Romane & Erzählungen
Der Mann vorm Schloss Bellevue

Manchmal, wenn ich unterwegs bin, wenn ich Rad fahre oder jogge, und heute jogge ich tatsächlich, dann schaue ich Leute an, beobachte sie ein wenig und denke darüber nach, wer sie wohl sein mögen, diese Leute. Meine Augen suchen, und wie sie eben so suchen, finden sie schließlich immer jemanden. So wie heute: Da steht er also auf dem Rasen, dieser Mann, und bewacht das schneeweiße Schloss Bellevue. So ganz allein und verlassen steht er da, und während ich joggend vorüberziehe, schaue ich ihn an und finde es ganz putzig, wie er dort steht, als wäre er ein buntes Ampelmännchen, wie er wacht und argwöhnisch dreinblickt. Als würde er über den wunderschön gemähten Rasen wachen und über die spitz zugeschnittenen, in einer sportlich sauberen Linie aufgereihten Büsche, die ein wenig an Chinesenhütchen erinnern, so steht er da mitten auf der Wiese. Ach, so schön ist dieser Rasen, so saftig grün, so perfekt, man möchte ja fast schon eine Kuh drauf stellen. Doch das würde er wohl nicht mögen, dieser Mann, der eigentlich über das Schloss Bellevue wacht und nicht über den bildhübschen Rasen.

Was er wohl denken mag, dieser Mann, der gut und gern Heinz-Harald oder Jürgen-Eberhard heißen könnte? Vielleicht ärgert er sich darüber, dass irgendwo in diesem großen weißen Haus hinter ihm irgendein Bundespräsident mit irgendwelchen krawattierten Freunden sitzt und bei leckeren Käsehäppchen und Wein über hochtrabende Themen diskutiert, dabei jedoch nie auf diesen wunderbaren Rasen achtet. Vielleicht ärgert er sich auch schlicht und einfach darüber, dass er draußen herumstehen und ganz allein dieses seltsame Anwesen bewachen muss, auf dem dieses große Haus steht. Welcher Mensch braucht ein so großes Haus zum Arbeiten, mag er sich fragen. Und weshalb muss ausgerechnet er diesen unverschämt großen Laden bewachen, in dem doch sowieso nichts passiert, außer dass dumm glotzende Jogger wie ich und fotografierendes Touristenvolk mit großen Taschen, Sonnenbrillen und hässlichen Hüten vorbeikommen?

Bestimmt fragt sich dieser Heinz-Harald oder Jürgen-Eberhard an Tagen wie diesen, wofür er denn einen eigentlich aufregenden Beruf erlernt hat, wo er nun doch eh nur vor diesem blöden Haus mit seinem hübschen Rasen und den Chinesenhutbüschen herumstehen muss. Früher war gewiss alles ganz anders. Andere Zeiten machten ein anderes Leben aus. Da glaubte Heinz wahrscheinlich noch an eine spannende Zukunft, scbüttelte vermutlich abends in der Disco sein noch volles Haar zu Black Sabbath. Und später vielleicht sogar noch zu Metallica - denn so alt kann er nicht sein - bevor er dann Ute kennen gelernt haben mag. Oder Bettina. Oder vielleicht sogar schon eine Lena. Dann jedenfalls, hörte das sicherlich auf, das Haareschütteln, denn dann gab es zuerst große Worte während der lauschigen Spaziergänge im Park, später routinierte Fernsehabende und schließlich bodenständige Familienplanung.

So ein wenig spießbürgerlich schaut er schon drein, der Heinz, denke ich, während ich vorüberjogge. Schaut ganz verkniffen und würde wohl recht gern wieder einmal den Kopf zu Metallica schütteln. Und auch wenn das Haar inzwischen größtenteils im Abfluss weggespült wurde, hin und wieder legt er sicher noch die alten Platten auf, wenn er daheim ist. Wenn Ute nicht zu Hause ist, wenn Janine in der Schule ist. Janine, seine Tochter, denn einen Sohn hat er wahrscheinlich gar nicht, so wie er guckt, der Heinz. Dabei hätte er wohl immer gern einen Sohn gehabt, einen, mit dem er die alte Modelleisenbahn im Keller wieder flott gemacht hätte. Ach, was wäre das schön gewesen, doch so sollte es eben nicht sein, und dann kann man auch schon mal verkniffen aus der Wäsche schauen.

Aber eigentlich ist es doch ein gutes Leben, mag Heinz irgendwo hinter diesem verkniffenen Gesicht denken. Es wird schließlich pünktlich zu Abend gegessen, und montagabends raten alle bei »Wer wird Millionär?« mit. Und hören sie Musik, dann hören sie diese Amy McDonald, denn die mögen sie alle. Ja, die kann man sich gut anhören, wie sie brav auf ihrer Gitarre spielt und so schön und nicht minder brav singt. Und dann, wenn sie sich alle gemütlich Amy anhören und niemand schimpft, dann ist die Welt doch in Ordnung, und dann denkt Heinz bestimmt nur noch selten an Ozzy Ozbourne, an James Hetfield, an die eingestaubte Modelleisenbahn im Keller oder an die Aufregung, die sein Job ihm einst versprochen hatte. Ja, in diesen Momenten ist ganz sicher alles bestens.

Aber insgeheim wünscht er sie sich eben doch, diese große Aufregung. Das glaube ich seinem Blick anzusehen, auch wenn seine Augen überhaupt kein Leuchten mehr haben, diese Augen, die abwechselnd argwöhnisch auf Leute wie mich starren und dann wieder auf den schönen Rasen, diesen gut gemähten. Insgeheim wünscht er sich bestimmt, dass mal etwas passiert, etwas Spannendes, etwas, von dem er Ute erzählen würde und Janine. Und seinen Freunden, wenn die abends mal auf Sushi und Reisschnaps vorbeikommen. Ob ich also einfach mal über den Rasen rennen sollte, um für etwas Abwechslung zu sorgen?

Doch dann würde er vielleicht seine Waffe ziehen, der Heinz. Denn an so viel Aufregung ist er ganz gewiss gar nicht mehr gewöhnt, seit Ozzy nur noch ganz leise und selten singt. Und dann ist da ja noch dieser Bauch, der früher vielleicht nicht da war, den er heute aber nun einmal vor sich herträgt, den er jedoch nie zum Joggen ausführt. Und deswegen könnte er mir nicht folgen, könnte mich nicht aufhalten und müsste seine Waffe ziehen. So würde er vielleicht schießen, würde mich erschießen, würde dann verhört werden, befragt werden und sich erklären müssen. Und dann würden sie nicken und seine Beweggründe verstehen, doch sie alle würden auf seinen Bauch schauen, und so würde er seinen Job verlieren, würde immer öfter in Kneipen sitzen und laut lallend darüber schwadronieren, wie schlecht es ihm doch ergangen wäre, wie unfair man ihn behandelt hätte, denn er hätte doch alles richtig gemacht, und trotzdem wären Familie und Job einfach weg. Und sie alle würden ihn verstehen, den Heinz, würden nicken und ihm auf die Schulter klopfen, ihm Mut machen, doch auch sie würden auf seinen Bauch schauen, würden urteilen und reden, sobald er weg wäre. Oh ja, das würden sie bestimmt. Also lasse ich das, verderbe dem Heinz nicht das Leben und laufe eben nicht über den schönen Rasen.

Nein, ich laufe einfach weiter, laufe Richtung Siegessäule, laufe nach Hause und verliere ihn aus den Augen, diesen Heinz. Vielleicht sehe ich ihn auf meiner nächsten Tour wieder, vielleicht steht dann aber auch ein Bernd an seiner Stelle oder ein Knut, oder ein ganz beschwingter Philipp. Und als ich schon längst weg bin, wieder daheim, unter der Dusche stehe und den Schweiß von meiner Haut spüle, steht er wahrscheinlich noch immer auf dem Rasen vorm Schloss Bellevue, der Heinz. Steht da, auf diesem saftig grünen Rasen, auf den man am liebsten eine Kuh stellen möchte, und wünscht sich hinfort in ein anderes Leben oder erfreut sich an dem Leben, das er führt, während er einfach so herumsteht, aufpasst und an daheim denkt, an seine Familie und an Ozzy und die Eisenbahn im Keller. Wer kann das schon wissen? Ich nicht, ich kann nur mutmaßen, und das tue ich ab und an, wenn ich unterwegs bin und Leute sehe. Leute wie Heinz eben.