Ihr werdet Euch sicher fragen, wie zwei Menschen, die sich in keinster Weise kennen, und noch nie vorher gesehen haben, so natürlich und ungezwungen miteinander sein können.
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Es war als läge ein geheimnisvoller Zauber über Ihnen, der gebot alles Zaudern und Fragen sein zu lassen und sich allein dem kindlichen Spiel hinzugeben, welches sich aus ihren Seelen drängte.
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Sabinas einfacher Satz: „Hallo! Da bist Du ja endlich! Komm, wir wollen zusammen malen!“, wirkte auf Hannes wie ein Zauberspruch, wie die Einladung zu einem kindlichen Spiel, einer Reise in eine magische Welt, in die das Mädchen ihn begleiten wollte.
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Hannes lächelte wie im Traum, konnte nicht begreifen, dass dies alles nun Wirklichkeit sei, die er tatsächlich erlebte. Sein Herz sagte: „Ja! Ich gehe mit Dir...!“, aber er war nicht fähig auch nur ein Glied seines Körpers zu rühren.
Der am Bahnsteig empfangene Kuss bewegte sich mit einem Male mächtig in ihm, und er konnte nun die Wellen heißer, lebensfroher Energie spüren, die ununterbrochen von dem Mädchen ausgingen.
Es war ihm sofort klar, dass es nicht bei diesem einen Kuss bleiben, ja dass es mit Sicherheit überhaupt nicht beim Küssen bleiben würde. Dabei war selbst dies noch eine neue Welt für ihn.
Hatte ihn doch vorher noch nie ein Mädchen angefasst, oder sich von ihm berühren lassen. Alle seine Erlebnisse waren bisher in der Phantasie abgelaufen.
Aber dazu war nun definitiv keine Zeit mehr. Das Mädchen sah ihn stehen, lächelnd und bewegungslos, ihre langen Wimpern flatterten, zitterten wie der Leib eines kleinen, schutzlosen Kükens welches man in der hohlen Hand hältt und behutsam mit der Fingerspitze berührt.
Pinsel und Farben fielen ihr einfach aus den Händen, die Energiedruckwelle ihrer Liebe erreichte Hannes schon weit vor ihrer tanzenden, wirbelnden Gestalt und trieb ihm stumm die Tränen in die Augen. Schamvoll senkte er die Lider, doch nun wurden die Tropfen zu Rinnsalen, die Rinnsale zu Bächen, die Bäche zu einem Strom.
Sabina wehte heran, wie der leibhaftige Sommerwind und sie sang ununterbrochen, dieses Lied, dessen magische Worte er nicht verstand, trotz der vielen Jahre quälenden Französisch-Paukens.
Aber die Melodie – dieser Sturzbach quirliger Töne, der in sanft ziehendem Schmerz mitten ins Herz traf – die hatte er doch schon einmal gehört. Ach ja richtig: Der Clochard auf dem Saxophon, der Ruf aus der Unterwelt. Doch nun war das Lied ein Kind des Tageslichts, des Frühlings geworden, hatte Flügel angelegt und reine, weiße Kleider, alles Traurige und Verlorene war von ihm gewichen.
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Wieder hüllte ihr Duft und ihre magische, energiegeladene Aura ihn ein, doch dieses Mal wich er nicht zurück. Blieb einfach stehen, unfähig sich zu rühren, zu wehren, oder auf sie zu zu gehen.
Sein Mund lächelte, und seine Augen weinten. Ein zarter Regenbogen der Gefühle entstieg den Wassern seiner Seele, die nun endlich bereit waren sich zu verströmen.
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Sabina tanzte um ihn herum, umarmte ihn von hinten und drückte ihn an ihren warmen weichen Leib. Ihre dunklen, schweren Locken fielen über ihn und bargen ihn unter einer schützenden Kuppel. Sie umschlang seine Taille und drückte ihren Mund auf seinen Scheitel, küsste seine Seele. Wie ein Baby wiegte sie ihn hin und her. Dabei presste sich zuerst ihr linkes, dann ihr rechtes Bein an seine Oberschenkel und drückte sie nach vorne. Hannes verstand, ohne zu denken. Denn sein Verstand war in ein fernes Land geflohen, und beabsichtigte in nächster Zeit nicht, sich wieder blicken zu lassen. Wie ein vierbeiniges Fabelwesen, zu einem Körper verschmolzen, bewegten sie sich langsam vorwärts.
Obwohl die Reise des Fabelwesens durchs Märchenland, in von Menschen gemessener Zeit sicher nur wenige Minuten dauerte, währte sie doch in seinem Inneren, unzählige Ewigkeiten.
Viele Leben später, ließ der verwirrende Druck der Hinterbeine des Wesens nach, und es blieb – leicht schwankend, wie eine junge Birke im Frühlingswind – einfach stehen. Ohne Hannes los zulassen, glitt Sabina um ihn herum, bückte sich in der Drehung und hob geschickt den fallen gelassenen Pinsel wieder auf. Ohne Worte bedeutete sie Hannes, die Augen geschlossen zu halten, indem sie ihm sanft mit der Fingerspitze darauf tupfte. Er nickte unmerklich, zum Zeichen, dass er verstanden hatte.
Die Tränen waren nun ganz von alleine versiegt, und sein Lächeln hatte an Tiefe gewonnen.
Geduldig und doch erwartungsvoll wartete er ab, was als Nächstes kommen würde. Denn eines hatte er sofort begriffen: Bei dieser Frau – deren Namen er noch nicht einmal kannte – würde immer etwas als Nächstes kommen. Sie schien ein Wasserfall von unvorhersehbaren, genialen Einfällen zu sein, der endlos aus dem verborgenen magischen Garten ihrer Seele sprudelte.
Hannes zuckte zusammen. Etwas Weiches, Kühles kitzelte unverhofft seine Lippen. Er zog sie ein und fuhr mit den Zähnen darüber um den fast unerträglich starken Reiz zu lindern.
„Eeeh!“ Das war nicht ihr Mund gewesen, soviel war sicher. Aber auch nichts Schlimmes.
Sabina kicherte verhalten, und wartete ab, bis er nach anfänglichem Zieren seine Lippen wieder frei gab. Nun war er auf die Berührung gefasst, und konnte sich beherrschen. Sanft und zärtlich fuhr die weiche Pinselspitze die Konturen seines Mundes ab, als würde sie ihn gerade auf ein Papier malen.
Ein Mund, auf einen Mund gemalt. Ein grüner Mund - denn Sabina war dabei gewesen, die Wiesen darzustellen, als sie des Jungen gewahr wurde.
Schon lange hatte sie von ihm gewusst. Mit der allmählichen Heilung ihrer seelischen Wunden, war auch diese Kraft wieder erwacht, die ihre Mutter ihr mit aller Gewalt hatte ausreden wollen: Die Gabe des Sehens in zukünftige, oder ferne Dinge. Sie trat spontan und unkontrollierbar auf und beunruhigte Sabina inzwischen nicht mehr. War wie eine freundliche, unsichtbare Begleitung. Sabina hinterfragte nicht. Sie akzeptierte einfach, was sie sah.
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Inzwischen hatte Hannes Mund sich an die zärtliche Berührung gewöhnt und hoffte, dass diese nie enden würde. Seine Lippen hatten sich bereitwillig ein wenig geöffnet und boten sich der frech darauf tanzenden Pinselspitze dar.
Doch diese hatte nun offensichtlich genug von ihrem Spiel. Sein Mund war ja nun auch vollständig - und exakt umgrenzt - mit grüner Farbe ausgepinselt. Was kam nun als Nächstes?
Das Fabelwesen schmolz wieder in die Ursprungsform und führte sein Vorderteil vorsichtig und gezielt nach vorne. Hannes roch das Papier des großen Malblockes auf der Staffelei, noch bevor seine Lippen darauf stießen. In Erkenntnis der Absicht ihres geheimnisvollen Tuns musste er wieder lächeln. 'Bums' mit einem kleinen Schubs von hinten wurde sein Lächeln auf das Bild gestempelt. Sabina lachte fröhlich, drehte ihn herum, so dass er die Staffelei nicht sehen konnte, und drückte ihm nun den Pinsel in die Hand. „Nun Du!“, entschied sie.
Hannes öffnete die Augen, im gleichen Moment schloss Sabina die Ihren. Zum ersten Mal konnte Hannes das Mädchen in Ruhe und ohne die verwirrende Tiefe ihres Blickes betrachten.
Heiße Schauer liefen an ihm herab. Sie war so unglaublich schön, bezaubernd und geheimnisvoll.
Stundenlang hätte er sie einfach nur so betrachten können. Ungeduldig war sie aber offensichtlich auch. Sanft, aber bestimmt fasste ihre schmale, feingliedrige Hand ihn am Handgelenk und zog seine Faust und den darin befindlicher Pinsel in die Richtung ihres Gesichtes. Ihre vollen Lippen wölbten sich ein wenig nach vorn, als hätte er noch nicht begriffen, was sie von ihm wollte, und müsse es ihm geduldig, wie einem kleinen Kind erklären.
Hannes atmete tief ein und aus. Ihre leicht geöffneten Lippen nun mit der Spitze ihres Pinsels zu berühren, schien ihm weitaus sinnlicher zu sein, als alle diese Dinge, die ihm ein 'Freund' einmal in einem Groschenheftchen gezeigt hatte – damit er auch endlich Bescheid wisse, wie man mit Frauen umzugehen hatte. Ihn hatte das eher abgestoßen, und angeekelt. Und er hatte gehofft, dass nicht alle Mädchen so was von ihm wollten.
Seine Hand, der darin befindliche Pinsel, ihre Lippen, ihr Gesicht, ihr Körper – durch die hauchzarte Berührung beim Malen schienen sie miteinander verbunden und verwoben. Er konnte jede ihrer Regungen durch den Pinselstiel spüren, als sei dieser der empfindlicher Zeiger eines Seismographen.
Es war als würde er sich die Schönheit ihrer Lippen direkt in die eigene Seele malen. Unwiderruflich, unauslöschlich. Wie ein Märchenwesen sah sie aus, die Lider ihrer großen, strahlenden Augen, wie Sonnenschirmchen über diesselbigen gespannt, die langen Fransen ihrer Wimpern im leichten, warmen Wind zitternd, der sich über die hohe Mauer in den Park geschlichen hatte.
Und in der Mitte ihres weichen, ovalen Gesichtes,  der sinnliche - nun grasgrüne - Mund: Wie eine Elfe aus dem Blumenland sah sie aus.
Nun wollte er sich wohl ausdrücken, dieser Mund, oder besser auf etwas drücken, suchend streckte er sich vor und Hannes beeilte sich ihn zu seinem Ziel zu führen. Dabei fiel sein Blick zum allerersten Mal auf das Bild. Sie musste es vor ihrer Begegnung gemalt haben. Danach hatte sie ja höchstens für ein paar Pinselstriche Zeit gehabt.
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Hannes erstarrte und ein Schauer lief sein Rückgrat entlang nach unten. Er schüttelte sich leicht und riss die Augen weiter auf, als würde ihm dies eine andere Wahrnehmung bescheren. Als könne nicht Wirklichkeit sein, was er da sah:
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Auf dem Bild war der alte Park abgebildet, naturgetreu und lebendig, so wie er ihn auch wahrgenommen hatte. Die Bäume, weiten Rasenflächen, der Teich in dem die Fische schillerten, die hellen Kieswege und farbenprächtigen Blumenrabatten.
Sie konnte wirklich, wirklich gut zeichnen!
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Aber das war es nicht...
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In der Mitte dieser berückend schönen Landschaft standen – mit ebensolcher Akribie und Hingabe gemalt – er selber, Hand in Hand mit dem Mädchen, der Künstlerin.
Darunter war in schwungvollen Buchstaben geschrieben: Sabina und Prinz Joan.
Und in der Brustgegend, in Höhe des Herzens befand sich auf Sabinas gemalten Leib ein großer grüner Kussmund.
Sabinas gespitzte Lippen näherten sich inzwischen gefährlich dem Papier und Hannes, der nun Prinz Joan war, beeilte sich, sie in die richtige Richtung zu bugsieren, bevor sie unausweichlich auf den Zeichenblock auftreffen würden.
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Im Augenblick des Aufpralls öffnete sie die Augen und blickte ihn schelmisch und verführerisch aus dem Augenwinkel an. Und als sie ihren Kuss nun zart und sinnlich auf das Papier drückte, ohne den Blick auch nur eine Sekunde von ihm zu wenden, da spürte er ihren Mund auf jeder Stelle seines Körpers gleichzeitig.
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Wie von selber griffen seine Hände nach den Ihren, und zogen sie zu sich heran. In Zeitlupe begann die Welt zu fallen: Die Staffelei, von ihrer heftigen Bewegung umgestoßen, fiel zu Boden. Er fiel nach hinten um, sie fiel auf ihn drauf. Ihr Mund fiel auf den seinen, grün bedeckte grün. Die Augen fielen ihm zu und alles hemmende, Störende fiel von ihm ab hinein in die vom Frühling gesättigte Erde.
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Fortsetzung folgt...
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UteSchuster na wenn das mal nicht erotisch ist, - so früh am Morgen. Man sieht die Beiden direkt vor sich. Ganz liebe Grüße und einen wunderschönen Tag, deine Ute |