Kurzgeschichte
Öffnet eure Augen

Mit verschlafenen Augen machte sich Georg eine Tasse Kaffee und nahm gähnend am Küchentisch Platz. Wie schön war es, so langsam wach zu werden, während dem die andern noch schliefen. Kein Geschrei, keine Hektik, einfach nur er mit seinem Kaffee, in völliger Harmonie. Sein Kopf lag aufgestützt auf der linken Hand, mit der rechten führte er vorsichtig die heiße Tasse zum Mund. Ein Wohlgeruch drang in seine Nase und löste in ihm eine gespannte Vorfreude aus. Dann war es wieder so weit, der erste Schluck Kaffee am frühen Morgen, den er allmorgendlich richtiggehend zelebrierte – ein Hochgenuss!

Sein Blick schweifte durch die halboffene Terrassentür nach draußen. Frische Frühlingsluft drang herein, gemischt mit einem fröhlichen Pfeifkonzert. Die kleinen Freunde waren ja auch schon wach – und wie die wach waren! Hüpften, flatterten, tanzten, quietschten, pfiffen, sprangen hin und her und wippten sich vergnügt in den zartesten Zweigen des Haselnussstrauchs, in seinem Garten. 
Ihr Tun war äußerst erquickend und löste in ihm einen großen Drang nach Freiheit aus.
 
Er stellte sich eine simple Frage: „Welchen Vorteil habe ich als Mensch diesen kleinen, quirligen Gesellen gegenüber?“
Es war noch gar nicht lange her, da gingen solche Begebenheiten unbemerkt an ihm vorüber, er konnte weder Spatzen noch Blumen sehen. All das war zwar immer schon da gewesen, aber eben außer seiner Reichweite. Um ihn dafür zu öffnen, brauchte es wohl einen Reifeprozess – welcher ihn nach und nach das wahre Umfeld, in dem er lebte, erkennen ließ.
Dafür fiel es ihm jetzt aber bedeutend schwerer, die Wichtigkeit von Sitzungen, Terminen, Gesetzen, Vorschriften und Bestimmungen zu bejahen. Für ihn waren sie zu Blockaden geworden, die die Menschen immer mehr einschränken und sie im Geiste verarmen lassen.
Drei Spatzen setzten sich auf die Balustrade und schauten erwartungsvoll zu ihm herein. Er konnte ihre Blicke verstehen, ihr Piepsen war für ihn keine Fremdsprache mehr. Sie begrüßten ihn – und er ließ es zu. Na klar, sollten sie mit ihm Frühstücken! Liebevoll teilte er zwei Scheiben Brot in kleine Stücke und legte sie ihnen einladend hin. Es dauerte keine Minute, bis die Spatzen aus dem Haselnussstrauch sich auch dazu gesellten. Ihre Freude war unübersehbar – er freute sich mit.
Sein Kaffee war dabei zwar kalt geworden, aber umso mehr war Wärme in sein Herz eingetreten.

Dann fuhr er zur Arbeit, zu vielen Sitzungen und wichtigen Terminen...

Schon so oft hatte er versucht, etwas von seinem neuen Horizont an seine Mitmenschen weiterzugeben, wollte sie auch teilhaben lassen. Doch er musste gestehen, er hatte es aufgegeben – all seine Bemühungen waren gescheitert.
Ihm wurde klar: „Es gibt keinen Vorteil des Menschen den Tieren gegenüber. Trotz der zweifellos viel größeren Fähigkeiten, sind wir Menschen nicht in der Lage, diese positiv zu nutzen.“
 
Machtlos stand er Blindheit und hektischem, arrogantem Getue gegenüber – seine Werte und Erfahrungen zählten nicht!
Dies schmerzte ihn sehr und er begann an sich selber zu zweifeln. Kaum hörbar sagte er: „Öffnet doch eure Augen, ein neues Leben wird euch geschenkt.“