Der Kronleuchter
„Wie lange haben Sie vor zu bleiben?“, fragte der Portier an der Rezeption des heruntergekommenen Hotels.
Barbara Hagen lächelte: „Wenn ich das wüsste. Ich möchte mir hier eine Wohnung suchen und hoffe, dass ich bald etwas Geeignetes finden werde.“
„Na, dann viel Spaß beim Suchen. Wohnungen sind knapp hier. Da brauchen Sie eine tüchtige Portion Glück. Ich kenne Leute, die suchen schon ein halbes Jahr“, sagte der Portier.
Barbara nahm ihren schweren Lederkoffer und ging zum Aufzug.
„Der Aufzug ist kaputt“, schrie der Portier durch die Halle.
Barbara seufzte und schleppte den Koffer über die Steintreppe zum ersten Stock, Zimmer 123. Das war wenigstens leicht zu merken, was aber der einzige Vorteil an dieser üblen Absteige war.
Sie schaute aus dem Fenster auf eine der lautesten Straßen der Stadt. Wenn ein Lastwagen durch die Straße donnerte, bebte das Hotel und die Fensterscheiben klirrten. Aber das Hotel war zentral gelegen und der Preis für das Zimmerchen gering.
Ihre Berufsausbildung hatte Barbara vor kurzem beendet, und am 1. Januar würde sie ihren ersten Job als Grafikerin in einer Werbeagentur antreten. Sie freute sich darauf.
Besorgte Freunde hatten sie vor dieser Agentur gewarnt. Es war in der Branche bekannt, dass hier Samstag- und Sonntagarbeit an der Tagesordnung war, und vor 22 Uhr würde sie wohl nie den Griffel aus der Hand legen können.
„Die Überstunden werden bei uns nicht bezahlt, das ist mit dem Gehalt schon abgegolten“, sagte ihr Ludwig Andersch, der Geschäftsführer. Aber als Berufsanfängerin wollte sie nicht so wählerisch sein. Barbara war froh, dass sie überhaupt untergekommen war. Und die fremde Stadt war ihr ganz angenehm. Sie freute sich, dass sie sich endlich vom Elternhaus abgekabelt hatte.
Jeden Mittwoch und Freitag standen die Immobilienangebote in der Zeitung. Barbara hatte bereits ihre ersten schlechten Erfahrungen mit Maklern gesammelt. Eine Wohnung hatte sie besonders interessiert. In der Zeitung stand „ruhige Lage“. Als sie die Wohnung besichtigte, war die Lage aber alles andere als ruhig. Der Makler meinte darauf: „Für diese zentrale Gegend muss man die Lage als ruhig bezeichnen. Außerdem hat die Wohnung Schallschutzfenster. Sie hören lediglich ein leises Rauschen, und ein bisschen Leben wollen Sie doch auch.“
Entrüstet fragte Barbara ihn: „Würden Sie diese Wohnung nehmen? Wahrscheinlich wohnen Sie in einem Haus im Grünen.“
Eine andere Wohnung, die ihr gefiel, lag im ersten Stock. Im Erdgeschoss war eine Kneipe.
Der Makler sagte: „Dieser solide Altbau in Ziegelbauweise hat noch dicke Mauern. Von der Kneipe hört man keinen Lärm oder hören Sie etwas?“
Barbara hörte tatsächlich nichts, doch als sie Stunden später die Kneipe besuchte, erzählte ihr ein Stammgast, der neben ihr an der Bar saß, dass der Makler dem Wirt ein kräftiges Trinkgeld gezahlt habe, damit er zwischen 17 und 19 Uhr, in der Zeit der Wohnungsbesichtigungen, die Musik ausschalte.
Nun hämmerten die Bässe der Musikanlage wieder. Also wieder nichts.
Barbara besichtigte über vierzig Wohnungen, bis es endlich klappte. Sie unterschrieb drei Wochen vor Weihnachten den Mietvertrag und konnte die schön geschnittene Zweizimmerwohnung sofort beziehen. Leider war kein Balkon dabei, den hätte sie zu gerne gehabt.
Da ihr neue Möbel zu teuer waren, besuchte sie regelmäßig Flohmärkte und Trödler. Als erstes erstand sie einen alten, verstaubten Kronleuchter. Sie montierte den Lüster und reinigte die stumpf gewordenen Kristallgehänge. Abends saß sie auf ihrem Schlafsack, hörte während der Adventszeit aus ihrem kleinen Radio Weihnachtsmusik und betrachtete ihren funkelnden und in vielen Farben glänzenden Kronleuchter. Da brauchte sie gar keinen Weihnachtsbaum. Der Kronleuchter war um Welten schöner und außerdem nadelte er nicht.
Ein umgedrehter Karton diente ihr als provisorischer Tisch. Stühle hatte sie noch keine.
Barbara wollte sich nicht stressen lassen und kaufte nach und nach ein gebrauchtes Stück nach dem anderen.
Jahre sind mittlerweile vergangen. Längst hat sie die Ausbeuteragentur verlassen und arbeitet jetzt als Zeitschriftenlayouterin in einem Verlag. Die Wohnung ist schon lange komplett eingerichtet es würde gar nichts mehr hineinpassen.
Wie lange sie noch in der Wohnung bleibt, weiß sie nicht. An den alten Möbeln hängt sie nicht so besonders. Sie könnte sich von allen Stücken sofort trennen nur von einem nicht: Ihrem heiß geliebten Kronleuchter, der sie auch im Sommer an Weihnachten erinnert.
© by Hermann Bauer
Diese Geschichte ist aus dem Buch
„Ein hungriger Bär tanzt nicht",
erschienen im Geest-Verlag.
ISBN 3-937844-78-3
Illustration: Franziska Kuo.