Spiegelbild
Der Morgen reißt sie unsanft aus dem Schlaf. Da war wieder dieser Traum, den sie auch schon im Flugzeug gehabt hatte. Dieses Gefühl der Schwerelosigkeit fühlte sich so echt an. Sie wischt sich über die Augen und schaut verträumt aus dem Fenster. Ein wunderschöner Tag ist angebrochen. Der Himmel ist klar und der Wind wiegt die feinen Äste der Bäume sanft in seinen Armen. Es dauert eine kleine Weile, bis sie realisiert, wo sie ist. Sie schaut auf ihr Bett und blickt auf die letzte Seite des Albums. Lea und sie in einem Rahmen aus roten Rosen. Sie sehen so glücklich aus. All das ist Vergangenheit. Die schwere ihrer Seele kehrt zurück und droht sie zu erdrücken. Sie springt auf, klaubt ein paar Sachen zusammen und verschwindet im Bad. Als sie erneut ihr Zimmer betritt, wirft sie einen Blick auf die Uhr. Sie erschrickt, als sie sieht, dass es erst sechs Uhr morgens ist. Sie weiß, dass sie nicht mehr schlafen kann und zieht ihre Schuhe an. Der Wind macht es ihr schwer, die Tür zu schließen. Als sie den Schmalen Waldweg betritt, atmet sie tief ein. Immernoch riecht es nach Tannennadeln und frischer Erde, nur, dass ihr der Geruch plötzlich gefällt. Sie geht tiefer in den Wald. Das rötliche Morgenlicht scheint durch die Baumkronen und lässt den Weg vor ihr erstrahlen. Ihre Füße tragen sie, wie von allein. Sie schließt ihre Augen und sieht sich fliegen, wie in ihren Träumen. Das Knirschen der Äste unter ihren Füßen verstummt plötzlich. Sie blinzelt nach unten und sieht, wie sie in der Luft zu laufen scheint, erschrickt und fällt. Der Aufprall ist dumpf. Sie krallt sich in die Erde unter ihr und ordnet ihre Gedanken neu. Was zur Hölle war das? Hatte sie sich das eben nur eingebildet, oder kann sie tatsächlich fliegen? Sie steht auf und schließt erneut die Augen. Sie holt tief Luft und beginnt wieder an den Himmel zu denken. Daran, wie es wohl sein mag, schwerelos zu sein. Gerade erhebt sich ihre zierliche Gestalt in die Lüfte. Zögerlich öffnet sie die Augen. Ein Lächeln fährt ihr über die Lippen. Obwohl sie eigentlich Angst haben müsste, fühlt sie sich geborgen. Sie lehnt sich nach vorne und beginnt um die Baumstämme zu fliegen. Immer mehr entfernt sie sich vom Boden, bis sie durch die Baumkronen stößt. Sie zieht Muster am Himmel. Es fühlt sich an, als hätte sie ihr ganzes Leben nichts anderes getan, als zu fliegen, einfach frei zu sein. Sie schließt die Augen und lässt sich tragen. Ihr Körper ist eins mit der Luft. Sie merkt zunächst nicht, dass der Wind sie sanft auf einer Wiese ablegt. Die Grashalme streicheln ihr Gesicht, als sie die Augen öffnet und von weitem eine Person sieht, die mit dem Rücken von ihr abgewandt auf einem Hügel steht und die immernoch rötliche Morgensonne betrachtet.
„Schön, dass du hier bist Saphira. So lange haben wir gewartet, dass du wieder nach Hause kommst.“
„Wer sind sie? Und was wollen sie?“
„Wunderst du dich nicht über das, was eben geschah?“
„Bin ich wirklich geflogen?“
„Ja mein Kind.“
„Wer sind sie?“
Die zierliche Frau, deren lange Haare im Wind wehen, dreht sich langsam und bedacht um. Als sie ihren Blick hebt, sieht Saphira ihre unbeschreiblich blauen Augen. Immer dachte sie, dass es nichts auf der Welt gäbe, das blauer war, als ihre eigenen, doch in diesem Moment, wird sie eines Besseren belehrt. Ein Flimmern ist in den Augen der unbeschreiblich schönen Frau zu sehen. Tränen sammeln sich in ihnen und ergießen sich über ihr wunderschönes Gesicht.
„Ich bin Breeze. Es ist so schön dich zu sehen, Saphira.“
„Woher kennen sie meinen Namen?“
„Sieh mich an! Erkennst du mich nicht ?“
Ein kurzer Gedanke lässt auch Saphira Tränen in die Augen schießen. Sie fühlt sich, als würde sie in einen Spiegel schauen. Sie ist das Ebenbild dieser Frau.
„Mutter?“
Breeze hebt ab und schwebt langsam auf Saphira zu, bis sie sich direkt vor ihr wieder zu Boden begibt. Sie schließt ihre Tochter in die Arme. Tränen laufen über beide Gesichter. Trotz, dass Saphira keinerlei Erinnerungen mehr an ihre Mutter hat, ist es, als würden sie sich schon ewig kennen.
„Es tut mir so leid mein Kind. Ich wollte dich nie weg geben, aber es war das einzig Richtige. Ich musste dich schützen!“
„Schützen? Vor dem, was ich wirklich bin?“
„Auch davor.“
„Warum kann ich fliegen?“
„Komm mit!“
Sie wendet sich ab und läuft Richtung Wald. Saphira folgt ihr, unwissend, was gerade geschieht. Breeze hält vor einem großen Baum. Ohne sich umzudrehen und den Blick starr auf den Boden gerichtet, beginnt sie ihre unglaubliche Geschichte zu erzählen.
„Du bist kein Mensch, Saphira.“
„Das glaube ich auch! Ich meine, ich kann fliegen?!“
„Du musst mir versprechen, dass du alles, was ich jetzt erzählen werde, für dich behältst.“
„Okay.“
„Sicher hat deine Familie dir früher oft Märchenbücher vorgelesen. Sicher handelten sie auch von Elfen und Kobolden. Was wäre, wenn ich dir sagen würde, dass solche Lebewesen wirklich existieren? Was, wenn ich dir sage, dass du eine Elfe bist. Eine Luftelfe, um genau zu sein. Du hast übermenschliche Fähigkeiten und Aufgaben, Saphira!“
„Wie? Du willst mir sagen, dass ich eine Elfe bin? Dass ich noch mehr als nur fliegen kann und dazu noch Aufgaben zu erledigen habe?“
„Ja. Du bist wie alle Elfen ein Teil unseres Stammes. Da du nun hier bist, hast du Aufgaben. Du musst dich ausbilden lassen, um eine starke Elfe zu werden.“
„Nein. Ich will das aber nicht. Ich war immer ein Mensch. Ich konnte nie fliegen! Warum jetzt?“
„Du bist jetzt zu Hause. Du bist da, wo du hin gehörst, bei deinem Stamm.“
„Nein. Ich gehöre hier nicht her. Ich will keine Luftelfe oder so sein. Ich bin einfach nur Saphira-Diamond Jones.“
Sie rennt davon. Zu viel hat sie erfahren. Breeze lässt sie gehen, denn sie weiß, dass Saphira nicht ewig vor sich selbst weglaufen kann.
Sie rennt schneller und schneller. Der Boden unter ihren Füßen schwindet und sie fliegt. Sie fliegt, als wäre es selbstverständlich. Der Wind peitscht ihr die Haare ins Gesicht und bläst ihre Tränen quer durch ihr Gesicht. Sie öffnet die Haustür und rennt in ihr Zimmer. Mittlerweile ist es sieben Uhr, doch ihre Eltern schlafen immernoch. Sie lässt sich auf ihr Bett fallen und starrt die Decke an. Sie beginnt, das erlebte zu verarbeiten. Sie steht auf und kramt den Handspiegel aus der Tasche. Wütend betrachtet sie ihr Gesicht, ihre stahlblauen Augen. Schon immer wusste sie, dass sie nicht normal ist, doch dass sie eine Elfe sein soll, kann sie nicht glauben. Mit einem lauten Klirren zerspringt der Spiegel an der Wand. Wütend, starrt sie aus dem Fenster, bis sie ihren Tränen nachgibt.