Die Augen
"Ich bin in der Normandie, in einem kleinen Fischerdorf an der Atlantikküste geboren worden", begann Sabina stockend zu erzählen, während sie Joan zärtlich mit den Fingern durch sein feines Haar fuhr.
Der junge Mann hatte sich nach ihrer Meditation des Sonnenuntergangs im alten Obstgarten, in Sabinas Schoß gekuschelt und hörte nun aufmerksam zu. Es war ja auch schliesslich das erste Mal, dass er etwas von ihrer Vergangenheit erfuhr. Bisher war sie dem Thema ausgewichen und hatte ein grosses Geheimnis darum gemacht. Joan ahnte, dass darin ein grosser Schmerz begraben war, so dass sie erst langsam das Vertrauen gewinnen konnte, diesen mit ihm zu teilen.
"Mein Leben schien von Anfang an vorausbestimmt und vorhersehbar. Der Sohn des mächtigsten Mannes im Dorf - des Leiters der Fang-Flotte - hatte sich schon früh in mich verliebt und umwarb mich ständig. Ich selber hatte zu der Zeit noch gar kein Interesse an Jungs und seine Zudringlichkeit war mir unangenehm und machte mir Angst.
Am liebsten war ich damals schon alleine in der Natur unterwegs, mied grosse Menschenansammlungen. Der Lärm und Gestank auf dem Fischmarkt in der Stadt, wo ich für meine Eltern regelmässig am Stand verkaufte, war mir deshalb verhasst. Die hohen Steilhänge und  die endlosen Strände, die Hügel voller Riedgras und auch einige versteckte Höhlen in den zerklüfteten Felsen, waren mein eigentliches Zuhause.
Wann immer ich mich den ungeliebten Pflichten von Schulaufgaben und der Mithilfe bei der Arbeit meiner Eltern entziehen konnte (darin entwickelte ich mit der Zeit ein unglaubliches Geschick) stromerte ich in den einsamen Weiten der Küstenlandschaft herum, oder schwamm im Meer. Schwimmen und Tauchen war meine zweite Leidenschaft, ich konnte bald bis drei Minuten den Atem anhalten.
Mein damals hüftlanges schwarzes Haar ist umwehte mich wie Seetang , wenn ich mich in der blauen Tiefe zwischen den silbernen Leibern der Fische treiben liess. Manchmal berührte ich sie leicht mit der Spitze meines Zeigefingers, dann schwebten sie unbeweglich auf der Stelle und liessen sich streicheln wie eine Katze. Fehlte nur das Schnurren. Im Wasser war es so still. Die Stille war meine eigentliche Heimat. Denn sie öffnete meine Sinne für die Farben. Ja, meine Liebe zu den Farben, die habe ich tief unten im ewigen Blau entdeckt. In der Stille des Ozeans, die vollkommen war. Dort hat sich meine Seele auf eine Art geöffnet, wie es auf dem Land niemals möglich ist.
Meine ersten Zeichnungen entstanden dann, indem ich mit einem Stück Treibholz in den Sand ritzte. Noch bevor ich meine Werke vollendet hatte, begann das Meer sie zu zerfressen. Sie waren aus ihn gekommen und das Meer forderte sie zurück.
Niemals hätte ich meinen Eltern, oder den Leuten im Dorf zeigen dürfen, was ich da tat.
Einer wusste es trotzdem: der, dessen Namen ich nicht mehr nenne. Der Junge des Fischerkönigs. Für Dich will ich ihn einfach Marco taufen, so hiess er aber nicht."
Sabina schwieg eine Weile und ihre schlanken Finger schlangen sich in Joans Hände, malten verträumt geheime Zeichen auf ihre Innenflächen, bevor sie mit veränderter - etwas tieferer, heiserer - Stimme fortfuhr:Â
"Marco musste mich schon lange verfolgt und mir nachspioniert haben, wenn ich alleine zu meinen ausgedehnten Wanderungen unterwegs war. Er musste gesehen haben, wie ich mich ohne Kleider in die Wellen warf, und danach auf den Strand legte und mich von den Wellen umspülen liess, so dass sie meinem nackten, braungebrannten Körper zärtlich ein Bett gruben.
Und er hatte auch entdeckt, dass ich malte.
Eines Tages fand ich meine Kleider nicht mehr, als ich von einem Tauchgang zum Strand zurückkehrte. Ich wusste genau die Stelle, wo ich sie abgelegt hatte, und auch, dass kein Mensch hier in dieser einsamen Bucht zugegen war. Es sei denn er hätte es darauf angelegt und war mir nachgeschlichen. Meine Hände wanderten automatisch über die Blössen meines Körpers. Suchend kniff ich die Augen zu Schlitzen zusammen und spähte in Richtung der aufragenden Felswände.
Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich zu verstecken. Mit gierig aufgerissenen Augen starrte mich der Junge dort an.
Erschrocken schrie ich leise auf, machte mich zum Sprung bereit, um mich wieder ins Meer zurück zu stürzen.
Doch dann fiel mir ein, dass das kein Ausweg war. Ohne Kleider konnte ich wohl schlecht ins Dorf zurückkehren.
Ich erkannte ihn sofort, als er mit lässigen Bewegungen aus dem Schatten der Felswände trat: Es war Marco, der attraktivste und begehrteste Junge im Dorf. Ich wusste, dass er mich wollte, und auch meine Eltern stimmten einer Verbindung zwischen uns zu, die ihnen einen bedeutenden sozialen Aufstieg ermöglichen würden.
Doch ich mochte ihn nicht. Es war etwas im Blick seiner tiefschwarzen, grossen, weit auseinander stehenden Augen, das mich Schaudern liess. Ein Abgrund von unermesslicher Tiefe, in den ich fiel und aufgesogen wurde, wenn mein Blick ihn traf.
Ich hatte es immer gemieden ihn anzusehen, aber manchmal - zum Beispiel auf dem Fischmarkt - spürte ich, wie sich Blicke in meinen Rücken bohrten, spürte sie auf meinen Hüften und zwischen meinen Beinen. Wenn ich mich dann panisch umsah, stand er da und starrte mit diesen unheimlichen Augen, und ich konnte mich nicht mehr bewegen - hatte das Gefühl, meine Lebenskraft floss aus mir heraus in ihn hinein, ich wurde so leblos, glitschig und stinkend, wie der Fisch den ich gehalten hatte und der mir nun aus der Hand fiel. Immer wollte ich wegsehen, doch es gelang mir nicht.
Wie ein Gespenst verschwand er dann plötzlich, wenn meine Mutter auftauchte, und ich erhielt meist eine schallende Ohrfeige für den fallengelassenen Fisch, der nun verdorben war. "Träumerin!" wurde ich gescholten, "aus Dir wird nie etwas rechtes!" Wir können froh sein, wenn wir dich so bald wie möglich unter die Haube bringen, zum Arbeiten taugst Du ja nicht. Aber alle Jungen im Dorf sehen Dir schon hinterher. Aber Du bemerkst es ja nicht! Sogar der Marco, jeder sagt es, der hat einen Narren an Dir gefressen. Könntest ihm wenigstens mal ein nettes Wort sagen!"
Mir drehte es den Magen um und meine Knie wurden weich. Ich erbrach mich hinter den Stand und bekam noch mehr Schläge.
Das also hatten meine Eltern für mich geplant! Und ich wusste, dass sie sich niemals von einem erst einmal eingeschlagenen Kurs abbringen liessen.
Vorläufig floh ich vor der Realität in die wilde Natur der Felsenküste.
Doch nun hatte der Jäger sein Wild gestellt. Und dieses Wild war ich. Zitternd versuchte ich mich mit meinem langen Haarvorhang vor seinen Augen zu schützen, die meinen Körper zu durchdringen schienen bis ins Mark.
"Gibbb... mirrr... meine ...Klklkleiderr ...zurückkk!", schnatterte ich zitternd vor Kälte.
Marco schlenderte ohne Hast heran, die Hände in den Hosentaschen. Wieder verliessen mich alle Kräfte, ich drohte auf den Boden zu sinken, riss mich aber zusammen, da ich nicht vor ihm auf die Knie fallen wollte.
"Kleider gegen Kuss!", grinste er "ist doch ein fairer Handel!" Die hohen Felswände schwankten, schienen auf mich herabfallen, mich verschlingen zu wollen. "Gibb...", versuchte ich es noch einmal, doch meiner heiseren Kehle entrang sich nur ein Röcheln. Meine Zähne schlugen schmerzhaft aufeinander. Ich hatte es in seinen Augen gelesen, was er wollte: und das war kein Kuss!
Und ich wusste, er würde es sich nehmen. Nichts und niemand auf der Welt konnte ihn jetzt noch daran hindern.
Die Felswände stürzten auf mich herab, begruben mich unter sich, pressten mein Gesicht in den Sand. Die scharfen Körner und die kantigen Muschelsplitter schürften meine Haut auf, als ich auf ihnen vor und zurückgeschoben wurde, wie eine Zwiebel auf dem Reibebrett. Schwarze Dunkelheit über meiner Seele. Rotes Feuer des Schmerzes zwischen meinen Beinen. Schwarze Augen, die meinen Körper frassen, lebendig verspeisten. Rotes Blut, das im Sand versickerte.
Durch die Dunkelheit in meinem Kopf hämmerte ein Geräusch in mein Bewusstsein. Ein Rhythmus, ja daran erinnere ich mich noch.
Dieses dumpfe Klatschen, von einem unheimlichen Stöhnen begleitet, einem rasselndem Atem, wie von einem Gespenst aus einer Gruft. Ich hatte etwas derartiges noch nie gehört. Später erfuhr ich natürlich, worum es sich gehandelt hatte.
Ein animalischer Schrei, raubte mir das Bewusstsein, wie ein toter Fisch blieb ich am Boden liegen, von der Brandung angespült, stinkend, verwesend, zersetzt.
Als ich wieder zu mir kam hörte ich eine leise eindringliche Stimme aus der Ferne. Diese Stimme, die so ruhig und sanft war, und doch keinen Widerspruch duldete. Diese Stimme, der ich von nun an gehorchen würde.
Marcos Stimme.
Fortsetzung folgt...