Die Verfolgungsjagd
Als Hannes seine Augen wieder öffnete, war das Mädchen fort. Er konnte nur noch in der dicht-gedrängten Menge ihr hüpfendes rotes Mützchen wahrnehmen, unter dem der schwarze Strahlenkranz wehte. Von Sekunde zu Sekunde entfernte es sich von ihm. Wurde vom undurchdringlichen Gewirr des Pariser Spinnennetzes aufgesogen.
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Er holte tief Luft und streckte seinen Körper. Gleichzeitig ließ er die Träger seines Rucksacks von den Schultern gleiten. Dieser kurze Augenblick genügte, um eine Entscheidung zu treffen.
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Sein Rucksack – und mit ihm seine ganze Habe, mehr noch: sein gesamtes bisheriges, ängstliches und kontrolliertes Leben stürzte hinter Hannes auf den Bahnsteig und blieb unbeachtet dort liegen, während dessen völlig außer Rand und Band geratener Besitzer mit einem großen Satz nach vorne spurtete und sich rücksichtslos einen Weg durch die Menge der Reisenden bahnte. Er konnte ganz weit vorne einen Blick auf die hüpfende rote Sonne erhaschen, die immer wieder zwischen den hastenden und durcheinander wirbelnden Menschenmassen auftauchte, um im nächsten Moment wieder seinen Blicken zu entschwinden.
Hannes Atem ging rasselnd, er schnaufte und keuchte, rang in einem kurzen Augenblick der Orientierung nach Atem, sah sich hektisch um. Das rote Käppchen war einem Tunnel zu getrieben, von dem mehrere schlund-artige Schächte abgingen. Welcher davon hatte es und seine kostbare Besitzerin zugleich eingesogen? Hannes entschied sich für die linke Röhre, in der eine endlose Rolltreppe hinab in die Eingeweide von Paris führte. Abgestandene Luft aus den Katakomben der Metro-stationen wurde durch den Kamineffekt in sein Gesicht geblasen und ließ ihn schaudern. Eine sehnsuchtsvolle, unendlich wehmütige Melodie wurde vom künstlichen Wind mitgetragen, erfüllte den Tunnel und ließ Wände und Herzen erzittern. Ganz weit dort drunten improvisierte ein Clochard meisterhaft auf seinem Saxophon, nutzte den Verstärkungseffekt der Röhre und des Windes um seinen musikalischen Ruf in die Oberwelt zu schicken, die ihn längst vergessen hatte.
Hannes würde ihn nie vergessen, die Magie seiner wortlosen Sprache prägte sich für immer in sein Herz, welches sich bereits begonnen hatte, unter dem aufgehauchten Kuss des fremden Mädchens zu öffnen: Das war Paris: die Sehnsucht, das Abenteuer, die Liebe. Finden und Verlieren, Licht und Schatten. Die Stimme des Lebens, welches mit unbändiger Kraft aus dunklen Mauern drängte, Freiheit und Lebenslust forderte, und auch den Tod in Kauf nahm.
Hannes folgte mit dem Blick der endlosen Reihe von Plakaten an der Tunnelwand, die einander glichen, wie ein Ei dem Anderen: Irgendeine Metal-Band stellte sich mit einem riesigen Totenkopf in einer futuristischen Rüstung dar.
Sie schienen ihn anzustarren mit ihren leeren Augenhöhlen, ihn auszulachen, ob seiner leichtsinnigen Aktion.
Noch war er sicher - das Mädchen war zwanzig Meter weiter vorne genauso wie er zwischen den dicht gedrängten Leuten eingekeilt. Er konnte ihre rote Baskenmütze von hier oben gut erkennen. Dummerweise würde sie das Tunnelende kurze Zeit vor ihm erreichen und er würde nicht sehen, wohin sie sich wendete. Was war, wenn sie in die nächste U-Bahn stieg und vor seiner Nase damit abfuhr?
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Lief sie denn wirklich vor ihm davon? Warum hatte sie ihn dann geküsst? Hannes beschloss, sein Gehirn auf Wichtigeres zu konzentrieren und die Fragerei vorläufig abzustellen. Unten sprühte der Menschen-Wasserfall der Rolltreppe auseinander und verschwand in der Öffnung der unterirdischen Bahnhofs-Grotte. Mit ihm sein rot-schwarzer Traum.
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Hannes verlor keine Zeit. Er kletterte auf das breite Geländer zwischen der hinauf- und der herab-führenden Treppe und ließ sich die letzten zehn Meter an den Leuten vorbei hinunter gleiten, sprang ab und warf einen Rundum-blick. Nichts. Drei weitere Tunnelschläuche, einer noch tiefer hinab, zwei wieder nach oben. Hannes entschied sich – entgegen der Vernunft für den mittleren Schacht. Dieser führte – wie sich herausstellte, vor den Bahnhof, direkt auf der einen Seite der Geleise. Erleichtert atmete Hannes auf, als der Metro-Moloch ihn wieder ausspuckte. Frische Luft strich an seinem empor gereckten Gesicht vorbei, und Sonnenstrahlen blendeten ihn, spielerisch glitzernd.
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Doch wo war das Mädchen? Er spähte um sich herum. Soviel Vorsprung konnte sie nicht gehabt haben. Der Vorplatz ließ sich überblicken, dort war sie nicht. Sein Blick schweifte in die weitere Umgebung. Gegenüber des breiten Bandes unzähliger Schienenstränge gab es noch einen Ausgang. Hannes konnte den Metro-Würfel an einem hohen Laternen-Pfahl erkennen, der vor dem Maul der Unterwelt aufgepflanzt war. - der zweite Tunnel nach oben – fiel es ihm wieder ein.
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Und tatsächlich, da löste sich ein roter, hüpfender Fleck aus der Menschentraube, trieb die Straße entlang und überquerte sie. Hannes konnte erkennen, dass auf der anderen Straßenseite ein großer Park begann. Wenn sie dort hin strebte, hatte er vielleicht noch eine Möglichkeit sie wieder zu finden. Doch viel Zeit hatte er nicht. Plötzlich sah er das Bild aus seinem Traum wieder vor sich, die Züge, die sich zwischen ihn und das Mädchen schoben. Nun war es Wirklichkeit...
Sollte er wieder hinab, um auf der anderen Seite … nein, das würde zu viel kostbare Zeit kosten. Aber einfach über die Geleise laufen, war zu gefährlich.
In diesem Augenblick entdeckte er einen schmalen Steig aus aneinander gelegten Eisengittern, mit einem schmalen Handlauf auf einer Seite. Eine Art Fussgänger-brücke über die Schienen, wohl ausschließlich für Reparaturarbeiten gedacht. Deshalb war das untere Ende auch mit einer Gittertür versehen, die außen herum mit langen Stacheln gespickt war.
Hannes überlegte nicht lange. Er hangelte sich an der Unterseite des Aufgangs zur Brücke nach oben, bis er an der Absperrung vorbei war. In ungefähr vier Metern Höhe, schwang er sich vor und zurück bis er sich mit dem Fuß zwischen Geländer und Treppe einhaken konnte. Dann wechselte er den Griff, drückte sich mit dem Bein hoch und schob sich unter dem Geländer durch. Ein paar Leute waren auf seine waghalsige Aktion aufmerksam geworden und blickten nach oben, gestikulierten und riefen unverständlichen Kauderwelsch. Hannes kümmerte es nicht. Wenn ihn jetzt bloß keiner erwischte, bevor er drüben war.
Aber die Flics waren viel zu langsam. Bis sie bei der Bahnhofsaufsicht den Schlüssel für die Gittertür organisiert hatten, war er längst über alle Berge. Beziehungsweise über alle Gleise.
Die lose aufgelegten Gitter klapperten, als er in luftiger Höhe über die dahin rasenden Züge sprang. Die Sonne schien ihm direkt ins Gesicht und ein nie gekanntes Gefühl von Freiheit überkam ihn. Ein Triumph ohnegleichen, als wäre er Siegfried und hätte soeben den Drachen besiegt.
Das Treppengeländer auf der anderen Seite hinunter gerutscht, sich an der Seite herab geschwungen, ein paar Meter gehangelt, Absprung, los Rennen – das alles ging in einer fließenden Bewegung vonstatten. Viel Zeit konnte er nicht verloren haben. Wenn sie in den Park gegangen war, dann war sie auch noch dort.
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Ein Hup-Konzert ertönte und Bremsen kreischten, wütende Schreie ertönten um Hannes, als dieser ohne das Grün der Ampel abzuwarten die mehrspurige Straße überquerte.
Gegenüber war der alte Park, von einer hohen Einfassungsmauer umgeben, die vollständig mit Efeu überwachsen war. Ein hohes, schmiede-eisernes Rundbogen-Tor führte dort hinein. In der verschnörkelten Schmiede-Kunst im Jugendstil waren zwei Kinder unter einem Baum zu erkennen, die sich küssten. Darum herum alle möglichen Fabelwesen: Ein Einhorn, ein Faun, eine Nymphe, ein Zentaur. Dies alles war mit geschmiedeten Efeu-Ranken eingefasst, von denen bereits an vielen Stellen die Farbe abgeblättert war. Aber gerade der Rost und die Verwitterung des Kunstwerkes machte die Tür – durch deren Gitter man bereits weite, grüne Wiesen und hohe, alte Bäume erkennen konnte – noch mystischer und geheimnisvoller.
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Hannes legte die Hand auf den aus einer Spirale gewundenen Griff der Eisentür. Er atmete tief ein. Irgendetwas in ihm sagte ihm, dass dies nicht nur eine alte Gartentür war. Nein – es war ein Tor zwischen den Welten. Wenn er hindurch schritt, würde er unwiderruflich eine neue Dimension des Daseins betreten.
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Er drückte die schwer-gängige Klinke herunter und schob das Tor einen Spalt weit auf. Das ging leichter, als er gedacht hatte und quietschte nicht einmal. Lautlos und behutsam schloss er es hinter sich und schritt den mit feinem Kies bestreuten Weg zwischen den Wiesen entlang.
Es schien ihm, als sei er nun tatsächlich in eine andere Welt eingetreten. Die hohen Mauern hielten den Lärm der Straße und der Züge ab. Auch der Gestank und das Grau blieben draußen.
Hier herrschte mildes Grün, das die Seele beruhigte, zartes Rauschen der Bäume im Wind, der heilsame Duft der bunten Blumen, die die Wegränder säumten.
Die Sonne malte leuchtende Flecken auf das Gras, und die Ruhe kam ihm unendlich vor, so dass all die Hektik, der Stress und die Anspannung der letzten halben Stunde von ihm ab fielen.
Er wusste, wusste ganz genau, er wusste es ohne Zweifel: Hier - nur hier - würde er sie finden.
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Gemächlich und ohne Hast drang er auf dem gewundenen Pfad immer tiefer in die Weiten des malerischen Parks ein. Eichen, Rubinien und Kastanien erhoben sich mächtig aus dem fließenden Grün. Verwitterte Marmor-Statuen versteckten sich hinter von wildem Wein überwucherten Mäuerchen. Kleine Brückchen schwangen sich über sanft dahin plätschernde Bächlein, die stille Teiche miteinander verbanden. Ein Springbrunnen schoss seine Fontäne jubilierend in den blauen Himmel, so dass ein kleiner Regenbogen in dem feinen Sprühnebel sichtbar wurde.
Aus dem tiefgründigen Wasser leuchteten Fische von so intensivem Orange herauf, dass man sie im ersten Augenblick für Sinnestäuschungen halten mochte.
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Hannes konnte kaum den Blick von Ihnen wenden, sie waren ihm Bild für das unglaubliche Wunder des Glücks, welches die trüben, abgründigen Tiefen des Daseins durchzieht.
Seufzend vor Zufriedenheit über diese Erkenntnis, riss er sich schlussendlich los und blinzelte in das sonnendurchstrahlte Grün.
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Und da war sie. Mit dem Rücken zu ihm stand sie weiter hinten in der Wiese vor einer Staffelei und malte. Als würde sie dies schon seit Stunden tun. In völliger ausgeglichener Ruhe, ein Liedchen vor sich hin trällernd.
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Als hätte es keinen Kuss gegeben, kein Weglaufen...
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Sie musste seinen Blick in ihrem Rücken gespürt haben.
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Graziös wendete sie das Köpfchen und ihre Haare schwangen um sie herum. Sie lachte und winkte ihm freundlich zu. Nicht überrascht, oder befremdet – nein, so als würden sie sich seit jeher kennen, und er grundsätzlich hier am Karpfenteich stehen und sie blöde anglotzen.
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„Hallo!“, rief das Mädchen freudenstrahlend. „Da bist Du ja endlich! Komm, wir wollen zusammen malen!“
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Fortsetzung folgt...
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