Lucy und Birka
Es ist an einem trüben Herbst-Tag, lange nach dem schönen Geburtstagsfest mit ihren lieben Freunden, und auch lange nach einem Hexenfest mit ihrer Hexenfamilie – als Lucy Lieblich auf einmal anfängt sich zu langweilen und ein wenig einsam zu fühlen.
Alle ihre Freunde haben gerade viel damit zu tun, sich auf den Winter vorzubereiten: Das Mäuse-nest muss ausgepolstert und die Vorratskammern mit Nüssen und Körnern aufgefüllt werden. Der Ameisenbau wird noch einmal stabilisiert um den wilden Herbst-stürmen und dem Frost standhalten zu können. Die 'Unverwüstlichen' üben bereits Weihnachtslieder für die Adventszeit und die meisten Vögel sind gen Süden unterwegs. Niemand hat Zeit für Lucy Lieblich.
Zuerst räumt Lucy ihre Stube auf und putzt sie, bis sie blitzblank ist. Dann räumt sie sie noch einmal auf und putzt sie ein zweites Mal, einfach nur um sich zu beschäftigen und schon mal vorsorglich für den Fall, dass sie einmal dafür keine Zeit hätte. Sie kontrolliert ihre eigenen prall gefüllten Vorratskisten,dichtet drei neue Lieder, bügelt Willibalds Sonntagsanzug, liest das Hexenspruchbuch einmal von vorwärts und dann noch einmal von rückwärts. Im Garten recht sie das Laub zusammen (genau zwei riesige Blätter, die auf das Moospolster gefallen sind). Sie schreibt einen Brief an Tante Oblada und einen an Oma Zerfi und schickt Willibald damit auf die Wiesenpost. Dann stellt sie einen langen Einkaufszettel für die Hexendrogerie zusammen.
Da steht:
Hexendrogerie, ich brauche:
sieben neue Punkte für Willibalds Flügel (in tiefschwarz, glänzend)
einen neuen Wischlappen (im Angebot gibt es jetzt welche, die von selber los wischen, sobald zu viel Dreck herum liegt. Der Hexenspruch ist bereits mit eingewebt und mit einem Dreckmess-zauber verknüpft)
Ein neues Haarfärbemittel in herbstlichem Fuchsrot (nicht zu billig! Soll nach drei Monaten wieder raus gehen!)
violette Dachschindeln für Hexenhäuser im Mini-Format (es regnet neuerdings an zwei Stellen herein, weswegen ein Eimer und eine große Zinkwanne unter den undichten Stellen auf dem Fußboden stehen. Ständig stolpert Lucy darüber, kippt den Eimer um und fällt der Länge nach mit allen Kleidern in die volle Wanne)
Ein Simsipursbum (Frag jetzt bitte nicht, was das ist, das erkläre ich später, sonst wird die Geschichte heute viel zu lang)
gelackte und mit Straßsteinchen beklebte Hexenfingernägel zum Anpappen und wieder Abnehmen.
(Lucy liebt schöne Fingernägel, aber die stören regelmäßig bei der Hausarbeit und beim Bäume-klettern und in der Erde graben, weil sie dann abbrechen und kaputt gehen)
Einen winzigen Kürbis für Haloween für den Moosgarten. (Für Menschen winzig, für winzige Hexchen riesig)
Einen Transportbesen mit großem Einkaufsnetz um den ganzen Kram nach Hause zu transportieren.
Uff! Geschafft! Doch nun muss sie warten, die Hexendrogerie macht erst wieder am Mittwoch auf und das ist erst übermorgen.
Genau an diesem Punkt fängt Lucy an sich zum ersten Mal in ihrem Leben ein wenig zu langweilen. Ein drittes Mal mag sie das Häuschen nicht putzen und Willibald ist zur Post unterwegs. Der Ofen brummelt nur und ist zu keinem anständigen Gespräch bereit und die Kuckucksuhr ist noch beleidigt, weil es gestern auf sie herab geregnet hat.
Was zum Gewitter-Grummeln soll sie nur machen?
Am besten wäre es, wenn sie eine Freundin hätte, die nur ganz allein ihre eigene wäre – ohne Anhang und Familie und Liebschaft und Verpflichtungen, so wie all die Tiere. Eine Freundin, der es gerade allein genauso todlangweilig wäre wie ihr. Aber gemeinsam würden ihnen dann die tollsten Sachen einfallen.
Lucy fackelt nicht lange. Sie zieht sich ihren Hexen-allwettermantel über, schnappt sich den Reise-ersatz-Besen, den sie nur hernimmt wenn Willibald nicht anwesend ist. Dann wirft sie sich mit einem Schrei in den Herbstwind. "Meine Freundin, ich komme Dir zur Hilfe! Warte auf mich! Sterbe noch nicht an Langeweile! Denn jetzt kommt Lucy Lieblich um Dich davon auf ewig zu befreien!“
Wenn man selber ein Problem hat, hilft es manchmal ganz doll wenn man sich vorstellt, einem anderen bei dem selben Problem helfen zu können. Das gibt neuen Schwung und zum Schluss hat man sich selbst auch geholfen.
Lucy Lieblich dichtet nun in aller Eile einen funktionsfähigen 'Freundinnen-Such-Zauber'.
In dem Wald und auf der Wiese
such ich meine Freundin diese
arme die vor Langeweile
stirbt wenn ich mich nicht beeile
sie zu finden und befrein
dann ist sie nicht mehr allein
ach, wir werden lustig spielen
nicht mehr nach der Uhr hin schielen
dass die einsam ew'gen Stunden
schneller drehen ihre Runden
wir werden uns auch ewig lieben
bestimmt ist sie wie ich auch Sieben
ist sehr schön und gut gelaunt
über mich sie sicher staunt
weil ich nämlich hexen kann
jedenfalls so dann und wann
wo werd' ich dies' Mädchen finden?
Unter Eichen, Buchen, Linden?
Ach dass ich dies bald bewirke,
finde sie bei einer...
Birke!!!!!!!!!!
„Autsch!“
Die kleine Hexe hat mit ihrem vom Zauberspruch in wilde Raserei gebrachten Besen plötzlich eine Birke gerammt und ist in einem großen Astloch stecken geblieben. Nun wird sie durch den plötzlichen Ruck nach vorne katapultiert und fliegt mit vorgestreckten Armen mitten in das Astloch des innen hohlen Baumes hinein.
„Iiaaaaaaiaiaiaiaah!“, kreischt sie wie die Miniaturausgabe von Tarzan, während sie schnurstracks in die Arme eines ganz kleinen Mädchens segelt, welches sich weinend in genau diesem Astloch verkrochen hat. Nun weint das Mädchen allerdings nicht mehr, sondern starrt mit vor Schreck geweiteten Augen auf das tieffliegende Hexenkindchen. Anscheinend ist sie nicht an abstürzende Mini-Hexen gewöhnt. „Bums!“ macht es, als Lucy in ihrem Schoß landet und ihre Ärmchen um sie schlingt. „Da bist Du ja endlich!“, ruft sie, ohne dem Mädchen die Gelegenheit zu geben, sich von seinem Schock zu erholen. „WILLST Du meine Freundin werden?“
Da das verwirrte, verheulte und erschrockene Mädchen, Lucys Geschwindigkeit bei der Anbahnung von Freundschaften offenbar nicht folgen kann winkt Lucy großmütig ab. „Das können wir auch später klären!“, lenkt sie in beruhigendem Tonfall ein. „Zuerst wollen wir uns mal vorstellen! Ich bin Ludmilla Wortwhexel, aber alle sagen Lucy Lieblich zu mir, und Du darfst natürlich einfach nur Lucy sagen! Und wer bist Du?“
Das zarte Mädchen mit den langen hellen Haaren und den blauen Sternenaugen, die noch immer ganz groß sind starrt Lucy nur an, als sei sie ein Engel, der vom Himmel gefallen ist. Und in gewisser Weise stimmt das ja auch. Und dann öffnet sich ganz langsam ihr schön geschwungener kleiner Mund und sie sagt: „Birka“
Wie sich nach und nach herausstellt ist die kleine Birka ein Baummädchen. Ihre Birke leidet an einer seltenen Krankheit. All ihre Blätter sind von Seidenfäden umsponnen und schon viel zu früh haben sie sich eingerollt und sind vertrocknet. Wenn ihr Baum den Winter nicht übersteht muss auch Birka sterben. Und nun hat sie sich so sehr einen Engel herbei gebetet, der ihr hilft. Aber, dass es auch schmutzigbraune kleine Engel mit großen grünen Mooshüten gibt und wirren in grellem türkisblau leuchtenden Haaren – das hat Birka bisher nicht gewusst.
Doch Lucy als echte wortgewandte Worthexe hat sie bald aufgeklärt über ihre 'Freundinnen Such-Aktion'. Als Erstes nimmt sie die arme, zitternde und verängstigte Birka zu sich mit ins warme Hexenhäuschen. Dort setzt sie das Mädchen mit einer Wärmflasche auf dem Bauch und einer Tasse heißem Hexenkaffee vor den leise bullernden Ofen, der ihr gut zu grummelt.
Per Hexentelefon (eine winzigkleine Kristallkugel, ja ich WEISS, für Worthexen gehört sich das nicht, aber die Omi hat sie ihr für Notfälle aufgedrängt. Und dies IST offensichtlich ein Notfall)
Also per Hexentelefon ruft Lucy in Windeseile ihre geliebte und auch manchmal ein wenig gefürchtete Omi an und erklärt ihr die Sachlage.
Diese organisiert sofort einen schlagkräftigen Hexen-hilf-trupp aus erfahrenen Waldhexen, Kräuterhexen und einer weissen Hexe, falls es sich bei der Baumkrankheit um einen bösen Fluch handelt. In Windeseile kommen sie herbei gerauscht wie ein kleiner bissiger Herbststurm.
Man kann doch seine einzige Enkelin in Not nicht im Stich lassen. Wenn ihre Freundin in Gefahr ist, ja da muss sofort geholfen werden.
„Schnurrdiepurzelklingsdiebums!“ ehe man dazu gekommen ist, die Ursache für diesen plötzlich auftretenden kleinen Herbststurm zu ergründen hat er auch schon seine Aufgabe erfüllt.
Die Birke ist geheilt und damit es die Freundinnen zueinander nicht so weit haben, haben die kundigen Hexen sie einfach neben den Findling auf die Wiese gezaubert. Hier hat sie auch viel mehr Licht, als im dichten Tannenwald.
Nun braucht sich die kleine Birka nicht mehr vor dem Winter zu fürchten, sie hat eine neue Freundin, ein warmes Häuschen für kalte Winternächte und einen gesunden und geschützten Baum. Denn selbstverständlich haben die Hexen nicht vergessen ein paar starke Schutzzauber um die Birke zu legen – für die Zukunft.
Und Lucy braucht sich nun nie mehr zu langweilen.
Sie winkt den davon rauschenden Hexen nach, und deckt ihre neue Freundin sanft mit einer Wolldecke zu und schiebt ihr ein weiches Kissen unter den Kopf. Denn diese ist nun ganz beruhigt und entspannt vor dem Ofen eingeschlafen.