„Kann ich behilflich sein?“
„Nein, das ist ...“
... nicht notwendig, hat sie sagen wollen, denn inzwischen hat sie ihre Reisetasche schon selbst im Gepäcknetz verstaut. Im Gepäcknetz des ICE, der sie für drei Tage fortbringen soll.
Fort von ihrem Mann und den drei halbwüchsigen Kindern. Fort vom grauen Alltag mit all seinen immer wiederkehrenden Verpflichtungen. Fort von dem Zwang, pünktlich das Essen fertig haben zu müssen, an dem doch nur ständig herumgemäkelt wird. Entweder kocht sie „zu gesund“, dann maulen die Kids, oder sie trägt deren Geschmack Rechnung, dann fühlt sich ihr Mann bemüßigt, minutenlang über die heutige Jugend im Allgemeinen, deren falsche Ernährung im Besonderen und ganz speziell die der eigenen Brut zu referieren. Tortellini in Sahnesauce – wo hat es das denn früher gegeben? Und die Dinge, die sie selbst gern isst, Blattsalate und Fisch in allen Variationen, sind für den Rest der Familie – dieses Mal einmütig – sowieso Kaninchenfutter (der Salat) oder Igitt (der Fisch).
Nicht, dass sie ihre Familie nicht liebt, beileibe nicht, aber mal drei Tage lang nur an sich zu denken – okay, nicht nur an sich alleine, sie trifft sich schließlich mit Hannah – aber drei Tage lang nur die Seele baumeln zu lassen, das wird herrlich sein. Und ... drei Tage lang jederzeit zum Kugelschreiber greifen und ihrer Fantasie freien Lauf lassen dürfen, ohne dass jemand sie mit solchen Dingen wie defekten Handys oder dringend benötigtem Volumenshampoo belästigt oder mit dem Auto zum Volleyball gefahren werden muss, weil die neue Sporttasche zwar ungemein hipp, leider aber auch ausgesprochen unpraktisch ist, da rotes Lackleder nun mal auf dem Gepäckträger eines Fahrrads leicht zerkratzt. Vor allem aber auch, ohne dass jemand unwillig knurrt, weil sie es wagt, eine nächtliche Idee sofort zu notieren und dazu die Nachttischlampe einzuschalten.
Drei Tage lang nur Hannah und sie und Wellness. Schwimmen gehen. Sich und die Füße willenlos der Pediküre überlassen. Oder sich völlig dem Genuss einer Ganzkörpermassage hingeben, ohne das Wissen im Hinterkopf, dass sich die Bemühungen um ihre körperliche Entspannung spätestens nach vier Minuten erledigt haben werden, da sie ohnehin nur als Aufforderung zum ehelichen Beischlaf dienen. Drei Tage lang keine anderen Entscheidungen treffen als die, welches Brötchen sie zum Frühstück essen oder welches Handtuch sie mit in die Sauna nehmen soll. Allerdings auch drei Tage ohne ihren geliebten PC und ...
Sie löst sich aus ihrer Starre und wendet den Kopf.
Diese Stimme. Diese Stimme hat sie schon einmal gehört. Ein einziges Mal, damals, als er sie angerufen hat unter irgendeinem Vorwand. Welcher das gewesen ist, weiß sie längst nicht mehr, aber eine ganze Stunde lang haben sie geklönt und sich fest vorgenommen, das bei Gelegenheit zu wiederholen, aber dann hat wohl beiden der Mut dazu gefehlt.
Ja, das ist er. Das kurze grau-blonde, über den Ohren leicht verstrubbelte Haar, die braungrünen, schalkblitzenden Augen hinter der modernen Brille mit den breiten dunkelblauen Bügeln. Die etwas zu große Nase mit dem Höcker auf dem Rücken und der volle Mund mit der schön geschwungenen Oberlippe. Genauso hat er ausgesehen auf dem Bild, das er ihr geschickt hat. Nein, natürlich hat er ihr kein Foto geschickt, das sie jetzt im Portmonee mit sich rumschleppt, aber den Link zu einem seiner Fotos auf der Profilseite dieses Forums, in dem sie beide aktiv sind. Sie, die zweiundvierzigjährige Allroundhausfrau und Mutter, die so gerne wieder an ihren alten Beruf als Journalistin angeknüpfen würde und sich mit dem Schreiben von Glossen und Kurzgeschichten einen Ausgleich zum Familienalltag geschaffen hat, und er, der Hobbyautor spannender Abenteuerromane und ebensolcher Gedichte und Balladen. Sie haben absolut auf einer Wellenlänge gelegen, das hat sie schon gespürt, als sie das erste Mal über seine ausgefallenen Texte gestolpert ist, die sie sofort fasziniert haben, weil sie so ganz anders sind als alles, was sie bisher gelesen hat. Was genau anders ist, kann sie gar nicht sagen, aber das ist im Grunde auch egal.
Seit einigen Monaten hat sie nun schon mit diesem Mann fast täglich internetten Kontakt. Völlig neue Horizonte haben sich ihr durch ihn eröffnet, und seit sie es gewagt hat, ihm ihre Mailanschrift und sogar ihre Telefonnummer zu geben, hat dieser Mann in ihrem Denken und Fühlen einen immer breiter werdenden Raum eingenommen. Wenn sie nicht eine so furchtbar logisch denkende, mit beiden Beinen fest auf der Erde stehende Frau wäre, könnte sie glatt von sich annehmen, sie habe sich ein wenig verliebt. In einen eigentlich total Unbekannten. Aber für solche Dinge ist sie viel zu praktisch veranlagt, oder? Und für Träume hat sie ja schließlich ihre Schreiberei, wie ihr Mann sich immer etwas spöttisch auszudrücken pflegt.
Und nun steht er hier vor ihr, dieser Mann, zum Greifen nah.
Hannah ... Hannah ist die Einzige, die von ihm weiß, die Einzige, zu der sie davon gesprochen hat, wie gerne sie diesen Mann einmal persönlich treffen würde. Die Einzige, der sie von ihren unerfüllbaren und gerade deshalb so reizvollen Träumen erzählt hat. Also nicht, dass ihr nicht völlig klar ist, wie dumm und wirklichkeitsfremd diese Träume sind, oh nein, und eigentlich ist sie ja nun auch die Letzte, die sich irgendwelchen Illusionen hingeben würde, dazu ist sie viel zu realistisch, aber ... ach verdammt. Und Hannah ist die Einzige, die verrückt genug wäre, ihn einfach anzuschreiben und ihm ein solches Treffen vorzuschlagen.
Natürlich ... Warum sonst hat Hannah sie gefragt, in welchem Wagen des Zuges sie einen Sitzplatz reserviert hat? Nur damit sie sich am Bahnhof schneller finden können?
Warum sonst hat sie mehrmals dezent darauf hingewiesen, dass ihre Freundin mal wieder eine gute Haartönung gebrauchen könnte?
Warum sonst hat sie die neue Jeans und die roten Highheels einpacken sollen – zu einem Wellnesswochenende unter Frauen?
Hannah. Ihre unmögliche, immer etwas chaotische und leicht überdrehte Freundin ...
Sie öffnet den Mund.
„... nicht notwendig, vielen Dank“, beendet sie den Satz, in dem sie sich Sekunden vorher selbst unterbrochen hat, und zwinkert einmal. Der Mann verwandelt sich. „Sehr nett von Ihnen“, fügt sie freundlich hinzu.
„Keine Ursache“, lächelt der Schaffner und tippt sich grüßend an die Uniformmütze. „Gute Reise wünsche ich Ihnen.“
„Besten Dank“, flüstert sie und schließt für einen Moment die Augen ...
Seufzend legt sie den Kugelschreiber aus der Hand.