Lucy und der Baum der Wunder
Eines Morgens erwacht die winzige Hexe Ludmilla Wortwhexel – die von allen einfach Lucy Lieblich genannt wird – von einem eigenartigen Geräusch:
Irgendetwas scheppert über den blankpolierten Holzfußboden ihrer Stube, in der auch ihr Himmelbettchen steht, da es das einzige Zimmer des streichholzschachtelgroßen Hexenhäuschens ist. Mühsam öffnet Lucy ihr linkes Auge und schielt unter den herab hängenden Spinnweben hervor, die das Baldachhin ihres Bettchens bilden.
Doch sie kann nichts Ungewöhnliches erkennen. Da hängt ihre alte Kuckucksuhr an der Wand, die leise vor sich hin kichert. Der Ofen schnarcht in tiefem Schlummer und zersägt dabei schon mal ein paar Scheite in passende Größen. Auf dem Tisch steht eine Vase mit wunderschönen Tollkirschenzweigen an denen appetitlich glänzende Früchte hängen. Natürlich hat sie die Zweige klein gehext, sonst hätte nicht einmal eine einzige Tollkirsche zur Tür herein gepasst.
Da ist es wieder! „Schepper-die-krach-bumm-boller-die-wumms!“ Stöhnend reibt sich das verschlafene Hexenmädchen die Augen und reißt sie so weit auf, dass die Augäpfel hervor quellen.
„Was zum Gewitter-grummeln macht hier nur solchen Lärm, und lässt ein ehrbares Hexchen nicht seinen dringend notwendigen Schlaf halten?“ Hexen, die nicht ausgeschlafen sind, können für ihre Umwelt außerordentlich lästig werden. Schon bei normalen Menschenkindern ist Unausgeschlafenheit die Ursache von schlechter Laune, Nörgeleien und Unzufriedenheit mit allen schönen Dingen des Lebens.
Der Vorteil bei schlecht gelaunten, weil unausgeschlafenen Menschenkindern ist allerdings, dass sie nicht hexen können.
Anders ist es nun bei Ludmilla Wortwhexel. Sie kann sogar sehr gut hexen, jedenfalls in sehr kleinen Dingen. Nur wenn sie unausgeschlafen ist, geht der Schuß sozusagen nach hinten los: Alles womit sie sonst ihrer Umwelt Freude bereitet, verkehrt sich nun ins Gegenteil!
Statt „Guten Morgen alle zusammen!“ hext sie in den Rauch des Schornsteins: „Was ein lästiger Tag heute!“ und damit wissen alle Tiere gleich, dass Lucy heute nicht gut geschlafen hat, und man ihr besser aus dem Weg geht.
Der Kaffee kocht ihr dann über und die Aufräum-zauber bringen verheerende Unordnung übers Hexenhäuschen, weil sie alle das Gegenteil bewirken.
Wenn eine winzige Hexe unausgeschlafen und schlecht gelaunt ist, kann sie hexen was sie will, es kommt nichts Gescheites dabei heraus.
Lucy versucht nun also schlaftrunken aus dem Bett zu steigen, um die Ursache des Lärms zu finden, der sie nicht schlafen lässt.
Schon beim Aufstehen verhakt sich ihr einer Fuß im hölzernen Bein ihres Bettchens. Ein flink ausgesprochener Zauber bewahrt sie davor auf die Nase zu fallen. Das ist nämlich nun gar nicht mehr möglich: Denn ihre Nase reicht plötzlich von ganz alleine bis zum Fußboden und stoppt ihren Fall.
Dummerweise ist die ellenlange Nase nun bei allem Anderem im Weg und als das Hexchen sich im Spiegel ansieht, kippt sie vor Schreck beinahe um. Glücklicherweise wird sie von der Nase abgebremst. Im Versuch ihr Gesichtchen wieder in die richtigen Maße zu bringen, wird nun nicht die Nase kleiner, sondern die Ohren werden zu Elefantenohren. Lucy trompetet entsetzt durch ihre Elefantenrüsselnase und aus ihren Augen kullern dicke Tränen. Die will sie auch nicht haben und beim Versuch sie weg zu hexen, entsteht nun eine Überschwemmung. Reißende Flüsse strömen aus ihren Augen und binnen von Sekunden steigt der Wasserspiegel in ihrem Häuschen bedrohlich an.
Geistesgegenwärtig reißt Lucy die Fensterchen auf und aus dem Hexenhaus ergießen sich kleine Sturzbäche ins Moos. Leider schwimmen auf diesen auch ihre sämtlichen Haushaltsgegenstände davon: Der Kaffeetopf, der Rührlöffel, Teller und Tassen, der Hexenbesen und sogar die Kuckucksuhr, die jetzt leise schluchzt. Beim Versuch diese zurück zu zaubern werden die Gegenstände auf einmal lebendig und gehen nun auf Lucy los, die sie für die Urheberin ihres Unglücks halten – woran ja auch ein wahrer Kern ist.
Dummerweise wachsen sie bei jedem Schritt und nun versucht der riesige Kaffeetopf sich über die Hexe zu stülpen, während der Rührlöffel nach ihr schlägt, wie eine Fliegenklatsche nach einer Fliege. Gleich hext sich Lucy unsichtbar, damit ihre wild gewordenen Sieben Sachen sie nicht erschlagen. Doch das klappt wieder nicht, denn ihr linker kleiner Zeh bleibt sichtbar und der Rührlöffel haut mit aller Kraft darauf.
„Auatsch!“ schreit die winzige Hexe und wacht auf. Die Sonne scheint zum Fenster hinein und die Hexe hat heute ausnahmsweise mal verschlafen und einen hässlichen Albtraum gehabt.
Ihr Marienkäfer Willibald hat glücklicherweise schon Kaffee gekocht und so schlurft die Hexe in Nachthemdchen und Pantoffeln zum Tisch und schlürft schnell ein Schlückchen heißen Hexenkaffee. Der ist ja so stark dass er auch Tote aufwecken könnte.
Draußen vor ihrem Fenster wächst auf einmal ein kleiner Baum, der gestern noch nicht da war. Sie reibt sich die Augen um sicher zu gehen, dass sie nicht doch noch träumt. Nein – da steht tatsächlich ein kleiner Baum, ganz aus Silber und er macht Geräusche. Vielleicht hat sie die ja im Traum gehört. Aber sie klingen viel schöner: Ein Klingeln und leises Klirren der Blätter, ein helles, kristallklares Singen, wenn der Wind durch das Bäumchen streicht.
Nach dem Kaffee eilt die winzige Hexe gleich nach draußen. Sie will die seltsame neue Pflanze in ihrem Garten gleich noch besser betrachten. Wo sie wohl herkommt?
Lucy Lieblich tippt vorsichtig an eines der hauchfeinen, silbrigen Blätter. Da erinnert sie sich: Richtig, sie hat ja gestern Abend einen Samen in der Erde eingegraben, den sie sich in der Hexendrogerie gekauft hatte. „Wunderbaum“ war auf dem Tütchen gestanden, und dieses Mal hatte die Hexe auch fleißig das Kleingedruckte gelesen, um nicht wieder auf so ein Billigangebot herein zu fallen. Da stand: „Täglich fleißig mit Glaube gießen, Zweifel-unkraut heraus reißen und mit Liebe bescheinen. Wächst dann und bekommt Traum-Früchte. Diese bitte erst ernten, wenn sie groß und reif sind. Dann mit Genuss verzehren und die Samen aus ihrem Inneren wiederum in die Erde setzen. So werden sie lange Freude an ihren Wundern haben!“
„Aha!“, denkt die kleine Hexe, das ist also ein Wunderbaum, und er ist quasi über Nacht groß geworden. „Gut, dass ich ausgeschlafen bin!“, lächelt sie, denn dieser Baum braucht viel Lebensfreude um seine Wunder reifen zu lassen.
Lucy setzt sich gleich hin und singt ihm ein Liedchen von ihren Träumen und Wünschen. Sofort beginnt für jeden Wunsch oder Traum eine kleine Blüte am Baum zu blühen.
Lucy singt:
Ich wünsch' mir dass auf dieser Welt,
nicht Geld und Macht regieren,
sondern Einer zu dem Andern hält
zu Pflanzen auch und Tieren.
Dass alles Leid ein Ende hat
und alle Ängste enden
dass Gott sehr große Hände hat,
die alle Dinge wenden.
Ich wünsch' mir Regenbögen zart,
aus unsren Köpfen springen
vor Jubel dass Gott uns hat bewahrt
wollen wir Lieder singen.
Ich wünsche mir ein Walnußschiff
zum Segeln um die Welt.
Damit umschiff' ich jedes Riff
fahr' wohin es mir gefällt!
Ich wünsch' mir einen Wunderbaum
der jeden Wunsch erfüllt
und dazu auch den richt'gen Traum
der meine Wunsch einhüllt
in Wunderwunschtraumblütenstaub
am Wunderwunschtraumbaum
umfächert von silbrig feinem Laub
mit Wunderblicken anzuschaun.
Lucy Lieblich, die kleinste Hexe der Welt, schläft doch bei ihrem Liedchen tatsächlich ein. Und als sie wieder aufwacht, ist der Wunderbaum verschwunden.
Aber natürlich weiß sie, dass er noch da ist. Wunderbäume zeigen sich nur in besonderen Augenblicken, damit man den Rest der Zeit Gelegenheit hat, sie mit Glauben zu begießen.