Zeit der Dunkelheit
Die leise Stimme durchdrang die blei-schwere schwarze Finsternis in meinem Kopf.
"Weißt Du...", meinte sie sanft, "jetzt wo Du nicht mehr intakt bist, wird Dich kein Anderer mehr wollen!" Da war ein Scharren, wie wenn ein Stöckchen über den Sand gezogen würde, ein fast unhörbares Geräusch, als ob Sandkörner von einem Ast beiseite gedrückt würden.
Das Geräusch kam näher und endete als plötzlicher Schmerz, dort wo meine Wunde war.
Sabina trocknete mit dem Ende ihres T-Shirts die Tränen, die unentwegt aus Joans Augen flossen.
"Nicht weinen, mein Prinz, es ist ja alles schon lange vorbei...aber ich muss es erzählen, um es nun endgültig hinter mir zu lassen!"
Joan nickte tapfer und schluckte. Sprechen konnte er jetzt nicht.
Dafür redete Sabina wieder weiter:
"Ich denke, wir werden ein Kind haben, wir zwei, ist das nicht schön?" fuhr diese Stimme fort.
Ich nahm nun Teile meines Körpers wahr, ich lag wohl auf den Bauch, immer noch, die spitzen Sandkörner stachen in meine aufgeschürfte Haut.
Etwas roch scharf und ätzend, brannte in meinem Gesicht, meinen Augen. Mein Magen hatte sich unwillkürlich entleert.
"Wir sollten heiraten, bevor es ein Gerede gibt" vergifteten die Worte mich weiter, "du weißt ja, was sie manchmal mit solchen Frauen wie Dir machen, solchen HUREN". Er sprach das Wort betont langsam, laut und genüsslich aus, als würde er ein großes Stück Torte essen. Als wäre ich sein Besitz, sein Spielzeug. Meine Kleider warf er mir an den Kopf, dann verschwand er.
Ich versank wieder vollständig in der schützenden Nacht meiner Ohnmacht. Erinnere mich, dass ich mich ins Meer geschleppt habe. Mit Sand abgerieben, gewaschen habe, wie das Salzwasser in meiner Wunde gebrannt hat wie Feuer.
Doch er war schon zu tief in mich eingedrungen. Kein Meer dieser Welt konnte ihn noch aus mir heraus waschen.
Also zog ich meine klammen Sachen über meinen steif gefrorenen Körper und humpelte durch die fahle Mondnacht zurück.
Die Schläge meines Vaters ertrug ich diesmal ohne Klage. Ich spürte sie nicht einmal. Auch ihm schien es auf einmal keine Freude zu machen, sein heiliger Zorn über die verspätet heimgekehrte Tochter verpuffte an meiner Teilnahmslosigkeit.
Eine Woche lang, lag ich im Fieber. In meinen Träumen wiederholten sich die Szenen in endloser Folge, bis ich schließlich jedes Detail kannte. Bis das Gift endgültig den Weg in mein Inneres gefunden hatte. Bis ich mich danach sehnte, dass es wieder geschah, damit das rote Feuer die schwarze Nacht auslöschen würde.
Was wirklich geschehen war, das habe ich niemandem erzählen können. Es hätte ja sowieso Keiner geglaubt.
Nach einer Woche im Bett, stand ich wieder auf, äußerlich gesund. Jetzt war ich endlich genau das, was sich meine Eltern immer gewünscht hatten: Keine Strand-Spaziergänge mehr, kein Tauchen im Meer, kein heimliches Malen von  Bildern. Fleißig, stetig und monoton verrichtete ich jede Arbeit, die mir aufgetragen wurde. Sie konnten sich gar nicht genug über meine plötzliche Verwandlung wundern, und zum ersten Mal in meinem Leben erhielt ich Lob und Anerkennung. Nur dass dies mir nichts mehr bedeutete.
Hatte ich vorher den toten Fisch immer nur mit den Fingerspitzen anlangen wollen,so vergrub ich jetzt meine Arme bis zu den Schultern darin. In einem Meer von Fischleichen wollte ich baden, sie waren meine Gefährten. In ein Meer von toten Augen wollte ich starren, sie waren wie meine Augen.
Meine Eltern freuten sich noch mehr, als ich ihnen mitteilte, dass Marco und ich wünschten zu heiraten. Wir waren das jüngste und schönste Paar des Dorfes haben alle gesagt. Er war nun der neue Fischerkönig und ich der tote Fisch, dem er täglich den Kopf abhackte um ihn auszunehmen und zu verspeisen.
Als es ihm keinen Spaß mehr machte, einen toten Fisch zu besteigen, begann er mich zu quälen. Er schnitt mir mein langes Haar ab und flocht sich eine Peitsche daraus, mit der er mich schlug um zum Höhepunkt zu kommen. Ich weiß nicht wie oft er gedroht hat in dieser Zeit, mich zu töten. So oft, dass ich schließlich darum gebettelt habe, damit alles vorbei wäre. Das hat ihm gefallen und er hat angefangen immer wieder gestellte Mordszenen zu arrangieren, bei denen ich nicht wusste bis zuletzt, ob er es wirklich tun würde, oder nicht. Die Leute redeten wieder über mich - nie über ihn - nun hieß es plötzlich, ich sei wahnsinnig, nicht ganz richtig im Kopf, weil ich oft laut Selbstgespräche führte und seltsame Dinge tat.
Mein Kind - oder sein Kind -"
Sabina stockte und er spürte, wie sie ein eiskalter Schauer durchlief. Joan packte fest ihre Hände und sah ihr in die Augen.
Sie holte tief Atem, richtete sich auf, schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht - dann sprach sie weiter. So leise, dass Joan es kaum verstehen konnte.
"Ich habe es bei den Felsen begraben, dort wohin das Meer erst in ein paar hundert Jahren kommt!"
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Evelyne erzählt
Anna öffnete alle Fenster im Haus um die Sonne und die frische Luft hinein zu lassen, und schrubbte die Fußböden, bis sie glänzten.
Es war dieser wunderschöne Frühlingstag des Jahres 1943.
Etwas lag in der Luft, etwas Besonderes, Einzigartiges, sie konnte nur noch nicht sehen, ob es gut oder schlecht war - vielleicht hatte sich das Schicksal noch nicht entschieden.
Anna hatte das zweite Gesicht, wie vordem ihre Großmutter und deren Großmutter. Sie nahm ihre Fähigkeit zur Kenntnis, hatte damals aber noch nicht damit begonnen, sie zu verfeinern und auszubilden. Dennoch wusste sie, dass sie sich auf ihr Gespür verlassen konnte.
Irgendetwas würde heute geschehen, etwas was die Dinge grundlegend verändern würde, ihnen eine neue Richtung geben, sie neu formen würde.
Die Struktur des Raumes knisterte und ächzte. Die feinen Fäden aus denen das Universum gesponnen war, fingen an zu summen und zu schwingen, wie Telegrafen-Drähte in einem Sturm. Anna setzte sich hin, öffnete ihre inneren Ohren, so weit es ihr möglich war, doch sie konnte heute dem feinen Wispern keine Botschaft entnehmen. Allein das Surren wurde immer stärker, steigerte sich zum Brummen - wie ein Flugzeugmotor - schließlich ohrenbetäubend laut. Anna sank vor dem Marienbild in die Knie und betete: "Mutter Maria, beschütze uns!"
Mit einem Schlag war die Erscheinung vorüber. Die Luft flimmerte noch etwas, wie nach einer starken Erschütterung der Erde - dann war alles ruhig wie vorher.
Am ganzen Körper mit kaltem Schweiß bedeckt, erhob sich Anna.
"Wo sind meine Kinder?", flüsterte sie.
Fortsetzung folgt...
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