschen dringt nach oben, dazwischen mischen sich allenthalben Fetzen von Musik und Gelächter. Ab und zu heult nervös eine Sirene auf, hier und da wird gehupt, gebremst, geflucht. Das Atmen der Großstadt.
Susis Blick klettert an der gegenüberliegenden Hauswand hinauf. Zwischen den schwarz durchfeuchteten Backsteinen erstrahlen die Fenster wie Grale. Graue Schemen bewegen sich hinter den Gardinen. Jemand steht am geöffneten Fenster und raucht.
Hinter Susi ertönt ein lautes Hämmern. Ruckartig wendet sie sich um.
In einem kleinen, backsteinernen Aufbau auf dem Dach des Hauses befindet sich eine Tür.
Wieder ein Hämmern. Stimmen. Hundebellen. Susi steht wie versteinert da.
Die Tür wird aufgerissen. Schwarze Gestalten, nicht mehr als Schatten, stürmen hindurch.
Eine der Gestalten zeigt mit dem Finger auf Susi, sagt etwas auf Dänisch.
Das Bellen kommt näher.
Susi breitet die Arme aus.
Und lässt sich nach hinten kippen.
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Jemand packt sie im Nacken und reißt sie brutal in die Höhe.
"Dein Vater!" brüllt ihr jemand direkt ins Gesicht "Wo ist das dreckige Schwein?" Lautes Bellen. Dänisches Stimmengewirr. Poltern.
Susi ist noch vollkommen benommen. Sie kann nicht antworten.
Mit unbändiger Wut wird sie auf das Bett geschleudert, sodass ihr Hinterkopf hart gegen die Holzwand schlägt.
Für einen Moment kehrt sie zurück ins Reich der Träume. Ein hohes Pfeifen breitet sich wellenförmig in ihrem Kopf aus. Ein schwerer, schwarzer Körper kommt sabbernd über sie, bellt, beißt, wird zurück gezerrt.
Ein weiteres Mal wird Susi hochgerissen.
"Wo ist er?" Eine schallende Ohrfeige bringt Susi endgültig zurück in die Realität.
Während Speichel und Blut in ihrem Mund zusammenfließen, lichtet sich der Schleier vor ihren Augen.
Der Raum ist ein einziges Chaos.
Ein halbes Dutzend grimmig dreinschauender, uniformierter Männer ist damit beschäftigt, alle Habseligkeiten der Familie zu zerschlagen und zu zerfetzen. Riesenhafte schwarze Doggen rennen umher, schnüffeln hier und knurren da. In diesem Moment reißt einer der Männer das hölzerne Küchenregal aus der Wand, sodass das gesamte Geschirr mit einem ohrenbetäubenden Scheppern zu Boden fällt.
Eine weitere Ohrfeige. Diesmal auf die andere Wange.
Brandur Madsen ist Leitender Offizier ihrer königlichen Majestät der Dänischen Hafenbehörde von Illoqqortoormiut, Frauenheld und Sadist. Unter seiner dunkelblauen Dienstmütze wächst glattes, strohblondes Haar hervor, das an den Seiten mit Pomade zurückgekämmt ist. Sein edel geschnittenes, schneeweißes Gesicht steht dazwischen wie ein leuchtendes Ausrufezeichen. Die blauen Augen sind hell und klar und eisig. Von seiner Brusttasche baumelt ihm eine altmodische, goldene Taschenuhr. Im Gürtel steckt ein Revolver.
"Du kleines Miststück!" brüllt Brandur Madsen, packt Susi bei den Schultern und rüttelt sie heftig durch.
Susi fasst Brandur Madsen fest ins Auge. Ein feines Lächeln beschleicht ihr Gesicht.
Brandur Madsen lässt sie los und wirkt irritiert.
Alles vorbei.
Blutgeschmack.
"Juttikatunit Tullinnituut"
Susi spuckt aus.
Ein Faustschlag schickt sie in die Dunkelheit.