Braunrote Steine, von Efeu und wilden Rosen bedeckt.Die zerfallenden Türme ragen in die verblassenden Farben des Sonnenuntergangs hinein. Die Sonne sinkt erschöpft vom langen Tag, den sie beschienen hat, in die grünen Wellen des Meeres. Der Wind pfeift durch die Ruinen der Kapelle, die einst diese Klippe zierte. Doch längst ist sie verlassen, ihre Glocke schlägt nicht mehr, sie liegt verbeult und mit fremdartigen Blumen überwuchert am Boden. Ich lasse mich auf die Überreste einer der Wände der Kapelle nieder und sehe in die Ferne, die mich seit langem nicht mehr lockt. Ich habe meinen Platz gefunden, mein Zuhause, dass ich nicht mehr verlassen will. Der Seewind zerrt an meinem offenen Haar und an meinem Kleid. Ich recke ihm mein Gesicht entgegen, lausche seiner Melodie. Er ruft mich, wieder mit ihm zu ziehen, doch ich werde es nicht mehr tun, ich werde bleiben. Ich war so lange heimatlos. Er weiß das und dennoch neckt er mich, zieht mich zu sich, singt für mich. Singen. Der Grund für den ich hierher gekom-
-men bin. Ich spüre noch jeden einzelnen Schritt in meinen Füßen, der Weg war weit, aber ich bin trotzdem gelaufen. Es hätte die Stimmung dieses Abends zerstört, mich herfahren zu lassen. Ich greife neben mich, zu meiner Harfe. Ich schmiege mich an das dunkle kühle Holz, drücke es an mein Gesicht. Ich schließe die Augen. Dieses Instrument ist wie ein Freund für mich. Wir haben so viel erlebt. Zu viel? Ich streichle mit meinen Händen über die Seiten, spüre jede einzelne unter meinen Fingerkuppen. Und dann lasse ich den ersten Ton erklingen. Dunkel und sanft wie Schokolade. Zärtlich stimme ich ein in das Lied der Wellen, des Windes und des Sonnenuntergangs. Die Töne fließen wie ein Gebirgsbach. Plätschern auf die brüchigen Steine der Ruine, umhüllen mich mit einem Kokon aus Musik. Ich gebe mich ganz diesem Lied hin, werde eins mit dem Land und dem Meer, mit der Luft und dem Feuer in mir.
Denken muss ich nicht, meine Hände finden wie von selbst ihren Weg über die Saiten. Meine Stimme singt ein Lied, dass ich noch nie zuvor gehört habe. Worte, die älter als ich sind, älter als die Welt? Und doch vertehe ich sie, verstehe ihre Sehnsucht, ihre Liebe, ihre Melancholie, ihre Freude und ihre Wildheit. Es ist als ob mein Körper sich auflöst und ich nur noch bin. Einfach da bin. In dem wundervollen Klang dieses Lieses der Natur. Auf weichen Schwingen der Musik werde ich getragen.
Und bin einfach nur da.