Das Mädchen mit den langen schwarzen Haaren und den ebenfalls dunklen Augen lies betrübt ihr Buch sinken. Sie seufzte. Heute war ihr erster Tag in der neuen Schule gewesen. Es war der reinste Horror. Die ganze Klasse hatte sich in Cliquen eingeteilt, die sich von allem und jedem abgrenzten. Wie sollte man in so einer Klasse neue Freunde finden? Und jetzt stand auch noch eine Klassenfahrt in irgendwelche Berge bevor. Sie war schon vor mehreren Monaten geplant worden. Die Lehrerin meinte, dass das eine gute Gelegenheit zum Einleben wäre. Aber wie sollte sie, eine kleine unbedeutende Spanierin, zu einer der vielen Gruppen Anschluss finden? Es war ja nicht so, dass sie in der Klasse alle ausländerfeindlich gewesen wären, das nicht, nur eben die Cliquen, die waren ein Problem. In einer waren sie alle extrem modebewusst, in einer anderen totale Streber und in einer dritten waren alle Sportskanonen versammelt. Das Mädchen, Elena, sie war weder ein Streber noch eine Sportskanone und an ihren ersten Tag war sie nicht mit Röhrenjeans und Chucks in die Schule gekommen. Also passte sie in keine der Gruppen. Aber wie sollte sie auch wissen was hier in Deutschland Mode war, wenn sie aus dem spanischen Teil der Pyrenäen kam, wo sie immer in ihren alten Leinensachen herumlief? Hier im kalten nassen Deutschland, das ihrem Dorf in Spanien so gar nicht ähnelte. Hier war sogar der Sommer nicht richtig warm, sondern eher lau. Und feucht war er auch. Sie wollte erst gar nicht wissen, wie es hier im Winter aussah. Sie hatte einmal gehört, dass es schneien sollte; weiße Flocken. In ihrem Heimatdorf hatte es auch im Winter nie geschneit, aber in Barcelona sollte es geschneit haben. Doch selbst Barcelona oder Madrid hatte sie noch nie gesehen, oder einen der vielen Strände an der Küste. Und das war genau das was ihre neuen Klassenkameraden unter Spanien verstanden: Sonne, Strand und shoppen bis zum umfallen. Und das konnte man am besten in einer Metropole wie Barcelona. Als sich dann herausstellte, dass sie Barcelona auch nie nur von weitem gesehen hatte, verloren sie alle das Interesse an ihr.
Und übermorgen sollte bestimmt werden, wer auf der Klassenfahrt in einem Zimmer schlafen würde.
"Das wird lustig", dachte Elena, "was wohl die Lehrerin macht, wenn sie merkt, dass niemand mich haben will?"
Trotz ihrer miesen Laune musste sie lachen, dass würde etwas geben. Wo die Frau Lehrerin doch so für die Integration von Ausländern war. Sie nannte es Ausländer-Integrations-Programm, kurz AIP. Für die Schüler hieß es einfach: Außer-Irdische-Pappnasen, und gehörte zu ihrem Programm Neue, die in keine Clique gehörten, fertig zu machen. Nun, jetzt wo sie ein AIP war, konnte es ja nicht noch schlimmer kommen. Sie musste es eben mit Fassung tragen und warten, bis andere neue AIPs kamen, mit denen sie sich anfreunden konnte.
Elena fuhr so schnell sie konnte, sie fuhr so schnell, als ginge es um ihr Leben. Der Wind trieb ihr schon die Tränen in die Augen, als sie endlich bei ihrer Wohnung ankam. Sie sprang von ihrem Fahrrad und flitzte das Treppenhaus bis ganz nach oben hoch. Oben hämmerte sie mit beiden Fäusten an die Tür, bis ihre Mutter endlich den Kopf heraus streckte und den Finger an die Lippen legte. Ach ja, hier durfte man ja nicht rennen, damit der alte Herr ein Stockwerk tiefer keinen Herzstillstand bekam, und auch nicht mit den Fäusten an die Tür klopfen, damit das Baby im Erdgeschoss nicht geweckt wurde. Aber bei solchen Neuigkeiten war das einfach erlaubt. Man stelle sich vor, ein paar Mädchen wollten sie doch wirklich mit in ihr Zimmer nehmen! Ganz freiwillig! Hanna, Loretta und Erika waren in der großen Pause zu ihr gekommen und hatten sie ganz ernsthaft gefragt, ob sie sich zusammen für ein Zimmer eintragen lassen sollten. Elena konnte es immer noch nicht fassen. Aber einen Knüller hatte sie noch.
"Mama, rate doch mal wo unsere Klassenfahrt hingeht"
"Hm, durch meine übersinnlichen Fähigkeiten habe ich herausgefunden", sie machte eine Pause, "dass eure Klassenfahrt nach Spanien geht. Um genau zu sein, sie wird in ein Tal führen, wo es grüne Wiesen gibt, trockene endlose Steppen, kleine Häuser, freundlich Menschen und jede Menge Spaß"
"Oh, man! Warum weißt du immer alles vorher?"
"El, rate doch mal wo mein Geld hingekommen ist."
"Mann! Darauf hätte ich von selber denken können! Du musstest das Zeug ja bezahlen. Aber", sagte sie nachdenklich indem sie sich auf den Küchentisch setzte", wenn es zu teuer…"
"Hör mal Elena, wir sind doch keine bettelarmen Bürger, die in Slums vor der Stadt leben. Ein bisschen Luxus können wir uns doch schon mal leisten." Sie zwinkerte. Für ein fünfzehnjähriges Mädchen wirkte Elena sehr kindisch. Wie ein kleines Mädchen von zehn elf Jahren, aber das lag wohl an der Erziehung. Die Frau in der Küche seufzte. Sie hätte Elena nicht so viel Freiraum lassen dürfen, als sie noch in Spanien lebten. Aber was hatte sie machen sollen? Dort lebten alle Kinder wie ein Wind, der kam und ging wann immer er wollte und spontan über die Nacht bei Freunden blieb. Dann wurde es den Eltern überlassen sich gegenseitig über den Verbleib ihrer Sprösslinge zu informieren. Dieses Leben würde Elena vermissen. Vor allem ihre Freunde, die gab es nicht so schnell wieder. Auch ihren ganz speziellen Freund, die Touristenattraktion im Dorf, ein Riese von einem Adler, den würde Elena mit der Zeit noch mehr vermissen, als sie es ohnehin nicht schon tat. Ob es wohl gut war, so früh nach dem Abschied von dort, eine Reise in ebendieses Land zu unternehmen? Ob das Elenas Heimweh nicht nur noch verstärken würde? Wenn sie hier doch nur bald Freunde finden würde! Dann wäre Vieles viel einfacher.
" Es wird noch eine schwere Zeit werden für mein Mädchen. Aber was soll's, sie wird’s schon schaffen." Elenas Muter suchte ihren Einkaufszettel und verschwand durch die Hintertür.
"Nun denn, lasst uns mit der Aufteilung der Zimmer beginnen. Wie ich schon sagte, es wird vierer und sechser Zimmer geben. Für unseren Aufenthalt habe ich drei vierer und zwei sechser Zimmer bekommen, es wird also eine fünfer Gruppe geben. Haben sich schon Gruppen zusammengefunden?" Vom einen Augenblick zum anderen herrschte im Klassenzimmer Verwirrung und Unruhe. Hinter sich hörte Elena die Zicken der Klasse tuscheln:
"Was keine Siebenerzimmer? Das passt doch alles gar nicht. Wie sollen wir das machen?" Meinte Mareike, sie war die Handlangerin von Janina, der Oberzicke. Mareike tat stets alles um Janina zu gefallen. War Janina gegen irgendetwas oder -jemand, so war Mareike die Erste, die ihrer Meinung war. Doch seit Janina in Phillip verknallt war, war sie mit ihren Schmeicheleien in Bezug auf Phillip des Öfteren ins Fettnäpfchen getreten. So viel hatte Elena schon von Hanna und Loretta gesteckt bekommen und deshalb hörte sie dem Gespräch auch mit Interesse zu. Gerade meinte Janina, dass sie wohl eine vierer und eine dreier Gruppe bilden müssten, als vom anderen Ende des Klassenraumes eine Schimpftriade herüberflog:
"Du dumme Kuh! Sag doch gleich, dass du nicht mehr mit mir befreunde sein willst. Du fandest Natascha ja eh schon immer viel cooler, also geh doch zu ihr! Ich finde auch schon noch jemanden!" Schrie Emily, sie war Franziskas beste Freundin gewesen. Bis Natascha kam. Und jetzt hingen die Beiden die meiste Zeit alleine ab.
"Du kannst doch zu Janina und Mareike gehen, die brauchen auch noch jemanden," meinte Natascha, " oder tu dich doch mit der Neuen zusammen, die hat bestimmt auch noch niemanden gefunden. Dann seit ihr ein prima Team: Zwei Loser zum…"
"Hey, jetzt halt aber mal die Luft an! Erstens hat Elena schon seit gestern jemanden gefunden und zweitens ein Loser ist sie auch nicht!" Hanna stemmte die Hände in die Hüften und starrte Natascha uns Franziska böse an.
"Ach, haben sich die Loser vermehrt? Ich dachte eigentlich", Elena und Hanna wirbelten herum, als Janina zu sprechen begann, "dass drei in einer Klasse Strafe genug sind!" Mareike lachte.
"Ruhe! Seid endlich still! Wenn ihr euch weiter um die Zimmerverteilung streitet, losen wir! Also schon irgendwelche Gruppen?" Frau Lampe hob die Hände um ihrer Aufforderung mehr Geltung zu verleihen.
"Ich glaube Frau Lampe hat keinen Schimmer was Loser heißt, oder?" Flüsterte Elena Hanna zu, die sich kurz zu ihr umdrehte und eine Grimasse schnitt, bevor sie den Finger hob, um sich für einen Viererraum einzutragen.
"Frau Lampe? Erika, Loretta, Elena und ich möchten gerne zusammen in ein Zimmer. Geht das?"
"Ach Elena, es freut mich, dass du so schnell Anschluss gefunden hast!" Meinte Frau Lampe überrascht. "Aber sicher, ihr werdet zusammen in ein Zimmer gesteckt!"
Hanna grinste: "Man sieht ihr auf drei km Entfernung an, dass sie stolz auf AIP ist. Mann, wir passen echt gut in ihr Programm. Solche Schüler braucht sie: offen, gutherzig, naiv und am besten sehr mitteilsam. Dann klappt ihr Projekt und sie kommt gut beim Beutel an; das ist der Rektor. Wenn wir weiter so machen werden wir die Oberschleimer! Ihh!"
"Hat jemand Oberschleimer gesagt?" Mischte sich Loretta ein, "Ihr habt Recht Natascha und Franziska gehen mir auch voll auf die Nerven!"
Elena kicherte. Mit Hanna, Loretta und Erika wird es bestimmt nie langweilig. Jetzt freute sie sich auf die Klassenfahrt. Sie fuhr nach Hause! In ihr Land, in ihre Berge, in ihr Dorf, zu ihren alten Freunden und vor allem zu Chaco. "Ob er mich wohl noch erkennt? Was tue ich, wenn er mich nicht mehr kennt?" Panik ergriff sie, "Was wenn er mich einfach ignoriert, oder, noch schlimmer, wenn er mich wie einen der vielen Touristen behandelt denen er nur ein paar arrogante Blicke zuwirft, über die ich heimlich immer gelacht habe?"
"Oh nein! Alles nur das nicht!" Stöhnte Erika eine Reihe vor ihr, " womit haben wir das verdient?"
"Echt! Das ist einfach nicht fair. Frau Lampe, warum müssen wir denn unbedingt mit Natascha und Franziska in ein Zimmer teilen?"
Elena schaute auf. Was ein Sechserzimmer? Mit Natascha? Das konnte doch nicht war sein! Ausgerechnet die Beiden! Wie konnte das passiert sein? Hätte sie doch nur aufgepasst!
"Hanna!" Flüsterte sie, "Hanna was ist passiert? Ich hab nicht aufgepasst."
"Das merkt man. Frau Lampe hat den Rest der Mädchen aufgeteilt. Sie konnten sich nicht einigen und weil wir zu viert waren passen wir mit Franzi und Tascha genau in ein Sechserzimmer."
"Wären wir doch nur drei gewesen, " jammerte Erika, "dann wäre das nicht passiert." Hanna runzelte unwillig die Stirn, hatte Erika angedeutet dass sie Elena nicht in ihrer Gruppe haben wollte? Aber sie hatten doch abgestimmt, bevor sie Elena gefragt hatten, ob sie sich ihnen anschließen wollte. Und das Ergebnis war einstimmig entschieden worden. Demokratie vor! Hoffentlich hatte Elena das nicht mitbekommen. Nein, es sah nicht so aus. Sie guckte verwirrt zu Tascha und Franzi.
"Mensch Erika! Was sollte das denn jetzt?"
"Hey, reg dich ab!"
"Wozu musstest du das denn jetzt sagen?"
"Es stimmt doch! Wären wir zu dritt hätte Frau Lampe uns nicht in ein Sechserzimmer gesteckt!"
"Dann wären wir mit Anette in einem Viererzimmer. Also, ich finde das wäre genauso schlimm!"
"Ja, aber es ist nicht sicher, ob sie uns mit ihr zusammengetan hätte. Wir hätten auch eine Dreiergruppe bilden können."
"Sag mal hast du etwas gegen Elena?" Hanna krauste die Stirn, das fehlte auch noch; ein Streit so kurz vor der Klassenfahrt!
"Nein! Es geht nicht gegen El…"
"Gegen wen dann…?"
"Du bist unfair Hanna. Es war doch nur so gesagt."
"Hmm" Erika machte einen so kläglichen Eindruck, dass sie nachgab. Wahrscheinlich war es ihr wirklich nur so rausgerutscht. Und ein bisschen Recht hatte sie ja, aber es war tausendmal besser mit Elena und den beiden Anhängseln, als ohne Elena und mit Anette. Elena war, wenn man sie näher kannte, viel offener, lustiger und aufrichtiger als sie selber glaubte. Und Hanna würde Elena nicht für alle Freunde der Welt hergeben. Das wusste sie nur noch nicht. Aber ihr fiel es im Traum nicht ein deshalb Loretta oder Erika fallen zu lassen oder sie zu vernachlässigen. Sie verstand nur nicht, warum Elena nicht aus sich herauskam. Sie könnte das mit Abstand beliebteste Mädchen der Klasse werden. Sie sah sich Elena genauer an. Sie war ein mittelgroßes Mädchen, mit schwarzen langen Haaren und gebräunter Haut. Â
"Ich glaube Elena ist das hübscheste Mädchen in der Klasse." Flüsterte Hanna. Erika, die es gehört hatte staunte. Damit stellte sich Hanna öffentlich gegen Janina, die bisher als die Schönste gegolten hatte. Doch dann sah sie was ihre Freundin meinte; ihre ganze Haltung und ihre Gebärden, die sie benutzte während sie mit Loretta sprach, dass alles hatte etwas, ja, besonderes.
"Wow! Das du auf so etwas achtest! Sonst interessiert dich doch nur der Charakter. Sie wird es Janina schwer machen bei Phillip zu landen. Das wird noch einen riesen Zoff geben. Hundert pro!" Hanna zuckte zusammen, sie hatte bisher noch niemandem gesagt, dass ihr heimlicher Schwarm Phillip hieß und Erikas Bemerkung verletzte sie mehr als sie zugeben wollte. Sie blickte zu Phillip auf der anderen Seite des Klassenraumes. Dort hatte er sich mit seinen Zimmergenossen zusammengetan um zu besprechen wer welche Sachen mitbringen musste. Hanna wusste, dass Lukas und Tom Süßes würden mitbringen müssen, ihr Zwillingsbruder Tim würde Trinken wählen und dann blieb für Phillip nur noch die Musik übrig. Von der Musik hatten alle am meisten. Meistens brachte er eine ganze Tasche mit CDs mit; für jeden war etwas dabei. Er wusste immer wer welche Musik hörte und was gerade angesagt war; kein Wunder, denn sein Vater hatte einen eigenen Plattenladen. Das trug schon erheblich dazu bei, dass er einer der beliebtesten Jungen der Schule war. Und dazu sah er auch noch verdammt gut aus! Und sie hatte auch noch mehrmals in der Woche die Chance in Nachmittags zu sehen, aber wie sollte sie ihn ansprechen, wenn ihr arroganter Bruder immer dabei war?
"Kann sein. Glaubst du, dass er in Janina ist?"
"Ich weiß nicht. Oh no! Guck mal, Hanna! Die Leuchte hat nen dicken Stapel Papiere. Wir sollen doch nicht etwa Referate machen?"
Hanna drehte sich um, tatsächlich Frau Lampe war mit einem dicken Stapel Papiere ins Klassenzimmer gekommen. Sie befürchtete das Schlimmste, Referate mochte sie gar nicht. Erst recht nicht, wenn man sie alleine vortragen musste; man kam fürchterlich ins Schwitzen und bekam kaum ein Wort heraus.
"Ruhe! Setzt euch auf eure Plätze! Ruhe! Seid leise!"
Es entstand ein leichter Tumult, als die Schüler ihre Plätze aufsuchten, dann schauten alle erwartungsvoll nach vorne. Frau Lampe lächelte, als sie die erwartungsvollen Blicke der Schüler sah, dann drehte sie sich um und schrieb einige begriffe an die Tafel. Dann drehte sie sich wieder um und schaute in empörte Gesichter. Sie lächelte.
"Wie ihr wisst haben die Lehrer für Klassenfahrten immer einen Trumpf im Ärmel. Diejenigen, die ihre Noten verbessern wollen, können sich eines von diesen Themen aussuchen. Elena, kannst du sie bitte vorlesen? Ich glaube du kannst die Spanischen Wörter am besten aussprechen. Da wo nur ein spanisches Wort steht kannst du uns ja die Bedeutung verraten. Und andersherum."
" Spanien, Espania. Barcelona, Madrid. La Naturaleza, Natur. Leute, la gente…."
Gelangweilt las sie die Liste bis zum Ende vor, nur bei einem Wort musste sie schlucken und überlas es. Chaco. Warum hatte die Lehrerin Chaco an die Tafel geschrieben? Chaco gehörte ihr, wieso sollten Referate über ihn gehalten werden?
"Danke Elena. Du hast ein Wort übersehen. Chaco. Weiß jemand was das bedeuten könnte?"
Elena schluckte, dann konzentrierte sie sich. Man konnte sich solchen Problemen doch als naives Mädchen entgegenstellen. Also los!
"Elena."
"Tschako, ein Polizeihelm."
"Das wäre richtig, aber in diesem Fall ist es ein Eigenname. Der Name eines Adlers. Er ist die dortige Touristenattraktion. Allerdings flieg er nur noch selten, irgendetwas scheint ihm zu missfallen oder ihn zu verwirren. Ich habe mich erkundigt, weil ich eigentlich Plätze in seiner Show buchen wollte, aber auch diese findet nicht mehr statt. Er ist eine Berühmtheit, weil er eine sehr enorme Größe erreicht hat. Er zählt zu den größten Adlern der Welt. Außerdem hat er einmal einem Kind das Leben gerettet, als es in eine Schlucht stürzte. Überall im Radio und Fernsehen wurde darüber berichtet. Habt ihr es nicht mitgekriegt? Seitdem ist das Dorf ein Touristenmagnet. So und nun habt ihr mich dazu gebracht eines der Referate selber zu halten. Glück gehabt." Frau Lampe grinste. Bei ihren Schülern war sie wegen ihrer offenen Art beliebt. Sie war eine von den jungen Lehrerinnen, die gleichzeitig streng und gutmütig sein konnten und obendrein ein gutes Urteilsvermögen besaßen. Janina meldete sich für das Thema Menschen und Maurice meldete sich um sein Interesse für die spanische Natur zu bekunden.
"Typisch Janina, " murmelte Loretta Elena zu, "die schleimt sich überall da ein, wo noch ein bisschen Schleim hinpasst." Elena lachte.
"Ihh, dass wird dann aber glitschig. Sag mal hat Natascha das mit den Losern ernst gemeint?"
"Ich glaube nicht, " meinte Loretta, sie wirkte allerdings nicht sehr überzeugt, "aber du darfst sie sowieso nie ganz erst nehmen. Es gibt viele in dieser Klasse die übertreiben, sie gehört dazu. Du kannst auch einfach Tascha zu ihr sagen; das ist kürzer und sie hört darauf."
"Das finde ich klasse! Wenn hier jeder einen Spitznamen hat, dann könnt ihr mich El nennen, so wurde ich in Spanien auch immer genannt. Auch wenn das da ein Artikel ist."
"Cool. Hier klingt es wie der Buchstabe L. Hast du Lust am Samstag mit in die Stadt zu kommen? Hanna, Erika und ich müssen noch Sachen für die Klassenfahrt kaufen. Und nachher wollen wir noch ins Cafe. Wäre cool wenn du mitkommst."
"Aber sicher", strahlte El, "ich freu mich jetzt schon. Ich war bisher nur einmal weg. Im Kino. Ganz am Anfang und da hab ich noch nicht so gut deutsch gesprochen, dass ich etwas verstanden hätte."
"Und was hast du dann die ganze Zeit gemacht?"
"Popcorn gegessen. Du kannst dir nicht vorstellen was für einen riesen Umsatz der Kiosk alleine mit dem Verkauf von Popcorn gemacht hat!"
Die Mädchen lachten, dass ihnen die Tränen kamen. Sie merkten gar nicht, dass es in der ganzen Klasse still wurde und alle sie anstarrten.
"Ich glaube, wir haben zwei Freiwillige für zwei Referate gefunden." Sagte Frau Lampe ruhig, drehte sich um und begann die Mädchen aufzuschreiben.
"Nein, bitte nicht, Frau Lampe!" Flehte Loretta.
"Ja, wozu ist das überhaupt gut?" Fragte Elena. "So etwas läuft bei uns zu Hause unter Allgemeinwissen!"
"Ach, aber das mit dem Adler wusstest du nicht.
Elena schluckte: "Doch, aber sie sahen so aus, als würden sie das mit dem Adler gerne selber sagen. Chaco kennt jeder. Das ist inoffizielle Pflicht in den Pygmäendörfern."
Der Lehrerin stand der Mund offen. Gab dieses Mädchen doch einfach zu etwas verschwiegen zu haben, was sie wusste, weil die Lehrerin so aussah als würde sie es lieber selber sagen! Das Mädchen war unglaublich!
Doch nicht nur Frau Lampe stand der Mund offen, auch Tim starrte sie mit sperrangelweit offenem Mund an und er schloss ihn erst wieder als er von Phillip einen schmerzhaften Rippenstoß und einen spöttischen Blick abbekam.
"Ja, wenn das so ist, werden dich die vielen Referate wahrscheinlich langweilen, aber das ist wohl nicht zu ändern, es sein denn, du übernimmst freiwillig den Gesamtvortrag." Schlug Frau Lampe vor. Doch zu ihrer großen Verwunderung stand Elena tatsächlich auf und begann alle Themen alphabetisch abzuarbeiten, ohne auch nur das kleinste Detail auszulassen. Aber was hatte sie denn erwartet? Ein deutscher Schüler könnte ihr vermutlich auch einiges mehr über Berlin und deutsches Essen erzählen als ein Spanischer. Aber was erhoffte sich das Mädchen nur von diesem Vortrag? Von ihrer alten Schule war sie mit den besten Noten weggegangen und sie hatte wenig Grund etwas daran zu ändern. Wer weiß was im Kopf von Elena rumspuckt, sicherlich hat sie Gründe, die ich nicht mal erahnen kann. Damit hatte sie fast Recht. Fast. Loretta hatte so verzweifelt geguckt, dass Elena weich geworden war. Wieso nicht helfen? Und jetzt wo sie nicht mehr über Chaco sprechen musste, da war der Rest eigentlich einfach. Allgemeinbildung eben.
Als Elena ihren Vortrag beendet hatte beendete das Klingeln der Schulglocke auch den Unterricht und die Schüler schnappten sich ihre Taschen und drängten auf den Schulhof.
Tim musste eine glatte Viertelstunde warten, bis seine Schwester endlich am Schultor erschien. Was konnte man nur noch nach Schulschluss so viel und gleichzeitig so wenig mit seinen Freunden zu bereden haben, dass man sich am Nachmittag nicht unbedingt treffen musste, dass aber auch nicht in den Schulstunden besprochen werden konnte?
"Was hattet ihr den noch so Dringendes zu bereden?" Fragte Tim seine Schwester folglich vorwurfsvoll.
"Mädchengeheimnisse." Grinste Hanna, "Na, interessiert?" Sie fing an zu lachen.
"Was hältst du denn da in deiner Hand? Zeig doch mal her!" Sie schnappte nach einem zusammengefalteten Zettel in der Hand ihres Bruders, doch der war geistesgegenwärtiger als sie und zog die Hand schnell weg.
"Na, interessiert?" Feixte er, während er den Zettel immer wieder vor seiner Schwester rettete, "Jungensache."
"Ach hör doch auf, zeig schon her!"
Doch Tim zögerte die Übergabe des Zettels solange hinaus, bis Hanna ein Thema gefunden hatte, dass seine Reaktionsfähigkeit verlangsamte:
"Sag mal, was hältst du eigentlich von Elena?" Tim erstarrte und Hanna schnappte sich den Zettel. Sie grinste, ihr Bruderherz war wohl bis über beide Ohren verliebt. Sie konnte es ihm in gewisser Weise nachvollziehen. Elena war hübsch und klug und sie war hilfsbereit und einfühlsam und aufrichtig und lustig, ja gewiss. Aber diese Eigenschaften kamen erst ans Licht, wenn man sich eine Weile mit El beschäftigt hatte. Das hatte Tim aber ganz gewiss nicht getan. Sie war doch ein wenig enttäuscht, dass er nur auf die Äußerlichkeiten geachtet hatte. Doch dann nahm der Zettel ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Es war ein Brief, der auch noch an sie gerichtet war! Warum hatte Tim ihn ihr vorenthalten? Sie lehnte sich an einen Stromkasten und begann, den klein gefalteten Brief auseinander zu falten. Tim hörte einen überraschten Schrei und grinste, er wusste schon, dass sein Schwesterherzchen einen Brief von Phillip bekommen hatte; er hatte ja den Boten gespielt. Es begann ihn zu interessieren, was sein Freund denn so in einen Liebesbrief zu schreiben hatte. Also kletterte er hinter Hanna auf den Stromkasten und las über ihre Schulter hinweg mit:
         Liebe Hanna,
         Weißt du eigentlich, dass du das
         hübscheste Mädchen in unserer
         Klasse bist?
         Ich mag dich richtig gut leide und darum wollte ich dich fragen,
         ob du Lust hast dich am Samstag mit mir im Cräxx zu treffen?     Â
          Willst du kommen? Wenn ja, kannst du mir dann Bescheid sagen?                      Â
                 Phillip
"Wie süß, ich glaube Phil hat noch nie vorher einen Liebesbrief selber geschrieben. Er hat sie sonst immer aus'm Internet geholt."
"Waaas? Du hast mitgelesen? Du Idiot! Weißt du, dass das unter Spionage läuft?"
"Hey! Reg dich ab. Ich wusste ja schon, dass Phillip ihn geschrieben hat. Hab ihn erwischt und dafür musste ich ihn dann überbringen."
"Samstag,… Samstag. Shit! Da bin ich mit Loretta, Erika und El verabredet."
"Was du lässt ein Date mit dem Stufenschwarm für einmal shoppen sausen?"
"Es sind meine Freunde und Loretta und ich hatten die Idee, da muss ich doch wenigstens dabei sein."
"Du spinnst doch. Ja, es sind deine Freunde, aber die verstehen es bestimmt, wenn du absagst. Und außerdem kaufst du doch eh nichts, weil du weißt, dass Mama dir wieder ein paar coole Sachen von New Yorker mitbringt. Und mir hoffentlich auch…"
"Aber trotzdem. Wir wollen ja nicht nur shoppen sondern nachher noch ins Cafe."
"In welches?"
"Cräxx. Au, shit, dass wird ja immer besser."
"Hey, frag doch einfach deine Freunde, " ermunterte Tim sie, " die werden das verstehen. Ganz sicher."
"Ja bestimmt. Aber es ist unser erstes Treffen mit Elena zusammen. Das wäre schade."
"Du überlegst wirklich ob du dein Date mit Phil sausen lässt. Echt, Hanna, das hätte ich nicht erwartet."
"Was würdest du machen?"
"Ich würde zum Treffen mit Elena gehen, allerdings bin ich auch nicht in Phillip verknallt, sondern in E…. äh, jaaa."
"Ok, du meinst ich soll ins Cräxx. Auf deine Verantwortung!"
"Meinetwegen."
"Und was mach ich mit der Clique? Anrufen ist doof, ich würde es ihnen am liebsten selber sagen. Aber…"
"Schreib ne SMS!"
"Das ist noch unpersönlicher…."
"Dann husch nachher noch schnell zu Erika rüber, wenn sie vom Zahnarzt kommt."
"Ja! Das mach ich, dann kann sie es morgen weitersagen. Super! Dann wäre das geklärt. Du bist der Beste." "Das wusste ich." "Der Arroganteste." "Das ist mit neu." "Ohhh! Doofmann." "Hab ich schon öfter gehört, aber ich hab es nicht auf mich bezogen. Autsch! Das ist aber doch kein Grund für einen so heftigen Rippenstoß!"
Es war eine Schnapsidee gewesen. Gleich von Anfang an war es das und sie hatten es nicht gemerkt. Zumindest nicht gleich. Und als sie es merkten war es zu spät.
Die Freunde befanden sich auf einer Art Halbinsel oder Landzunge. Eigentlich passt keine der beiden Bezeichnungen, denn es handelte sich um einen Engpass aus Stein weit oben in den Pyrenäen, kurz vor der Schneegrenze. Um genau zu sein saßen Elena und ihre drei Begleiter in einem kleinen Kreis auf einer von mageren Bäumchen und Steinbrocken überzogenen Felsebene, die auf zwei Seiten von verschiedenen Flüssen begrenzt wurde und sich wie ein riesiger langer Streifen bis zu den nächsten Bergen erstreckte.
"Wie konnten wir nur so doof sein! Es war doch klar, dass die Brücke einstürzen würde, wenn die Hauptstütze wegkommt." Meinte Pablo.
"Ja, "stimmte Francis zu, "aber wer ist den auf die Idee gekommen? Ich bestimmt nicht! Weißt du wer die Stütze angesägt hat, Paolo?"
Elena konnte deutlich die Wut in Francescos Augen lesen. Francesco Eleonora, von jedem Francis genannt, war, nach Paolo, Els zweitbester Freund. Er war bestimmt zwei Köpfe größer als sie, hatte hellbraune Locken und war immer perfekt gestylt. Das war kein Wunder, denn seine Eltern besaßen das größte Hotel im Dorf und waren mit Abstand am reichsten von allen. Also konnte er sich immer die neuste Mode aus Barcelona kaufen und manchmal brachte er auch etwas für seine Freunde mit. Paolo Rivers war ein kleiner rundlicher, aber sehr lustiger, Spanier. Er hatte schwarze schulterlange Haare, eine Stupsnase und überall Sommersprossen. Dazu passten seine kleinen schwarzen Augen, die immer listig blitzten, wenn er mit jemandem einen Schabernack trieb. Er war der Sohn von Miranda Rivers, ihr gehörte der kleine Tante Emma Laden im Dorf. Und dann war da noch Pablo Gomez, er war nur ein Stück größer als Elena, weil seine braunen Wuschelhaare in alle Himmelsrichtungen von seinem Kopf abstanden. Nur zu ihren Freunden konnte Elena ihn nicht zählen, da ein Blick aus seinen braunen Augen immer Schmetterlinge in ihrem Bauch fliegen ließ. Und für El ging es nicht an, dass ihr Schwarm auch gleichzeitig ihr bester Freund war.
"Beruhigt euch Jungs! Wir können immer noch über den Fluss schwimmen. Oder mit einem Boot übersetzen. Uns fällt schon noch was ein."
"Oh nein, El! Ohne mich. Ich kann doch nicht schwimmen und ich glaube, dass selbst Pablo es nicht über den Fluss schafft. Hast du dir mal die Strudel angesehen und dann der riesen Wasserfall da hinten, auf den würde man direkt zu getrieben werden. Ich Paolo der Große, werde es nicht in Kauf nehmen mein Leben bei einer Flussüberquerung zu verlieren."
"Mit einem Boot würden wir es auch nicht schaffen. A, wir haben kein Boot, B ist die Strömung zu stark und C … hast du dir mal die Böschung angeguckt?"
"Pablo, wenn wir erst einmal ein Boot haben ist doch das steile Ufer kein Hindernis mehr! Außerdem weiß ich woher wir ein Floß bekommen. Warum haben wir sonst das ganze Holz abgesägt. Wir wollten doch eh ein Schiff bauen." Mischte sich Francis ein.
"Es wäre wohl eher ein Flößchen geworden, welches weder die starke Strömung des großen Flusses, noch den Abtransport über die steilen Ufer überstanden hätte. Schon vergessen Francis? Wie wollten bloß ein Stückchen auf dem kleinen Fluss mit der schwachen Strömung und den flachen Sandstränden hinabfahren. Um Els Vogel wegzubringen."
"Ach nein! Das du dich auch noch daran erinnerst? Es ist doch schon länger als zwei Stunden her, seit jemand zum letzten Mal darüber gesprochen hat. Wie konntest du das nur solange behalten? Aber jetzt brauchen wir das Holz nicht mehr, denn wir werden nicht auf einem kleinen Flößchen den Bach runterfahren, sondern auf einem Stabilen Floß den Strom runter. Das hast du doch hoffentlich auch verstanden, denn wenn nicht wärst du der letzte der es noch nicht verstanden hat!"
"Dann bin ich eben der letzte der es versteht und auch der letzte der dabei mitmacht! Es ist lebensmüde das zu wagen und ich bezweifle, dass auch nur einer der Anderen dabei mitmacht. Oder El?"
"Hey beruhigt euch erstmal! Wir können das nachher noch in Ruhe entscheiden…"
"Was! Spinnst du? Du überlegst doch nicht ernsthaft ob du Francis zustimmst. Bist du wahnsinnig. Das ist einfach nur noch verrückt. Hast du nicht die Wasserfälle gesehen an denen wir beim Hinweg vorbeigekommen sind?"
"Nein, …äh, ich. Doch… klar, sicher!"
Warum bekam man nur kein einziges Wort heraus, wenn man von seinem Schwarm angesprochen wurde? Und dabei war Elena gar nicht auf den Mund gefallen, vor allen dann nicht, wenn sie sich oder ihre Meinung verteidigen sollte.
"Mensch Pablo! Das war doch gar nicht derselbe Fluss. So was müsste man sich merken können, aber bei deinem Kurzzeitgedächtnis. Sag mal El, willst du wirklich den großen Fluss runter?"
"Nein! Aber wenn wir uns hier streiten wird weder das Floß fertig noch unsere Stimmung besser. Aber die Wasserfälle sind in diesem Fluss. Hinten bei der Klippe, von wo aus man das Tal mit unserem Dorf überblicken kann. Es sind dieselben Wasserfälle bei denen wir immer schwimmen, ich glaube aber, dass der Großteil dieses Wassers da landet wo die spitzen Steine liegen. Und übrigens, ich hab nie gesagt, dass ich deinen Vorschlag besser finde. Und ich habe auch nie gesagt, dass ich Pablos Vorschlag besser finde. Ich mach einen eigenen. Folgendes: wir bauen vier kleine Flößchen, jeder sein eigenes. Und wenn man fertig ist, dann nimmt man sein Bötchen und schmeißt sich damit in die Fluten. Ob man nun die Wildwasser- oder die Anfängervariante wählt bleibt einem selbst überlassen. Wir haben nur Vorteile davon: eure Streiterei hört auf, jeder bekommt seinen Willen, es könnte der Fall eintreten, dass Wähler der Wildwasserbahn untergehen, also ein bisschen Action, oder die stolzen Bezwinger der Anfängervariante könnten am Ende eingeschlafen sein und ihr Ziel verpassen. Was habt ihr, klingt doch alles super!"
"El, wie kommt es das du immer genau die richtigen Worte findest uns Alle zu ermutigen."
"Ich nenn es angeborenes Talent. Klingt besser als "Worte der Ermutigung zur Beseitigung ungewollt auftretender…"
"Schon gut El."
"…, doch unvermeintlich vorkommender,"
"Elena!"
"…immer wieder aufgerührter…"
"Elena Cortez, hältst du jetzt endlich mal die Klappe?"
"… Depressionen!"
"Ok, El du hast gewonnen. Ich glaube mir wären nicht mal so viele Worte eingefallen. Und Pablo hätte sich wahrscheinlich wiederholt, weil er die Ersten schon vergessen hat, bevor er das Letzte sagt!"
"Jungs haltet doch einfach die Klappe sofort!"
"Mensch schrei doch nicht so, Paolo, dass können Francis Ohren nicht ertragen. Er hat heute nämlich seine "Adidas" Ohrenstöpsel vergessen."
"Pablo, ich trage niemals Ohrenstöpsel! Außer nachts in Barcelona, aber da ist es auch verdammt laut!"
"Dann wissen wir ja wo du sie hast liegen lassen!"
"Was haben den meine Ohrenstöpsel mit deinem Dilemma mit der Wahl des Flusses zu tun?"
"Ganz einfach: der Wildwasserfluss ist so laut, da bekommt man ohne Ohropax echt Ohrensausen!" Pablo grinste und dreht sich mit der Gewissheit um, dass keine Erwiderungen mehr kommen würden. Der finale Endsatz in solchen Diskussionen gehörte immer ihm, er war es, dem am Schluss noch die schlagfertigsten Antworten einfielen, wenn alle Anderen schon längst aufgegeben hatten. Er war es, den alle darum beneideten, in jedem Wortgefecht ungeschlagen zu sein. Schon jetzt traute sich niemand, der ein oder mehrmals von ihm darin besiegt worden war, ihn zu reizen. Und das war das ganze Dorf. Na ja, Francis bildete eine Ausnahme, aber warum sollte man Pablo immer seinen Willen lassen ohne zu wissen ob es richtig war?
Francis war aber dennoch kein Gegner. Selbst Pablos Eltern konnten sich nur noch selten gegen Pablo zur Wehr setzten. Das war auch der Grund weshalb alle Partys bei ihm stattfanden oder warum Pablo einfach keine Freundin fand. Nie konnten sie ihm kontra geben oder, wie seine Eltern, mit so viel Ausstrahlung auftreten, dass er ihre Meinung wenigstens respektiert hätte. Für ihn war es klar, dass er seine Meinung am besten darlegen und verteidigen konnte, auch wenn er wusste, dass eine Entscheidung falsch war oder es nur darum ging Anderen Gegenwehr zu leisten.
Heute hörte er, wider alle Erfahrung, eine kalte Stimme hinter sich:
"Wenn du keine hast, versuch es mal mit Mickymäusen." Paolo starrte, die Hände vor der Brust verschränk, und an einem Felsen lehnend zu ihnen rüber. "Ich dachte wir sind hier um Chaco zu seinem Horst zu bringen. Ich jedenfalls dachte das. Ich erinnere mich, dass ihr das auch wolltet. Wir vier haben beschlossen, dass wir Chaco hier hoch bringen. Wie alle haben gesagt wir bauen ihm einen Horst, damit er hier leben kann und wieder ausgewildert wird. Wie ihr wisst ist das dringend nötig, denn er frisst Elena schon aus der Hand und wenn er das bei jeden dahergelaufenen Menschen machen würde, würde er innerhalb von zwei Tagen von einem Wilderer erwischt werden. Ok, El hat ihn gerettet al er sich irgendetwas am Flügel getan hat und darum hat er plötzlich grenzenloses Vertrauen in sie, aber uns duldet er inzwischen auch schon in seiner Nähe. Und ihr kennt das Problem, welches unser Dorf hat: Armut! Chaco ist ein besonderer Adler mit einer unmöglichen Größe von sechs Metern. Auf dem Schwarzmarkt würde er selbst ausgestopft noch Tausende bringen. Darum haben wir vier beschlossen ihn auszuwildern. Darum sind wir hier oben. Wir haben alles gemeinsam gemacht. Wir wollten es zu viert durchstehen, uns gegenseitig unterstützen. Aber was macht ihr? Ihr streitet euch! Ihr streitet euch so doll, dass jeder andere Mensch sagen würde: "Hier halte ich es nicht mehr aus! Ich geh weg." Ihr solltet froh sein, dass El und ich euch nicht schon längst sitzen gelassen haben. Das könnte sich allerdings schnell ändern, wenn ihr euch nicht innerhalb von wenigen Sekunden beruhigt und euch bei El zu Entschuldigen gedenkt. Ich glaube nämlich sie spielt gerade mit dem Gedanken sich im Fluss zu ertränken." Sein Blich wanderte zu den steilen Ufern des Wildflusses an welchen Elena zusammengesunken saß und mit ihren Händen durch den weißen Sand strich. All ihre Freunde schienen sich um andere Dinge zu kümmern, keiner stand mehr hinter ihr und trieb ihr Vorhaben vorwärts. Alles musste man selber machen. Sie ließ sich über die Böschung gleiten und verschwand unter den erschrockenen Blicken ihrer drei Begleiter im reißenden Wasser. Francis, der am besten sehen konnte, schrie vor Entsetzten laut auf, als er ihre Arme hilflos in den Wellen schlagen und dann verschwinden sah.
Elena hatte das Gefühl die Lunge würde in ihrer Brust zerspringen, so heftig schoss das Wasser in sie. Sie hatte nicht mit der enormen Wucht gerechnet und wurde jetzt von ihr unter Wasser gehalten. Mit voller Kraft schlug sie um sich um nach oben zu kommen. Doch das war nicht so einfach, sie wurde so schnell durch die Strudel geschleudert, dass sie nicht mehr wusste wo oben und unten war. Sie wusste nicht ob sie nun nach oben oder unten paddelte. Sie wusste nur, dass sie dringend Luft brauchte. Das Wasser brannte in ihrer Kehle und sie schluckte immer mehr Wasser. Plötzlich stieß sie mit dem Fuß auf einen Stein. Sie trat so heftig gegen ihn, dass ihr Kopf für kurze Zeit die Wasseroberfläche durchbrach, doch bei dem Versuch nach Luft zu schnappen, schluckte sie nur noch mehr Wasser. Sofort wurde sie wieder unter Wasser gezogen. Elena kämpfte mit aller Kraft gegen die Wassermassen und hatte Erfolg. Sie schoss aus dem Wasser und schnappte nach Luft um gleich darauf nach Hilfe zu rufen und wieder wie ein Stein zu sinken. Hätte sie im Frühjahr doch nur schwimmen gelernt! Wie in einem Traum kamen ihr Bilder in den Kopf. Von ihrem Vater und ihrer Mutter. Sie waren am Meer. In Frankreich. Ihr Vater lachte ihre Mutter an und lief mit Elena zum Wasser. Er schob ihr die Arme unter den Bauch und befahl ihr mit den Beinen zu strampeln und mit den Armen zu rudern. Elena hatte ihrem Vater voll und ganz vertraut und nichts ahnend seine Befehle befolgt. Doch irgendwann hatte ihr Vater erst seinen rechten und dann auch seinen linken Arm weggezogen und El war eine kurze Strecke alleine geschwommen, bis sie den Betrug bemerkte. Panisch hatte sie mit den Armen geschlagen und das Wasser über sich zusammenschlagen sehen. Doch da hatten die starken Hände ihres Vaters sie schon wieder gepackt und sie hochgehoben. Am nächsten Tag ging ihr Vater alleine schwimmen und kam nicht mehr zurück. Haie. Mehr hatte sie damals nicht verstanden. Doch für sie war das Meer schuld am Tod ihres Vaters. Hatte es sie nicht gestern auch nach unten gesaugt? Mit seinem gefährlichen Maul? Seitdem war sie nie wieder schwimmen. Sie konnte es gar nicht; wollte es auch gar nicht erst lernen. Die anderen lachten, wenn sie unten beim Fluss lieber am Rand saß und guckte als mit ihnen zu schwimmen. Sie hätte es lernen sollen. Jetzt war es zu spät. Langsam zog ein schwarzer Nebel auf, der alles verschlang und sich nicht zurückdrängen ließ.
"Elena, nein!" Francis Schrei war mehr ein ersticktes keuchen, doch es löste die anderen beiden Jungs aus ihrer Erstarrung. Paolo rannte panisch bis zum Anfang der Böschung und wäre sicher hinter Elena in den Fluss gefallen, hätte Francis ihn nicht an den Schultern zurückgerissen. Pablo schrie nicht auf, er rannte auch nicht zum Fluss. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen zu der Stelle an der ihre Freundin verschwunden war. Nein! Sie konnte doch nicht so einfach verschwinden. Pablo wusste das El nicht im Fluss schwamm, weil sie es nicht konnte. Sie mussten ihr helfen. Doch was sollten sie tun? Kalter Schweiß lief seinen Rücken runter als ihm klar wurde, dass sie nicht helfen konnten. Es würde ihr gar nichts nützen, wenn sie hinterher springen würden, dann würden sie nur alle den Wasserfall hinabstürzen. Pablo schrie auf: der Wasserfall! Elena würde ihn herunterfallen. Dann würde man ihren zerschmetterten Körper unten bei den Klippen wieder aufsammeln können! 128 Meter in die Tiefe. Das konnte keiner überleben.
"Die Böschung. Wir müssen an der Böschung lang laufen!"
Francis blickte Pablo an. War er verrückt geworden? Sie würden alle in den Fluss stürzen. Und Elena würden sie auch nicht mehr einholen können; sie würde den Wasserfall hinunterstürzen. Er zuckte zusammen. Das konnten sie nicht zulassen, auch wenn sie zu spät kamen, hier herumstehen und nichts tun- das war schlimmer. "Schnell beeilt euch. Wir dürfen keine Zeit verlieren!" Rief er seinen Freunden über die Schulter zu. Er lief los und fiel nach zwei Schritten über einen Stein und schlug hart auf dem Boden auf. Sein Knie war aufgeschlagen und blutete, das wusste er, doch er achtete nicht darauf. Keuchend ignorierte er den Schmerz und stemmte sich hoch.
"Stopp! Spinnt ihr? Alle Beide. Ihr könnt doch nicht einfach an der Böschung lang laufen. Die geht fast senkrecht runter! Wir müssen das anders machen."
"Und", schrie Paolo " wie bitteschön? Wir haben Keine Zeit. El kann nicht schwimmen und dahinten ist der Wasserfall!"
"Sie kann nicht schwimmen?" Francis kicherte.
"Das ist nicht komisch! Sie geht unter, du Idiot"
"Los! Los", rief Paolo, plötzlich ungeduldig, " schnell! Knotet die Seile zusammen und bindet sie an den Felsen fest. An ihnen sichern wir uns ab. Macht schon! Wir knoten sie überall an der Böschung fest wo wir können. Schneller Leute, wir haben nicht ewig Zeit! Einer klettert von hier zu dem Baum da oben, und dann… dahinten ist noch ein Seil! Dann bindet er es an dem Baum fest und die Anderen kommen nach. Und wenn er aber abstürzt, dann halten wir ihn fest. Er muss sich das Seil um den bauch binden, dass machst du Pablo. Schnell mach einfach. Du kannst am Besten klettern. Und so machen wir es bis zu Wasserfall. Wenn wir El dann nicht gefunden haben… dann… na…"
Pablo stockte und man sah eine Träne durch sein staubiges Gesicht rollen. Er biss sich auf die Zunge. Sie mussten es schaffen!
"Fertig Pablo? Los, festhalten Francis."
Pablo trat vorsichtig an den Rand des Ufers. Es war wirklich steil. Es würde nur eines kleinen Fehltrittes benötigen und er würde unten im schäumenden Wasser liegen und genauso hilflos wie Elena dem Wasserfall entgegen treiben. Langsam schob er einen Fuß vorwärts. Dann den anderen. Er spürte einen kleinen Stein und trat darauf, kullernd fiel er in die Tiefe. Pablo zuckte zusammen. Das war verdammt tief. Und unten war kein Pool sondern ein reißender Fluss. Kein Freizeitspaß, Realität. Schreckliche Realität. Wenn er jetzt hier stehen blieb, war alles zu spät. Dann wäre Elena verloren. Dann würde sie nie mehr mit ihm durch die Wälder laufen oder Wettklettern auf Berge veranstalten. Dann würde sie nie wieder lachen. Dann würde sie ihn nie mehr heimlich beobachten, wenn sie glaubte er merke es nicht. Dann würde sie ihn nie mehr schüchtern anlächeln und erröten, wenn er sie dabei erwischte. Dann würde sie nie mehr lächeln. Also begann er zu klettern, wie er es schaffte zu dem dürren Baum zu kommen konnte er nicht mehr sagen. Auch nicht wie er von da zu dem Steinbrocken kam und von da noch weiter. Das Alles war wie gelöscht. Er wusste nur, dass er dem Wasserfall immer näher kam. Hörte, wie seine Freunde ihn anfeuerten, sah die Biegung, hinter der der Wasserfall lag. Hörte sein mächtiges Rauschen lauter werden, sah die Strömung stärker werden, sah die Kurve, welche das Wasser in der Biegung machte, nur Elena sah er nicht.
Da ging ein Ruck durch ihren schmalen Körper. Elena schlug die Augen wieder auf. Wie nah sie der Oberfläche war! Ob es dort oben genau so kalt war wie hier? Ob dort auch alles an ihr zerren würde? Und ob der Schmerz in ihrer Lunge dort oben immer noch da wäre? Sie meinte zu wissen, dass es dort oben warm wäre und hell. Frei würde man sich fühlen wenn man da war. Ob es sich also lohnte zu versuchen dorthin zu gelangen? Wahrscheinlich ja. Doch wie sollte man das bitte denn schon schaffen? Dort oben- das war unerreichbar. Oder vielleicht doch nicht? Wenn man ein wenig die Arme bewegte, dann trieb man auch ein bisschen nach oben. Elenas Gesicht durchbrach die Oberfläche. Gierig zog sie dir Luft ein. Ja, es war warm und hell. Aber das Zerren war immer noch da. Langsam kam ihr eine Erinnerung. Von einer Böschung. Und einem Mädchen. Es saß mit großen Augen vor einem reißenden Fluss. Es sollte mit einem Stück Holz, das sie vor sich herschieben musste, auf diesem Fluss schwimmen. Aber es konnte nicht schwimmen. Das Mädchen wollte es seinen Freunden sagen, doch die schrieen laut durcheinander; sie stritten. Dann war es kurz still und das Mädchen wollte sich umdrehen. Da rutschte es aus und fiel. Wie in Zeitlupe fiel es, ziemlich langsam. Es spürte jeden Stein, der ihm dabei in die Rippen gestochen hatte. Die Arme hatte es sich aufgeschürft, dann war es in den Fluten verschwunden. Es hatte auch dieses Zerren gespürt, welches Elena fühlte.
"Ich glaube, dass war ich." Flüsterte Elena und merkte auch gleich wie richtig das war, denn eine große Welle schlug über ihrem Kopf zusammen und sie musste husten. Dabei spürte sie wieder diesen Ruck am Oberkörper. Sie hatte sich mit ihrem T-Shirt an einer Wurzel verhakt, doch nun drohte das Shirt abzurutschen. Elena konnte sich nicht an der Wurzel festhalten, da sich diese in ihrem Rücken befand. Sie erstarrte und versuchte sich vollkommen still zu verhalten, doch das Wasser, welches die Welle in ihre Lunge gepresst hatte brannte und sie konnte sich das Husten nicht verkneifen. Da glitt das T-Shirt von der Wurzel. Sie hörte eine Stimme verzweifelt ihren Namen und noch etwas anderes rufen, aber da fiel sie bereits. "Der Wasserfall. Ich falle, " dachte das Mädchen ohne die leiseste Spur von Angst, "ich falle einen Wasserfall hinunter."
Pablo drehte sich zu Francis und Paolo um. Er war am Wasserfall. Aber Elena war nicht hier. Mehr war im Moment nicht wichtig. Er war einem Zusammenbruch nahe. Alles war umsonst gewesen, El war weg, einfach nicht mehr da. Tränen liefen über sein Gesicht, als er seinen Freunden auf den flachen Felsvorsprung am Rande des Wasserfalles half. Das Tosen war hier so laut, das man nichts anderes mehr hören konnte. Aber er konnte Paolos Arm sehen und dieser Arm deutete auf den Fluss. Genau vor die Kante des Falles. Und dort hing Elena. Schlaff und leblos an einem Baum verhakt. Plötzlich krümmte sich ihr Körper und Wasser kam aus ihrem Mund. Unendlich erleichtert schrie er ihren Namen. Sie lebte! Sie lag nur ein paar Meter von Ihnen entfernt und lebte! Doch so schnell wie seine Erleichterung gekommen war, so schnell verschwand sie auch wieder. Elenas Körper glitt von dem Baum weg und sie wurde mit voller Wucht über den Vorsprung geschleudert.
"Nein! Das kann nicht sein. El!" Paolo warf sich als Erster an den Vorsprung seine Brust schabte über die kleinen Kiesel auf dem Boden und schnitten seine Haut auf, doch er beachtete es nicht. Er bemerkte seine Freunde, die sich neben ihn warfen, auch sie schürften sich Brust und Arme auf, aber als sie keuchend neben ihm lagen, war das alles vergessen.
Ihnen stockte das Herz. Sie sahen Elena fallen. Klein und schmal und mit einem mal sehr zerbrechlich. Da schrie Elena. Gellend und so hoch, das es ihnen in Mark und Bein fuhr. Diesen Schrei würden sie nie vergessen, das wussten in diesem Augenblick alle drei.
Unten im Dorf kam in diesem Augenblick ein Großteil der Bewohner vor das Dorf, Sie wollten das Komitee verabschieden, welches heute gekommen war. Es sollte über einen Zuschuss entscheiden. Das Dorf brauchte diesen Zuschuss zum Überleben. Doch es sah nicht gut aus. Der Bürgermeister persönlich hatte die Damen und Herren des Komitees durch das Dorf geführt. Besonders lange hatten sie bei dem Hotel von Francis Eltern verweilt. Es war blank geputzt, wie noch nie. Doch das alles hatte nichts genützt. Denn Ellen Rivers, Paolos Schwester, hatte einen Herrn des Komitees, nach der Hotelführung, sagen hören, dass das Hotel sich in einem bedauernswerten Zustand befände. Das entsprach allerdings nicht der Wahrheit, denn das Hotel hatte einmal fünf Sterne besessen, jetzt freilich nur noch drei, aber bedauernswert konnte man es nicht nennen. Der Bürgermeister hatte sich eine berauschende Rede ausgedacht, die alle Komiteemitglieder begeisterte. Er hatte dabei eine Sensation erwähnt, auf die sich alle freuten. Was er damit meinte ließ er offen, doch jetzt war er am Ende der Führung angelangt und nun musste die Überraschung kommen. Eine Frau im grauen Kostüm sprach schließlich mit ungeduldiger Stimme aus, was alle dachten:
"Was ist denn diese Sensation? Wir haben nicht ewig Zeit. Wir müssen noch andere Dörfer besichtigen, die auch gerne den Touristen-Zuschuss bekämen. Also wird`s bald?"
Der Bürgermeister räusperte sich, im war nicht wohl in seiner Haut. Er hatte darauf vertraut, dass ihm während der Führung Elena Cortez oder einer ihrer Freunde über den Weg laufen würde. Die wussten aus irgendeiner Intuition heraus immer, wo sich dieser riesige Adler befand. Wenn die Mitglieder des Komitees diesen auch nur aus der Ferne sahen würden sie nicht mehr an der Attraktion des Dorfes zweifeln. Man hätte Wandertouren unternehmen könne, um dieses seltene Tier einmal zu sehen. Bisher war ihm niemand wirklich nah gekommen, doch auch auf große Entfernung war die Größe des Tieres erstaunlich. Nun sah es allerdings so aus, als würde niemand den Adler zu Gesicht bekommen. Jetzt musste man also entweder den bombastischen Wasserfall von 128 Metern Höhe als Sensation darstellen oder erklären, dass es in Wirklichkeit gar keine Sensation gäben beziehungsweise die Überraschung ausgeflogen sei. Er entschied sich für die erste Möglichkeit, da die zweite in jeder Weise ein schlechtes Licht auf das Dorf geworfen hätte. Unbehaglich räusperte er sich:
"Meine Damen und Herren! Darf ich Ihre Aufmerksamkeit nun also auf den gigantischen Wasserfall zu…"
"Dieser Wasserfall wurde uns schon im letzten Dorf gezeigt. Ich muss zugeben, dass er von hier weitaus eindrucksvoller ist, doch wenn dieses Ihre Sensation sein soll, so muss ich sie leider enttäuschen. Ihr Nachbardorf ist Ihnen zuvorgekommen." Meldete sich der Herr mit dem grauen Frack, der schon am eleonoraschem Hotel seine Kritik geäußert hatte wieder, allerdings wurde er von der Dame im grauen Kostüm zurechtgewiesen. Das schien ihm gar nicht zu gefallen, doch er verhielt sich wieder ruhig und der Bürgermeister konnte fortfahren:
"Äh… ja. Wenn ich Ihre Aufmerksamkeit zu dem eindrucksvollen Wasserfall zu Ihrer Rechten lenken darf…"
Da ertönte ein langer hoher Schrei, der jedem der Zuhörer unter die Haut fuhr. Ein Meer aus Köpfen blickte hoch zum Wasserfall, wie der Bürgermeister gesagt hatte, doch was sie sahen nahm ihnen den Atem.
Für alle Blicke gut sichtbar fiel ein kleiner Körper mit den Wassermassen in die Tiefe. Von ihm schien dieses schrille Kreischen zu kommen, welches alle Lebenswesen im Umkreis von einem Kilometer hören mussten. Die Menschen hielten vor Entsetzten den Atem an, da war ein Kind, welchen von ungeheuren Wassermassen überwältigt seinem Tod entgegen stürzte!
Doch jetzt erst begann die Lage wirklich seltsam zu werden: von links her näherte sich mit ausgebreiteten Schwingen ein riesiger Adler. Seine Federn schimmerten golden in der Sonne und sein Schrei klang warm und rau nach dem Kreischen des Kindes. Er legte die Flügel an den Körper und begann einen gewaltigen Sturzflug. Er zielte direkt auf den Körper, der sich rasend der Gischt und den Steinen am Ende des Wasserfalls nähert. Der Adler handelte aus Instinkt. Da war das Mädchen, das ihn geheilt und gepflegt hatte, das ihn streichelte und mit im lustige Dinge machte. Dieses Mädchen mochte er. Es war gut und hatte ihn lieb. Aber jetzt brauchte das Mädchen Hilfe. Es schrie. Es schrie laut. Und es schrie nach ihm, auch wenn das Mädchen es nicht wusste. Darum musste er helfen, er würde ihr immer helfen und immer für sie da sein. Genauso wie sie immer für ihn da war. Er flog jetzt genau über ihr, streckte seine Klauen nach ihr aus und umschloss sie fest. Jetzt war sie sicher. Er flog eine große Schleife und näherte sich der Menschenmenge vor dem Dorf. Hier war Hilfe für das Mädchen, da war er sich sicher. Von hier kam sie immer und nach hier ging sie auch immer wieder. 50 Meter von der Versammlung entfernt landete er, legte Elena sanft ins Gras, stupste sie mit seinem Schnabel an und kreischte leise. Erfreut darüber, dass sie die Augen geöffnet hatte und die Arme nach ihm ausstreckte. Doch dann flog er fort, er hatte Angst vor den Menschen, die immer näher kamen.
"Du Erika, warte mal kurz!" Rief Hanna ihrer Freundin hinterher, die gerade im Hauseingang verschwinden wollte.
"Ich muss dir was sagen. Ich…. Du meine Güte! Erika, was ist passiert. Du siehst aus als hätte man dir alle vier Weißheitszähne gleichzeitig gezogen."
Erika nickte schwach. "Hmm… hmm. Aaa." "Hä? Was? Könntest du das bitte noch mal wiederholen?" Hanna legte den Kopf schräg, Erika sah echt schlimm aus. Wie ein Hamster mit blau grünen Wangen. Und sprechen konnte sie offenbar auch nicht.
"Ah, hallo Hanna! Schön, dass du da bist. Wir kommen gerade vom Zahnarzt. Er hat Erika die Weißheitszähne gezogen. Zwei Stück."
"Hallo Frau Leihmann. Warum das denn? Es war doch immer alles ok."
"Der Arzt sah das wohl anders. Ich glaube sie muss sich erstmal hinlegen. Aber am Montag wird sie wieder fit sein. Denke ich."
"Nein!" Dann konnte Erika ja auch nicht kommen, ob Loretta und El wohl alleine in die Stadt gingen? "Aber wir wollten doch morgen shoppen gehen. Kann sie da nicht mit" Bitte doch, bitte doch!
"Das nehme ich nicht an. Aber ihr könnt es ja später nachholen. Also bis später dann, ja?"
Das konnte doch alles nicht wahr sein. Jetzt hatten schon zwei abgesagt. Hoffentlich waren Elena und Loretta ihnen nicht böse. Das würde noch etwas geben, so kurz vor der Klassenfahrt! Hanna raste die drei Stufen zu ihrer Wohnung hinauf und krallte sich das Telefon. Sie wollte gerade wählen, als das Telefon zu klingeln begann. Immer noch keuchend von dem kurzen Sprint meldete sie sich.
"Hanna? Hier ist Loretta. Du ich hab total vergessen, dass Samstag das Wochenende bei meinem Dad ist. Es tut mir so Leid. Ich hab das wirklich total vergessen. Bitte, bitte sein jetzt nicht böse, ja?" Stille. Nein. Das. Konnte. Nicht. Wahr. Sein.
"Hanna? Hanna? Bist du noch dran?" Lorettas Stimme schien aus weiter Ferne an ihr Ohr zu dringen.
"Loretta, wir haben ein Problem."
"Ich glaube ich werde Phil versetzen müssen. Wir haben wirklich keine Möglichkeit El Bescheid zu sagen?"
"Nein, keine Telefonnummer, keine Handynummer, keine Adresse. Nichts." Loretta klang wirklich verzweifelt. "Es ist doch einfach nicht fair, oder?" Sie saß mit überkreuzten Beinen auf Hannas Bett und legte die Stirn in Falten.
"Ach, macht nichts. Ich werde wohl,… na ja und fällt schon noch was ein!"
"Fassen wir mal zusammen. Also, du bist die einzige die überhaupt noch in die Stadt kommen kann, um El Bescheid zu sagen. Erika und ich sind weg, Mann, wir sind echt gute Freunde. Gleich beim ersten Treffe lassen wir sie sitzen."
"Und was ist wenn ich Philip absage?" Hannas Stimme versagte fast, doch sie wollte wenigstens den Vorschlag gemacht haben. Das auch alles auf einmal kommen musste.
"Tja", Loretta schwieg einen Moment, um sich die Sache durch den Kopf gehen zu lassen, "wenn du das machen würdest…." Sie sah es Hanna an, dass das wahrscheinlich das letzte war, was sie gerade tun wollte. Sie schüttelte den Kopf.
"Geh einfach vor deinem Date mit Hanna shoppen, dabei kannst du ihr dann sagen, dass du später verabredet bist. Sie wird das verstehen. Und Phil sagst du, dass du ein bisschen später kommst. Einverstanden?" Hanna sprang auf, mit einem Mal schienen alle ihre Probleme in Luft aufgelöst. Stürmisch umarmte sie Loretta.
"Yeah, bist die Beste! Oh Mann, da hätte ich auch selber drauf kommen können." Ihre Freundin lachte.
"Und wozu wäre ich dann da?" Grinsend umarmte sie die lachende Freundin, bis Tim seinen Kopf durch die Tür steckte.
"Gruppenkuscheln?"
"Hey!" Hanna fuhr herum, "welchen Teil von "Bitte Anklopfen" hast du nicht verstanden?"
"Bitte!… Siehst du Phil, ich sagte dir doch, sie ist eine aufbrausende Persönlichkeit!" Tim grinste zufrieden. "Für dich." Er warf seiner Schwester den Hörer zu und setzte sich zu Loretta auf das Bett. "Ich wette, gleich wird Hanna rot!" Loretta knuffte ihn unsanft mit dem Ellenbogen und legte den Finger an die Lippen. Sie wollte so viel wie möglich von dem Telefonat mitkriegen. Aber plötzlich grinste sie Tim an, Hanna wurde tatsächlich rot!
"Äh, ja sicher. Ich komme. Ach, äh…, wann denn? ….. Vier? Geht es auch eine halbe Stunde später? … Nein nur so…. Ok, dann bis morgen um vier." Sie legte auf. "Tja, jetzt muss ich mich mit Elena etwas beeilen, aber das ist es wert!"
"Du bist echt rot geworden, Hanna. Ich hab's erst nicht geglaubt, weil dir das sonst nie passiert, aber dein Bruder scheint dich ziemlich gut zu kennen, was?" Loretta kringelte sich vor Lachen.
"Ma? Kann ich heute Nachmittag mit meinen Freunden in der Stadt shoppen?" Elena blickte unsicher zu ihrer Mutter auf, ob sie ihr wohl auch etwas Geld leihen würde?
"Mit deinen Freunden? Wer sind denn die?" Maria Cortez versuchte sich nicht anmerken zulassen, wie sie sich über diese Nachricht freute. Dann hatte Elena ja doch Anschluss gefunden und ihre Sorgen waren unbegründet.
"Hanna Gärtner, Erika Leihmann und Loretta Durst, hmm, komischer Name ich weiß. Kann ich?"
"Ja klar, sicher doch. Hast du denn eigentlich genug Geld?"
"Äh, ja ….. Nein. Würdest du mir was leihen?" Es durfte doch nicht daran scheitern, dass sie kein Geld hatte. Was würden ihre Freunde dann nur von ihr denken? Wahrscheinlich das sie arme Immigranten aus der Plattenbausiedlung waren. Und wahrscheinlich hätten sie auch noch Mitleid. Nein, nur das nicht!
"Wie wär's wenn ich dir Geld für eine Jeans und ein T-Shirt gebe und wenn du noch mehr brauchst komme du auf der Arbeit vorbei."
"Ma, kannst du mir nicht etwas mehr Geld mitgeben? Ich muss ja nicht alles ausgeben. Und wenn ich alles ausgebe, dann arbeite ich es eben wieder ab. Das müsste doch gehen, oder?" Sie konnte sicher ihrer Mutter bei der Arbeit aushelfen. Die arbeitete als Bedienung in einem Bistro oder so etwas. Elena hatte ihr schon einmal geholfen, nachdem sie so viel Popcorn verdrückt hatte und pleite gewesen war. Aus irgendeinem Grund bekam sie besonders von alten Männern immer sehr viel Trinkgeld, doch sie lachte nur darüber und freute sich, wieder Geld verdient zu haben.
"Wenn du willst, dann kommst du eben nachher bei der Arbeit vorbei." Sie grinste, "Und weil ich heute meinen spendablen Tag habe, musst du nur heute aushelfen, den Rest, den spendier ich. Bin ich nicht großzügig?" Jetzt lachte sie, "Ach, ich hatte fast vergessen. Ich habe dir für die Klassenfahrt ein Kleid gekauft. Frau Lampe meinte, dass ihr eins bräuchtet. Weil es dort angeblich eine Disco der vornehmen Art gibt." Sie lachte noch mehr, "Was meinst du, gibt es eine?"
"Ja, das nehme ich doch stark an. Sag mal sind wir eigentlich im Hotel von Francis Eltern?"
Das Lachen verschwand von Marias Gesicht, es war das erste Mal, dass Elena ihre Freunde erwähnte.
"Ja, ich glaube schon, " sagte sie langsam und gedehnt, "ein Anderes ist nicht in der Nähe und soweit ich weiß habt ihr einen Sonder-Sonder-Tarif bekommen…."
"Dann gibt es auf jeden Fall eine! Das wird die Party des Jahres!"
"…Sonst könntet ihr euch die Klassenfahrt gar nicht leisten. Ich hatte sowieso immer gedacht, dass Klassenfahrten in der Regel nur eine Woche dauern. Aber ihr seid ja gleich drei Wochen weg. Ich werde dich vermissen, El."
"Ja, Mama. Du musst jetzt aber nicht melancholisch werden. Gib mir lieber das Geld. " Sie grinste schelmisch, "Ich muss los!"
Elena konnte mit dem 703er Bus fast bis zu Hannas Haustür fahren, sie musste nur etwa 50 Meter zu Fuß laufen, bis sie die Fünf-Zimmer Wohnung erreichte. Kurz bevor sie klingeln konnte wurde die Tür von innen geöffnet und Tim streckte den Kopf heraus.
"Hi, komm rein. Du willst zu Hanna, oder? Ich glaube sie ist gleich fertig. Sie braucht immer etwas länger. Heute anscheinend besonders lange. Ich kann sie ja mal rufen oder warte, ich holen sie lieber gleich." Schon verschwand er wieder und schloss die Tür hinter sich. Elena zuckte zurück, hatte er ihr etwa die Tür vor der Nase zugeschlagen? Sie hatte von Hanna schon gehört, dass ihr Bruder unmöglich war, aber dass er so unhöflich war hätte sie nicht gedacht. Entschlossen streckte sie die Hand aus und klingelte zweimal.
"Äh, sorry." Tim rieb sich verlegen den Hinterkopf, "Das war echt keine Absicht." Elena grinste.
"Glaub ich nicht. Ist Hanna jetzt fertig?" Tim schluckte.
"Nein. Sie braucht noch ein bisschen. Hey, aber das war wirklich keine Absicht!" El zog die Augenbrauen hoch. Was wollte der denn noch? Verarschen konnte sie sich auch alleine.
"Ok, dann hol ich Erika ab. Sie wohn doch da drüben, oder?"
"Hmm-hmm. Aber sie und Loretta kommen doch gar nicht mit." Das Lächeln auf Elenas Gesicht verblasste.
"Erika wurden Zähne gezogen und sie sieht jetzt aus wie ein Hamster. Loretta musste doch zu ihrem Vater, übers Wochenende, von Gerichts wegen, das wurde so verfügt. Wusstest du da nichts von?"
"Hey, stimmt das?"
"Ja, sicher. Wurde dir nichts gesagt?"
"Nein." Ob Loretta und Erika nichts mit ihr zu tun haben wollten? Ob sie Elena wohl wie einen Eindringling empfanden und deshalb nicht kamen? Oder hatten sie wirklich keine Zeit?
"Sie haben ja meine Telefonnummer nicht." Hörte Elena sich sagen.
"Ach so, das erklärt einiges! Hey, komm mit. Dann kannst du sie gleich aufschreiben."
Als Elena gerade die letzten Ziffern ihrer Handynummer aufschrieb, flog am Ende des Flurs eine Tür auf und Hanna stürmte auf Elena zu.
"Hi, du bist schon da? Warum hast du denn nichts gesagt? Na, wie sehe ich aus?" Sie lachte über das ganze Gesicht und Elena konnte nicht anders als bewundernd zu nicken. Hanna hatte eine graue Knie-lange Leggins unter ein schmales lila Kleid gezogen, darüber trug sie eine Helle Strickjacke und Schwarze Sandalen. Gegenüber Hanna kam sie sich noch schäbiger vor, als sie sich auch so schon fühlte. Mit ihren Leinensachen war es eben weit her.
"So gefällst du Phil bestimmt. Siehst echt super aus!"
"Meinst du wirklich? Nicht zu aufgetakelt?" Elena drehte sich zu Tim um.
"Phil?" Tim grinste und aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie Hanna rot anlief.
"Jop. Mein Schwesterchen hat ein Date mit ihm. Direkt nachdem ihr shoppen wart." Er grinste ein so breites Grinsen, das Elena sich auf die Lippe beißen musste, um nicht laut aufzulachen.
"Echt? Wie cool." Jetzt konnte sie nicht mehr sie platzte heraus.
"Was ist?" Hanna war richtig verwirrt, "Stimmt irgendetwas nicht? Habe ich die Hose falsch herum an, oder was"
"Nein!" Elena keuchte, "Tims Grinsen. Das ist schlimm." Sie lachte wieder, "Das sieht aus wie… wie… kein Vergleich!" Hanna grinste, dass dürfte Tim gefallen. Jetzt musste er nur grinsen und El würde loslachen. Sie kicherte.
"Eh', El? Loretta und Erika kommen nicht mit. Sie …"
"Ich weiß. Tim hat es grad schon gesagt. Aber jetzt komm sonst machen die Geschäft zu."
Als die Freundinnen sich schließlich völlig fertig und mit schmerzenden Füßen ein Eis gönnten, waren sie im Großen und Ganzen sehr zufrieden mit ihrem Einkauf. Hanna hatte ein Paar Schuhe und ein Paar tolle Stulpen gefunden, währen Elena sich eine Hose und ein T-Shirt gekauft hatte.
"Oh Mann! Das war aber voll heute. Ist das hier immer so voll?" El leckte am ihrem Eis.
"Nein, normalerweise nicht. Aber heute gibt es bei H&M 30% Rabatt, da wollen sie wohl alle hin. Da wo du deine Hose gekauft hast. Was meinst du, kommst du alleine zurück? Ich muss doch zu meinem Date."
"Also Hanna, das hätte ich jetzt nicht erwartet. Du denkst wirklich ich hätte Probleme in den 705er Bus zu steigen und mit dem zur Bushalte Ringstraße zu fahren, da auszusteigen und die 300 Meter bis zu unserer Wohnung zu gehen? Ich muss schon sagen, ich bin schwer enttäuscht. Schwerer als schwer. Also schwererer?" Sie lachte, "Ich glaube, dass mit der Steigerung versteh ich nie mehr." Sie seufzte.
"Außerdem muss ich eh meiner Mutter in ihrem Restaurant, oder wie das heißt helfen und das ist hier in der Nähe."
"Ja? Vielleicht das "La mamma"? Nein? Na ja, vielleicht ein anderes. Es gibt ziemlich viele hier." Hanna begann ungeduldig auf dem Rand des Springbrunnens, auf den sie sich mit ihrem Eis gesetzt hatten, herumzurutschen. Elena lachte.
"Jetzt lauf schon los. Du kannst es doch kaum erwarten. Ich bleib noch ein bisschen hier. Ich muss erst in einer halben Stunde anfangen. Los ab jetzt!"
"Oh, danke El! Du bist so herrlich unkompliziert. Danke, danke, danke!"
Sie küsste El auf beide Wagen und machte sich auf den Weg zu ihrem Date. Elena blickte ihr nach. Hanna war so glücklich, weil sie einmal das Richtige getan hatte. Das passierte ihr selten. Bei ihren Kumpels war das anders. Mit denen konnte sie alles machen und nie schien etwas falsch zu sein. Aber mit Mädchen kam sie in der Regel nicht so gut klar. Das war auch der Grund, warum sie in Spanien nur Kumpels hatte. Mit Maria Gomez, Pablos Schwester, hatte sie sich ein paar Mal getroffen, aber nur um ihr Nachhilfe zu geben. Zu sagen hatten sie sich eigentlich nie viel. Und so hatten sie sich nicht näher angefreundet. Elena war stattdessen weiter mit Francis und Paolo durch das Dorf gezogen und dem Bürgermeister den einen oder anderen Streich gespielt. Elena grinste. Was sie da alles gemacht hatten, das eine oder andere Mal waren sie sogar in ein paar Häuser eingestiegen. Natürlich nur um die noch geheimen Pläne des Bürgermeisters aufzudecken. Daher kam es, dass diese Pläne nie lange geheim blieben. Und das Elena und Francis fast jedes Haus von innen kannten.
"Hi! Du bist doch Elena Cortez, oder?" Elena drehte sich überrascht um. Da stand ein Junge mit einer Cola in der Hand und schaute sie unsicher an. Sie grinste.
"El, ja. Hi, wie heiß du denn?"
"Äh, … Tom." Der Junge strich sich verlegen über den Igelhaarschnitt. Das wäre in Spanien nicht passiert, El war einen Moment baff. Sie hatte eine geistreichere Antwort erwartet.
"Ach, ich erinnere mich, " log El, " aber was machst du denn hier?"
"Ich bin mit Tim im Kino gewesen. Aber er ist noch auf'm Pott." Er grinste, "Müsste gleich kommen. Normalerweise braucht er nicht so lange."
"Na dann. Was habt ihr denn geguckt?"
"Ein…"
"Hey El! Was machst du denn hier" Plötzlich stand Hannas Bruder über das ganze Gesicht grinsend hinter Tom. Elena lachte los, konnte er dieses Grinsen nicht lassen?
"Darauf warten, dass dreißig Minuten verstreichen. Was sonst?"
"Ich dacht du wärst mit Hanna shoppen? Ist sie schon weg?"
"Ja. Sie ist vor fünf Minuten zu ihrem Date gezischt. Sie war schon ganz ungeduldig!" Tom schlug seinem Freund auf den Rücken.
"Mensch, da bist du dreizehn Minuten älter als deine Schwester und sie hat ihr ersten Date vor dir. Du musst dich mal mehr anstrengen."
"Sieht so aus." Stimmte El zu, "Aber ich glaube nicht, dass er sich auf ein Date mit Phillip freuen würde!" Tom fiel der Mund auf.
"Was? Mit Phil? Oh, oh, was Janina wohl dazu sagt. Eiskalt abserviert." Zufrieden verschränkte er die Arme vor der Brust. El kicherte. So fühlte man sich viel wohler, wenn man mit Jungen lachen konnte. Die waren irgendwie anders als Mädchen. Ihre Freundinnen interpretierten Dinge in Sätze hinein, die sie nie gesagt hatte. Hanna vielleicht nicht, aber bei Loretta hatte sie es schon bemerkt.
"Wie war der Film?" Fragte Elena, um sich von ihren Gedanken abzulenken.
"Nen bisschen langweilig. Was meinst du, Tim, sollten wir El diesen Film empfehlen? Vielleicht als Schlafmittel?" Tim staunte, war er so lange auf dem Klo gewesen, dass sein sonst so schüchterner Kumpel Elena angesprochen hatte und jetzt sogar ihren Spitznamen wusste? Irgendetwas in Tims Bauch begann zu grummeln. Bestimmt bildete er sich das nur ein, aber Elena machte es einem auch wirklich leicht mit ihr zu sprechen. Nicht wie die anderen Mädels, die immer kicherten und dann kein Wort herausbrachten.
"Hm, wer weiß. Nachher wacht sie nicht mehr auf, schläft hundert Jahre und jemand muss sie wach küssen. Und stell dir vor, dass wäre dann keiner von uns!" Elena krauste die Stirn. Hatte sie etwas verpasst? Hundert Jahre schlafen und dann küssen. Da passte doch was nicht zusammen. Oder hatte sie sich verhört?
"Ist ein Märchen. Eine Prinzessin wird verflucht, muss 100 Jahre schlafen und wird dann von ihrem Traumprinzen wach geküsst. Musst du nicht kennen, voll der Kitsch!" Half Tom ihr auf die Sprünge. Na dann. Niemand konnte von ihr erwarten deutsche Märchen zu kennen!
"Was machst du eigentlich noch hier?" Erkundigte sich Tim, "Mit dem shoppen seid ihr doch längst fertig."
"Ja. Aber ich muss das Geld was ich ausgegeben habe bei meiner Mutter wieder verdienen. Ich helfe ihr beim bedienen in einem Cafe. Glaub ich."
"Was heißt glaub ich?"
"Ich weiß nicht was es ist. Kann auch ein Bistro sein. Helle Ledermöbel und viele alte Männer, die massig Trinkgeld geben."
"Keine Ahnung, ich achte nicht so darauf, wer viel Trinkgeld gibt."
"Solltest du aber. Das hilft dir wenn du da ein Ferienjob oder so machst. Zu denen musst du immer besonders nett sein, dann geben sie vielleicht noch mehr und kommen wieder."
"Ah ja!"
"Anderseits muss es dich nicht interessiere. Aber ich muss jetzt los. Kommt doch mit. Ich spendier euch ein Getränk frei Haus."
"Geht das nicht wieder von deinem Lohn ab?"
"Doch, aber macht nichts. Das geht schon klar. Ist ja nicht so viel. Also was ist?"
"Klar! Wenn das so ist. Tom?"
"Nee. Tut mir Leid. Aber ich muss zu meiner Ma. Soll mit ihr einkaufen. Echt schade." Er klatschte Tim ab und winkte El zum Abschied, dann drehte er sich um und ging.
"Äh, ja." Plötzlich wirkte Tim verlegen, "Wo ist den dieses Bistro?"
"Ein paar Straßen weiter. Komm mit! Aber sag mal, macht es dir was aus, wenn du alleine durch den Vordereingang gehst? Ich muss hinten rum, aber dafür bringe ich dir auch gleich ne Cola mit. Geht das?" Elena schielte unsicher zu ihm hoch. Sie ging nicht gerne durch den Haupteingang. Dann wurde sie immer sofort von den alten Opas heran gewunken und dabei hatte sie noch nicht einmal die "Uniform" der Bedienung an.
"Sicher!" Tim grinste wieder und sofort brach Elena in Lachen aus.
"Hör auf so zu grinsen!"
"Stört es dich?"
"Nein, ich muss nur immer lachen. Wenn du das nachher machst, verschütte ich den ganzen Kaffee!"
"Ok, dann reiß ich mich zusammen und lache nur, wenn du nichts in den Händen hast. Einverstanden?"
"Ja, das wäre eine Möglichkeit. So, du musst hier lang. Das Haus mit dem roten Schild. Setzt dich einfach ans Fenster, ich komm dann gleich!"
Und weg war sie. Nachdenklich ging Tim die Straße hinunter, bis er ein Haus mit rotem Schild fand. Er starrte einige Sekunden darauf, bevor er bemerkte was ihn so störte: über der Tür stand in geschwungenen Buchstaben Cräxx.
Hanna lächelte. Es gefiel ihm wenn sie lächelte. Er hatte sie heute schon oft zum lächeln gebracht. Alleine darüber, dass er hier mit ihr saß schien sie sich zu freuen. Er lächelte zurück. Doch plötzlich erstarb ihr Lächeln und sie blickte starr aus dem Fenster. Er folgte ihrem Blick und was er sah gefiel ihm gar nicht. Tim stand vor dem Fenster und las nachdenklich den Schriftzug über dem Eingang, dann schüttelte er den Kopf, zuckte die Schultern und betrat das Cafe. Was hatte er hier zu suchen? Beschattete er seine Schwester? War ihm gar nicht bewusst, dass er hier das bisher schönste Date seines Lebens versaute? Unwillig legte er die Stirn in Falten. Das war echt nicht nett. Er blickte wieder zu Hanna. Sie lächelte nicht mehr. Ob sie wohl dasselbe dachte wie er? Er blickte zu Tim zurück. Der sah sich kurz im Cafe um, nickte Phillip zu und setzte sich in ihre Richtung in Bewegung. Phillip versteifte sich. Das konnte doch jetzt echt nicht wahr sein, oder? Neben sich hörte er eine Bewegung, Hanna hatte sich halb von ihrem Sitz erhoben. Wahrscheinlich wollte sie ihrem Bruder die Meinung sagen. Bloß nicht, dann wäre die romantische Stimmung ganz und gar im Eimer. Doch kurz bevor Hannas Zwillingsbruder ihren Tisch erreichte drehte er ab und setzte sich an einen Doppeltisch am Fenster. Phil atmete auf, von dort wo Tim saß konnte man ihren Tisch nicht sehen. Hatte er das mit Absicht gemacht oder war es ein Versehen und Tim ärgerte sich jetzt darüber, dass er sie nicht sehen konnte? Hanna kicherte.
"Jetzt weiß ich echt gar nicht mehr was er hier will." Phillip blickte sie an, ja sie lächelte wieder.
"Sieht aus als hätte er sich mit der Bedienung verabredet. Guck mal! Sie bringt ihm eine Cola, obwohl er noch gar nicht bestellt hat!" Tatsächlich. Eine der Kellnerinnen des Cafes ging mit einer großen Cola gradewegs auf Tim zu. Doch komischerweise bedankte sich Tim erst bei ihr, als sie das Glas samt Tablett abgestellt hatte. Da grinste er und die Bedienung brach in Lachen aus. Doch sie saßen so weit entfernt, dass man nicht hören konnte über was sie sprachen. Plötzlich winkte einer der alten Männer weiter vorne im Cafe und die Bedienung verschwand. Tim nippte ein wenig an seiner Cola, dann winkte er eine andere Bedienung heran und fragte sie etwas. Sie nickte mit und verschwand. Kurz darauf kam sie mit einer weiteren Cola und zwei Strohhalmen zurück. Sie lächelte und verschwand wieder.
"Das wird ja immer seltsamer. Ich wusste gar nicht, dass er Mädchen außerhalb unserer Klasse kennt!"
"Da siehst du mal wie falsch du deinen Bruder einschätzt. Aber ich hätte es auch nicht gedacht." Fuhr er fort, als Hanna begann ihm mit Ellenbogen und Fußtritten zu bearbeiten, "Willst du noch ne Cola? Oder sonst was? Ich nehme auf jeden Fall noch eine Cola!" Er rief nach der Bedienung, die inzwischen wieder an Tims Tisch stand und von ihm aufgefordert wurde an der anderen Cola zu nippen, was sie anscheinend auch mit Freude tat. Sie stellte ihre Cola zurück und lächelte Tim an, welcher zurück lächelte worauf die Kellnerin wieder kicherte. Sie sah echt hübsch aus in ihrer Arbeitskleidung. Schmal aber durchtrainiert. Mit langen schwarzen Zöpfen. Ein Verdacht stieg in Hanna auf.
"Du Phil, ich glaube das ist…"
"Die Neue!" Vollendete Phillip ihren Satz.
Elena grinste Tim noch einmal zu, dann drehte sie sich um und begann in ihre Richtung zu gehen. Auf halben Weg hob ein alter Mann die Hand und winkte sie an seinen Tisch.
"Einen Kaffee noch Schätzchen, ja?" Er hob seine faltige weiße Hand an ihr Bein. Elena lächelte verbindlich und legte die Hand zurück auf den Tisch. Als sie endlich bei Hanna und Phillip ankam schnitt sie eine Grimasse.
"Puh. So ein Dreckskerl. Wenn er nur nicht so viel Trinkgeld geben würde…. Den würden wir hochkant rausschmeißen."
Sie blickte zu dem Alten, der seine Hand jetzt einer von Els Kolleginnen ans Bein legte.
"Das haben wir sogar schon einmal gemacht!"
"Könnten wir noch zwei Colas haben?"
"Sicher", grinste El, "die gehen aufs Haus!" Sie verschwand hinter einer Milchglastür, um kurz darauf mit zwei Colas zurückzukommen.
"Hier." Sie blickte auf die leeren Eisbecher, "Hanna, wie kann man nur so viel Eis essen?" Hanna grinste.
"Mund auf, Eis rein, Mund zu, schlucken."
"Klingt einfach." Sie hob die vier leeren Eisbecher auf ihren rechten Arm und balancierte sie zurück zur Küche.
"Wie heißt sie noch mal? Ich habe sie heute kaum bemerkt." Hanna schüttelte ungläubig den Kopf.
"Elena hat doch Frau Lampe den Trumpf aus der Hand gespielt. Sie hat doch alle Referate selber gehalten."
"Ach ja! Und dein Bruder hat danach den Mund nicht mehr zugekriegt. Ich erinnere mich. Seid ihr nicht zusammen in einem Zimmer?"
"Ja. Das wird bestimmt lustig. Freust du dich schon?"
"Aber sicher! Wir müssen unbedingt eine riesen Party schmeißen. Hast du besondere Musikwünsche?" Er lächelte Hanna zu. Eigentlich wusste er genau was sie gerne hörte; Rhianna.
"Kannst du Disturbia von Rhianna mitbringen? Ich liebe dieses Lied."
"Für dich doch immer. Wir kommen angeblich in ein richtiges 4-Sterne-Hotel. Wusstest du das?"
"Echt? Das ist ja geil." Hanna schrie auf, "Mit Bar und Telefon auf dem Zimmer? Echt?"
"Shh! Die Leute gucken schon alle." Phil beugte sich zu ihr rüber, "Ja mit allem, du kannst ja mal auf die Website gucken. Das ist voll das Luxushotel, mit Pool, einfach mit allem. Aber auf der Website steht auch, dass man in dem Tal sehr gut wandern kann. Ich hoffe Frau Lampe tut uns das nicht an."
"Wenn wir eineinhalb Wochen weg sind - mindestens jeden Tag. Du kennst doch Frau Lampe; viel Bewegung und frische Luft."
"Das kann ja noch was werden. Sitzen wir auf der Busfahrt?" Was? Hatte er sie tatsächlich gefragt ob sie im Bus nebeneinander sitzen wollten? Vor der ganzen Klasse? Vor Janina? Die würde ausrasten!
"Gerne. Du musst aber damit rechnen, dass ich schlecht drauf bin. Es ist schließlich Montagmorgens!"
"Ach, das bisschen schlechte Laune, das ist wie weggeblasen, wenn wir erstmal los sind."
"Wenn du's sagst."
"Aber sicher. So und jetzt gehen wir in den Park. Hier wird’s mir langsam zu eng. Elena? Könnte ich zahlen?" Phillip rief absichtlich ein wenig lauter als nötig, damit auch Tim mitbekam, dass Hanna nicht einen Cent zahlen musste. Sonst würde er wieder damit aufgezogen werden, dass er die Mädchen zahlen ließ. Das war ihm einmal passiert; wirklich nur einmal. Da hatte er sein Geld in der U-Bahn verloren. Aber natürlich hatte ihm das niemand geglaubt und das Mädchen hatte am nächsten Tag Schluss gemacht.
"32,90 Euro. Mann, und das alles in Eis investiert. Aber Tschuldigung, ich sollte mich da eigentlich nicht einmischen." Elena grinste, steckte das Geld ein und ging. Phil lachte.
"Ja, alles ins Eis. Komm." Er gab Hanna einen Kuss auf die Wange und führte sie aus dem Cafe.
"Hallo! Elena! Hallo, Frau Cortez. Es geht los! Es geht wirklich los. Ich kann es immer noch nicht fassen." Loretta lief ihnen mit Erika im Schlepptau entgegen.
"Sag mal, hast du Hanna schon gesehen? Ach du bist ja grad erst gekommen. Komm doch schon mal mit in den Bus, wir haben euch Plätze freigehalten." Sie lief los.
"Tschüss, Ma. Du kannst schon fahren, du musst schließlich zur Arbeit. Und mach dir um mich keine Sorgen, du weißt ja, dass es mir gut gehen wird. Ich fahr schließlich nach Hause!"
"Oh, Schatz!" Maria Cortez drückte ihre Tochter noch einmal fest an sich, dann drehte sie sich um und ging.
"Loretta? Erika?" Elena bahnte sich einen Weg durch den Bus, "Ich glaube nicht, dass ich mit Hanna sitzen werde. Soweit ich weiß sitzt sie mit Phillip."
"Was? Das ist nicht dein Ernst!"
"Doch." Elena berichtete von dem Date im Cafe.
"Ihr könnt sie selber fragen. Guckt sie hält Händchen mit Phillip. Wir sollten ihnen auch eine Bank frei halten." Sie warf ihre Jacke in die Sitzreihe hinter ihrer.
"Das gibt’s nicht. Guckt mal die Zickenclique. Wie die alle gucken. Mit wem sitzt du denn jetzt, El?"
"Keine Ahnung. Ich glaub ich frag mal Tim, der dürfte jetzt ja auch noch niemanden haben."
"Hört, hört!" Stichelte Loretta und Elena seufzte still. Das war es. Mädchen verstanden einfach nicht, dass man mit Jungen auch einfach nur so befreundet sein konnte. Dabei konnte man mit denen viel mehr Sachen machen als normalerweise mit Mädchen.
"Hey! Tim, warte mal. Mit wem sitzt du? Jetzt wo Phil dich quasi sitzen gelassen hat, kommst du dann zu mir?" Tim drehte sich erstaunt um. Das war ja mal ein Ding. Da fragte ein Mädchen, ob sie nicht sitzen wollten. Er wurde rot. Die ganze Busfahrt lang neben El zu sitzen, dass musste man sich mal vorstellen!
"Klar. Hat dich Hanna wohl im Stich gelassen, wie?" Er grinste, dass war doch mal ein Satz der sich hören lassen konnte!
"Ich habe was? Wenn habe ich sitzen lassen?" Hanna stapfte mit ihrem Verpflegungsrucksack den Gang entlang. Hinter ihr lief Phillip.
"Ach, gar nichts." Erika tat beleidigt, "Nur deine Freundin sitzen gelassen. Und dafür hat die Freundin dir auch noch einen Platz freigehalten. El ist echt … äh, mir fehlt das Wort." Damit zog sie Elenas Jacke von der Sitzreihe hinter ihnen. "Voila!"
"Cool. Danke, El. Möchte jemand von euch ein Jogi-Bussi? Ich hab welche mit!" Sie warf sich auf den Fensterplatz.
"Nein danke. Aber ich hätte nichts gegen ein richtiges." Phillip grinst frech, doch bevor Hanna etwas erwidern konnte rief eine Stimme aus dem hinteren Teil des Busses Phillip zu sich. Ergeben zuckte er sie Schultern und ging nachsehen, wer ihn gerufen hatte.
"Mensch Hanna! Du gehst echt mit Phillip Müller. Ich glaub's nicht. Überleg dir nur mal wie eifersüchtig Janina jetzt wohl ist. Alleine deswegen lohnt es sich schon."
"Hey, Loretta! Wie kannst du so was sagen. Als würde ich nur mit Phil gehen, weil ich Janina eins auswischen will. Du solltest nicht immer nur auf so was achten. Hör doch auch einmal auf…
"Pssst! Frau Lampe will was sagen." Zischte Franziska ein paar Reihen vor ihnen.
"… auf deine Gefühle." Vollendete Hanna ihren Satz. Dann schaute sie gespannt nach zu der Klassenlehrerin, die mit einem jungen Referendar bei den Busfahrern stand.
"Wenn ihr bitte einen Augenblick leise sein würdet. Ich würde euch gerne unsere beiden Busfahrer vorstellen. Harald und Simon. Sie werden sich auf unserer 10-Stunden-Fahrt mit dem Fahren abwechseln, damit wir ohne größere Unterbrechungen in Spanien ankommen können." Ein Zittern durchlief Elenas Körper. Spanien.
"Alles ok?" fragte Tim besorgt. Elena nickte stumm.
"Natürlich werden wir unterwegs auch eine größere Pause machen, damit ihr euch Essen kaufen könnt…."
"Gibt’s da Mces?" "Und Toilettenpausen?" Wann sind wir ungefähr da?"
"Immer mit der Ruhe! Winkt noch einmal euren Eltern, dann erkläre ich euch den Rest."
Alle Schüler mit Ausnahme von Elena drehten sich um und winkten bis sie hinter der nächsten Kurve verschwanden. Als sich der Tumult gelegt hatte, fragte Tim mit hochgezogenen Brauen.
"War deine Mutter gar nicht da?"
"Nein, sie ist schon gefahren. Sie muss noch zur Arbeit."
"Findest du es nicht schade, dass sie nicht geblieben ist. Ist doch irgendwie enttäuschend."
"Nein, nur nicht. Ich hätte es enttäuschend gefunden, wäre sie geblieben. Das würde dann doch heißen, dass sie sich Sorgen macht. Und das muss sie ja nicht, schließlich fahr ich, genau genommen, nach Hause." Sie grinste. Tim biss sich auf die Zunge, da hatte er wohl etwas Falsches gesagt.
"Na ja. Irgendwie hast du Recht, ich meine, wenn ich auch aus Spanien kommen würde,… und die Dinge so lägen…" Wie um ihn aus seiner Verlegenheit zu befreien ergriff Frau Lampe wieder das Wort.
"Also nun zum genauen Ablauf der Fahrt. Wir werden heute Mittag ungefähr um eins Uhr eine längere Pause machen. Mir wurde eben mitgeteilt, dass sich auf dem Rastplatz ein McDonalds befindet. Toilettenpausen machen wir immer dann, wenn der Busfahrer gewechselt wird. So jetzt habe ich euch noch eine schlechte Nachricht mitzuteilen. Herr Warner hat sich leider den Fuß verstaucht und hat deshalb…" Ohrenbetäubender Jubel unterbrach sie, "… und hat deshalb Herrn Schuhmann als seine Vertretung eingespannt. Vielleicht wollen sie sich selber vorstellen?" Der junge Lehrer nickte lächelnd und nahm das Mikrofon entgegen.
"Danke. Ok für alle die mich noch nicht kennen: ich bin Mr. Hyde; und für alle die mich kennen: Dr. Jekyll. Und da ich einige von euch zufälligerweise auch in Französisch und die gesamte Klasse Sport unterrichte, breche ich die Vorstellungsrunde an dieser Stelle ab." Lächeln übergab er das Mikrofon einer bis zum Haaransatz rot angelaufenen Frau Lampe.
"Ja.. j… ja. Also, dann werde ich, ja dann. Nun denn, wenn ihr Herrn Schuhmann schon so gut kennt, werdet ihr euch sicher Freuen, dass er sich erboten hat mit euch jeden zweiten Tag eine Wanderung zu unternehmen. Ich werde dieser Aktivität natürlich auch beiwohnen." Die Stimmung im Bus sank auf den Gefrierpunkt. Wandern. In Spanien, wo es immer heiß war?
"Frau Lampe, wir werden einen Hitzeschlag bekommen!" "Und Blasen an den Füßen. Ich habe gar keine richtigen Schuhe dafür dabei!" Typisch Janina, als wenn man in den Pyrenäen jeden Tag am Strand liegen könnte! Elena schüttelte den Kopf. Mit einem Mal war sie aufgeregt. Sie würde alle ihre Freunde wieder sehen. Francis. Paolo. Und Pablo. Ob sie wohl wussten, dass sie kam? Bestimmt. So wie sie Francis kannte hatte er sich die Gästeliste angeguckt, um zu erfahren, ob irgendwelche lohnenswerten Mädchen dabei waren. Die Arme die dieses Mal auf ihn hereinfiel! Janina würde Phillip bestimmt schnell vergessen, wenn sie erst einmal Francis, den braun gebrannten, perfekt gestylten, Spanier in die Augen gefasst hatte.
"Nein, es steht nicht mehr zur Debatte!" Ertönte Frau Lampes energische Stimme. "Wir wandern und damit basta!"
"Ja, genau. "Rief Hanna, "Seid lieber froh, dass wir nicht jeden Tag wandern müssen."
"Bring Frau Lampe auch noch auf die Idee!" Giftete Janina von hinten, "Los, Phil! Mach doch mal Musik an." Fuhr Janina mit gänzlich veränderter Stimme fort. Kurze Zeit darauf erklangen die ersten Takte von Disturbia. Elena drehte sich um, Hanna saß mit angehockten Beinen am Fenster.
"Tim, lass mich mal kurz durch. Ich muss zu Hanna." Flüsterte sie. Hanna war bestimmt traurig. Da war sie mit Phillip zusammen und der flirtete mit der Oberzicke der Klasse.
"Sag mal Elena, was hörst du eigentlich?" Elena fuhr herum. Hanna saß nicht mehr ans Fenster gelehnt da, sondern sie hatte sich jetzt an Phil gelehnt und schaute aus dem Fenster. Jetzt blickte sie interessiert auf. Wurde Phil langweilig, wenn sie nicht mit ihm redete?
"Unterschiedlich", Hörte sie Elena fröhlich antworten, "aber das Lied gefällt mir ganz gut.”
"Disturbia von Rhianna. Was hört ihr eigentlich in Spanien?"
"Da habe ich selten Musik gehört. Es gab eine Disco im Dorf, gehörte zum Hotel, da lief immer Musik. Aber ich war sehr selten da. Um genau zu sein noch gar nicht."
"Was? Du warst noch nie in einer Disco?" Loretta schüttelte ungläubig den Kopf, "Das müssen wir ändern. Es gibt eine in dem Hotel. Ich war mal auf der Homepage. Sieht echt cool aus da. Tolles Hotel, tolle Landschaft, tolles Dorf. Wir müssen da unbedingt mal shoppen gehen, wir brauchen ein paar spanische Souvenirs. Und habt ihr mal die traditionellen Kleider gesehen? So eine schmale Hüfte! Und diese Stickereien! Himmlisch." Elena kicherte.
"Ja, weißt du aber auch, wie lange wir daran sitzen, bis wir die Stickereien fertig haben oder die Taille so zurechtgeschnitten haben, dass sie richtig liegt? Das dauert Tage! Ich kann dir meins gerne mal zeigen." Sie kicherte immer mehr, "Und die Touristen kaufen immer billige Fälschungen, die geben auch noch viel Geld dafür aus. Echt Loretta, ich würde die Finger davon lassen. Du müsstest dir sonst auch noch Schuhe dazu kaufen, weil alle Schuhe die du hast, sie werden nicht zu dem Kleid passen." Jetzt lachte sie hell heraus, "Wie die Touristen sich immer auf diese Souvenirläden stürzen. Was Besseres hast du noch nicht gesehen!" Loretta starrte sie an.
"Du meinst all diese süßen Spanier in Loret de Mar haben sich über mich lustig gemacht, wenn ich mir an der Strandpromenade ein Souvenir gekauft habe?" Sie riss entsetzt die Augen auf.
"Nicht unbedingt. Aber auf jeden Fall, wenn du dir da ein teure Eis gekauft hast, was es ein paar Straßen weiter für ein Viertel des Preises gab." Jetzt lachten alle.
"Ich wette", Keuchte Erika, "dass ist uns allen schon mal passiert." Sie schaltete ihren iPod an und schwieg.
"Glaube ich auch." Meinte Tim, "Hey, Schwesterherz. Jetzt weiß ich warum dich der Typ in Italien letztes Jahr so angegrinst hat. Nicht weil er dich süß fand, sondern weil du dir das teuerste Eis am ganzen Strand gekauft hattest. Was es dann natürlich ein paar Straßen entfernt für 50 Cent gegeben hätte!" Er klatschte sich auf die Schenkel.
"Wer hat dich angestarrt?" Elena hörte einen leichten Schimmer von Eifersucht in Phils Stimme.
"Ach", murmelte Hanna, "nicht wichtig. Letztes Jahr im Italienurlaub, da war so ein Typ, der hat mir immer nachgestarrt. Bis ich Tim als meinen Freund ausgegeben habe. Nur Tim wusste nichts davon. Am Abend kam der Typ und hat Tim fast die Nase gebrochen. Na ja, er war auch zwei Köpfe kleiner als der Italiener." Elena grinste. Italiener waren nicht ihr Lieblingsgebiet. Italiener benahmen sich aber anscheinend nicht nur wie Casanovas, sie waren es anscheinend auch in Wirklichkeit. Das gleichmäßige Brummen des Busses schläferte Elena ein.
"Hey! El! Wir sind kurz vor der spanischen Grenze. Nur noch zehn Kilometer. Abendessen! Kommst du mit zu Mces?" Tim rüttelte sanft an ihrer Schulter.
"Was? Hab ich was verpasst?" Tim lächelte schwach.
"Du hast Wahrheit oder Pflicht verschlafen, aber sonst nichts. Was ist? Kommst du mit?"
"Ich glaub nicht. Ich habe keinen Hunger. Und wenn hätte ich eh noch nen Apfel und Brote. Danke." Tim zuckte enttäuscht die Schultern.
"Dann nicht. Aber schnapp ein bisschen frische Luft, du siehst ganz blass aus." Er erhob sich und ging zu den Anderen, sie schon draußen warteten. Träge stieg Elena aus dem Bus. Es war kühl draußen, aber auch trocken. Sie streckte sich, ja man merkte deutlich, dass sie Spanien immer näher kamen. Sie stieg wieder ein und kramte ihre Butterbrote heraus. Essend bemerkte sie, dass sich Herr Schuhmann und Frau Lampe im vorderen Teil des Busses unterhielten. Sie lauschte angestrengt konnte jedoch kein Wort verstehen. Sie zuckte die Schultern und lehnte den Kopf zurück. Plötzlich schob sich ein Schatten vor die blaue Notbeleuchtung des Busses.
"Elena?" Sie öffnete die Augen. Herr Schuhmann schaute besorgt in ihr Gesicht.
"Ja" Sie hob fragend die Augenbrauen. Sollte sie den Bus verlassen um Luft zu schnappen?
"Ich wat schon draußen und bin ein bisschen rum gegangen." Herr Schuhmann lächelte.
"Nein, darum geht’s nicht. Das Navi ist ausgefallen und wir haben keinen Atlas an Board. Frag mich nicht wie das passieren konnte. Natürlich könnten wir hier einen kaufen, doch wir haben festgestellt, dass diese Teile hier völlig überteuert sind. Jetzt haben wir vor, uns erst in Spanien einen zu zulegen. Unsere Busfahrer haben das so ausgemacht. Einige Franzosen von der letzten Raststätte wiesen uns allerdings darauf hin, dass Atlanten in Spanien höchst wahrscheinlich in Spanisch geschrieben sind. Also hätten wir die Bitte, dass du uns vielleicht ein Bisschen auf die Sprünge helfen könntest? Du kannst doch Atlanten lesen?" Elena nickte langsam. Was wollte Herr Schumann von ihr? Atlanten lesen, das konnte er auch. Ob die nun spanisch, deutsch oder englisch waren machte doch keinen Unterschied.
"Ok. Was wollen Sie wirklich von mir?" Herr Schuhmann zuckte zurück. Eine solche Direktheit hatte er nicht erwartet.
"Nun ja, wenn du so fragst. Komm nachher doch bitte nach vorne, dann erklären wir dir die ganze Sache. Einverstande?"
"Wenn Sie es so wollen." Sie schloss wieder die Augen.
"Hey El! Warst du überhaupt nicht draußen? Ich hab dich nirgends gesehen." Hanna stürmte in den Bus, in der Hand einen Cheeseburger.
"Hattest du keinen Hunger?"
"Nein, nicht wirklich. Oh, Hanna, weißt du wie lange wir noch brauchen, bis wir in Spanien sind?"
"Keine Ahnung. Zwei bis drei Stunden vielleicht. Ich bin pappsatt. Ich schaff gar nichts mehr. Willst du den Rest von meinem Cheeseburger?" Sie grinste. Der Rest bestand aus einem fast vollständigen Burger.
"Ich habe schon drei gegessen. Da nimm hin, wenn du ihn nicht willst, dann schmeißt du ihn einfach weg. Aber gib ihn ja nicht Tim, der hat schon vier!" Elena nahm den Burger und lehnte sich wieder ans Fenster. Langsam begann der Bus sich zu füllen. Sie meinte zu spüren, dass Tim sich neben sie setzte, doch sie war in eine Art Halbschlaf versunken und reagierte nicht darauf. Sie träumte; von Herr Schuhmann und Frau Lampe. Sie wurde von ihnen nach vorne geholt. Der Busfahrer war eingeschlafen und sie sollte jetzt den Bus lenken, doch sie kam weder an das Gaspedal noch an die Bremse. Also gab Herr Schuhmann Gas. Doch plötzlich tauchte ein überdimensionaler Atlas auf der Straße auf und Herr Schuhmann wollte einfach nicht bremsen. Und der Atlas kam immer näher. Jetzt konnte sie schon Einzelne Länder darauf erkennen; Frankreich und Spanien, dazwischen ein Gebirge. Dann erkannte sie auch das kleine Städtchen in den Bergen und darüber schwebte ein großer Adler. Plötzlich wurde sie von Geschrei geweckt.
"Spanien, wir sind in Spanien!" "Wir haben`s geschafft!" "Endlich. Wir sind da!"
"Was wir sind schon in Spanien?" Elena konnte es nicht glauben, obwohl Tim neben ihr nickte und begeistert schrie. Da entdeckte sie ein Schild: Espania.
"Wir sind in Spanien! Wir sind in Spanien!" Stürmisch umarmte sie Tim. "Und stell dir vor ich habe die Einreise verschlafen." Sie umarmte ihn noch einmal.
"Ja!" Er grinste und Elena lachte, "Du hast fast die ganze Fahrt verpennt!"
"Oh!"
"Macht nichts. War eh nicht interessant. Wir müssen nur noch ein paar Stunden fahren!" Elena sah sich um. Überall jubelten und schrieen ihre Klassenkameraden durcheinander und miteinander. Hinter ihr gab Hanna Phil vor Freude einen Kuss. Loretta und Erika umarmten sich. Janina erlaubte Mareike sie zu umarmen. Doch irgendwann schlief der Bus ein. Es wurde still. Elena betrachtete die Landschaft. Täuschend friedlich und ruhig. Elena wusste, dass plötzliche Stürme dieses Gebiet gerne heimsuchten. Sie biss in ihren Cheeseburger.
"Elena? Bist du wach?" Sie drehte sich um. Phillip lugte neugierig durch die Ritze zwischen den Sitzen.
"Aber sicher! Ich habe bisher noch nicht im Schlaf gegessen." Sie lächelte.
"Oh. Was meinst du. Das wird bestimmt die beste Klassenfahrt auf der Welt. In ein Hotel, mit Pool und allem!"
"Ich kann nicht schwimmen." Stellte Elena fest. Der Junge lachte.
"Was? Das meintest du doch jetzt nicht ernst, oder?"
"Doch. Ich habe es nie richtig gelernt." Phillip lachte noch mehr.
"Na ja, " räumte Elena ein, "ich kann mich aber schon über Wasser halten, wenn es unbedingt von mir verlangt wird!"
"Sicher. Ich dachte alle Spanier können schwimmen? Wenn ihr den ganzen Tag am Strand seid und so."
"Wie witzig. Ich komme aus den Bergen. Da gibt es kein Meer oder so was in der Art. Nur einen eiskalten See, den gab's." Phillip lachte immer noch.
"Ich glaub's nicht. Sie kann echt nicht schwimmen!" Machte er sich über sie lustig? Hätte sie doch bloß nichts gesagt. Aber es war ihr einfach so rausgerutscht. Sie biss sich auf die Zunge.
"Elena? Könntest du bitte einmal nach vorne kommen?" Herr Schuhmann erschien im Gang. Elena kletterte über den schlafenden Tim und folgte dem Sportlehrer.
"Elena, Frau Lampe und ich hätten eine Bitte an dich. Wir haben, wie alles wissen, die Verantwortung für euch übernommen. Nun sehen wir aber mit wachsender Besorgnis, wie sich deine Freundin Hanna und Klassenschwarm Phillip immer näher kommen. Es freut und natürlich für sie, aber wir können keinen Jungenbesuch auf Mädchenzimmern dulden. Und andersherum natürlich auch nicht. Da du nun eine sehr gute Schülerin bist, wollten wir dich bitten, ein Auge auf die Beiden zu haben und darauf zu achten, dass sie diese Regel in jedem Fall einhalten. Haben wir uns verstanden?"
"Ich glaube nicht, dass ich die Richtige für diesen job bin, Herr Schuhmann! Sie könnten doch Janina fragen, die würde diese Arbeit mit Freuden erledigen. Aber ich bin nun wirklich nicht die Beste dafür."
"Aber, aber, Elena. Du hast die besten Noten aus der ganzen Klasse. Du musst dich nicht wie ein Schleimer oder Streber fühlen, nur weil du uns diesen Gefallen tust." Frau Lampe beugte sich vor und schaute El eindringlich an.
"Ich kann es versuche, Frau Lampe. Aber ich glaube, sie hätten jede Andere wählen können und ihre Wahl wäre besser ausgefallen." Müde schlich Elena zurück auf ihren Platz. Was sollte sie tun? Ihrer Freundin verbieten, wen sie mit aufs Zimmer brachte? Wenn es sich nur um die Nacht gehandelt hätte, hätte sie es ja noch nachvollziehen können. Aber es klang, als ob Frau Lampe sie auch den ganzen Tag trennen wollte! Nicht, dass sie besser für die Aufgabe geeignet wäre, wenn es sich nur um die Nacht gehandelt hätte. Womöglich wäre ihre Aufgabe dann noch schwerer. Aber auch so schon. Sie, die alle Regeln und sogar Gesetzte gebrochen hatte, sie sollte dafür sorgen, dass andere Regeln einhielten! Sie seufzte. Schwere Aufgabe. Sie hatte nicht vor sie auszuführen. Mit Ärger konnte sie umgehen. Das hatte sie lernen müssen. Ein paar Mal wären Francis und sie schließlich um ein Haar erwischt worden. Aber niemand konnte es beweisen. Alle wussten es und niemand konnte es beweisen. In dieser Zeit hatten sie alle gut zusammenhalten müssen. Denn es gab jede Menge Ärger, doch sie hatten es überstanden. Und ihre Freundschaft war daran nur gewachsen. Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf an das Fenster.
Als sie die Augen wieder öffnete dämmerte es bereits und sie fuhren eine sehr vertraute staubige Serpentinenstraße herauf.
Francis lief quer durch die große Eingangshalle des Hotels. Vor dem Tresen bremste er abrupt und blickte sich um. Niemand zu sehen. Doch anstatt die Klingel zu betätigen, drehte er sich um und pfiff leise. Wie auf Kommando streckten zwei weitere Jungen den Kopf um die Ecke. Francis ging weiter um den Tresen herum. Auf einer Ablage entdeckte er eine Liste mit den neuen Reservierungen. Zielstrebig griff er danach und schlug die dritte Seite auf. Langsam ließ er seinen Finger über die Namen wandern, bis er gefunden hatte, was er suchte. Er winkte seine Freunde heran und zeigte schweigend auf einen der Namen. Dann glitt sein Finger weiter über diverse Daten und Nummern. Er verharrte einen Augenblick auf der Zimmernummer, bis er dann auf dem Ankunftsdatum endgültig stehen blieb. Fast erfurchtsvoll blickten die drei auf das dicke Heft. Plötzlich ertönte das scharfe Klacken von Absätzen, die energisch über den Marmorboden der Hotelhalle eilten. Starr vor Schreck standen die Freunde hinter der Rezeption. Unfähig sich zu rühren. Wenn dieses Klacken doch nur die Richtung ändern würde! Doch stattdessen würde es lauter und lauter. Einen Augenblick später hatte es die Rezeption erreicht. Doch von den drei Jungen, welche das Zimmermädchen eben noch hinter der Theke hatte stehen sehen, fehlte jede Spur. Sie zuckte mit den Schultern, drehte sich um und machte sich mit großen Schritten auf den Weg in den Speisesaal, man hörte wie die Glastür hinter ihr ins Schloss fiel. Sofort tauchten die Köpfe der drei Freunde wieder über dem Tresen auf. Francis grinste.
"Die Dienstmädchen werden auch immer dümmer!"
"Nee", erwiderte Paolo, "das lag daran, dass die neu ist. Jede Andere hätte uns bemerkt."
"Glück gehabt, kann man da wohl nur sagen." Pablo warf einen Blick über die Schulter und strich sich nervös über die Haare.
"Jetzt lasst uns abhauen, bevor uns noch jemand bemerkt." Er drehte sich um und folgte Paolo, der gebückt zu einem Hinterausgang rannte. Francis schüttelte den Kopf über so viel Dummheit. Dann warf er noch einen Blick auf das Buch, legte es zurück auf die Ablage, winkte der Überwachungskamera freundlich zu und folgte seinen Freunden nach draußen.
"Ich frage mich, wann sie uns bemerken." Francis war in Gedanken vertieft.
"Wieso sollten sie uns bemerken?" Pablo schaute überrascht auf.
"Ich habe einen netten Gruß hinterlassen."
"Du hast was!" Paolo fuhr herum.
"Nur damit sie uns nicht für total plemplem halten." Jetzt grinste Francis.
"Ok", fragt Paolo ruhig, "was hast du gemacht?" Er war von seinen Einbrüchen mit Francis und Elena so einiges gewohnt, aber so etwas hatte er noch nie gehört.
"Ich habe ganz lieb und nett in die Ãœberwachungskamera gewunken."
"Ãœberwachungskamera?" Pablo wirbelte herum.
"Klar, was denkst den du? In so einem Hotel gibt es dutzende von den Teilen. Wir brauchen sogar zwei Wachmänner, um alle Bildschirme kontrollieren zu können. Die Frage ist nur, ob, beziehungsweise wann, meine Ma gesteckt bekommt, dass wir an der Rezeption waren."
"Das hättest du uns auch früher sagen können!"
"Beruhig dich", versuchte Paolo zu schlichten, "wir hätten von selber drauf kommen können. Und so viel hätte ich mindestens von El lernen müssen. Sei sicher, dass dich niemand sieht, wenn du nicht gesehen werden willst! Hat sie immer wieder gesagt. Wir Idioten!" Pablo guckte seinen Kumpel erstaunt an.
"Ihr seid mit El in Häuser eingebrochen?" Francis brummte zustimmend.
"Sicher. Sie ist ein Naturtalent darin. Ich glaube es gibt kein Haus hier, welches sie nicht von innen kennt. Sie hat es sogar gebracht abends beim Bürgermeister einzusteigen und bis zum morgen in seinem Bett zu pennen. Das war echt geil. Nur frühstücken konnte sie nicht mehr. Aber sie sagt, der Pool war auch gut. Natürlich nicht zum Frühstück. Die hat echt was drauf." Pablo grinste. Ja, das klang ganz nach Elena. Aber wieso war er nie dabei gewesen? War er so wenig vertrauenswürdig? Er spürte einen ganz kleinen Stich der Eifersucht, als ihm klar wurde, dass Francis und Paolo so viel mehr Zeit mit El verbracht hatten als er.
"Aber das tut hier nichts zur Sache. Glaubt ihr mir jetzt? El kommt wieder. Ich hatte es euch doch gesagt." Einträchtig nickten Pablo und Paolo mit den Köpfen.
"Du hattest Recht. Allerdings halte ich es für angebracht, wenn wir uns heute ausnahmsweise in der Schule blicken lassen. Wir waren die ganze letzte Woche noch nicht da. Die Mittagspause fängt in zehn Minuten an. Wir müssen uns ganz schön beeilen, wenn wir noch pünktlich kommen wollen." Pablo und Francis stöhnten. Dann grinsten sie sich an, setzten sich alle drei auf den Boden und fingen an ihr Pausenbrot zu essen.
Alles kam Elena vertraut vor und gleichzeitig doch wieder nicht. Die staubigen Seitenstraßen, die Häuser, von denen sie mindestens jedes zweite von innen gesehen hatte, die Kirche und der Springbrunnen. Sie erkannte sogar einige von den Menschen, die auf der Straße entlangliefen wieder. Doch alles schien ihr seltsam fremd. Wenn sie alleine durch die Straßen und über den Marktplatz gerannt wäre und den Geruch ihres Dorfes eingeatmet hätte, hätte sie sicher anders empfunden. Schließlich gelangte sie zu dem Schluss, dass es wohl an der Perspektive lag. Als Tourist sah man nur das, was man sehen sollte. Die dreckigen Straßen konnte man von hier nicht sehen. Auch von den klapprigen Holzhütten am Dorfrand bekam man nichts mit. Der Bus fuhr eine Strecke, die einen alle diese Makel übersehen ließen. Man sah die alte Kirche mit den Springbrunnen und das Rathaus mit seinen hohen Mauern. Auf alle Touristen musste diese Fassade mächtig Eindruck machen. Elena grinste. Jetzt wo sie dahinter gekommen war, konnten die Sehenswürdigkeiten sie nicht mehr über die Realität hinwegtäuschen. Es knackte im Lautsprecher und ein hohes Quietschen ertönte. Erschrocken hielten sich die Schüler die Ohren zu.
"Entschuldigung," vernahm man nun Herr Schuhmanns Stimme wieder klar durch das Mikro, "das war nicht beabsichtigt. Wir machen jetzt gleich eine kleine Sightseeing Tour, damit ihr euch nachher an die gröbsten Details, was für ein Widerspruch, nicht Frau Lampe, erinnern könnt. Zu unserer Rechten könnt ihr das Rathaus sehen. Es wurde 1922 erbaut. Fast direkt daneben liegt die malerische Dorfkirche aus dem 16. Jahrhundert, die aber inzwischen einige Male renoviert wurde. Ich möchte eure Blicke nun auf die berühmten "Springbrunnen der Nixen" lenken. Sie bieten eine einzigartige Kombination aus Wasser und Sonnenlicht, welchen reflektiert wird und so zurückge…"
"Und nun," rief Phillip mit lauter Stimme, "darf ich Sie bitten ihre Blicke aus dem linken Fenster gleiten zu lassen. Sie werden ein riesiges Hotel erkennen, welches und für die nächste Woche Unterschlupf gewähren wird!" Sofort brach ein ohrenbetäubender Tumult los. Niemand achtete mehr auf Herrn Schuhmann und Frau Lampe, die verzweifelt versuchten, den entstandenen Tumult zu beenden. Als der Bus vor dem Hotel hielt, war die Ordnung noch nicht einmal halbwegs hergestellt.
"Ihr seid jetzt sofort still, oder es gibt in den nächsten Tagen keine Disco!" Das wirkte. Frau Lampe seufzte erleichtert, als die Schüler sich wieder auf ihre Sitze gleiten ließen.
"Herr Schuhmann ist zum Einchecken an die Rezeption gegangen. Wir werden uns draußen vor dem Bus versammeln und geschlossen in das Hotel gehen. Ich will keine Ausnahmen. Sobald wir unsere Zimmer haben, werden wir euch eine halbe Stund Zeit geben, eure Sachen auszupacken. Danach treffen wir uns im Speisesaal. Wir haben Halbpension, dass heißt wir werden Frühstück und Abendbrot bekommen, dazu Getränke. Vom Buffet darf nichts mit auf die Zimmer genommen werden. Das wiederum heißt, dass wir uns über Mittag selbst zu verpflegen haben, aber dafür haben wir schließlich Geld mitgenommen. Nicht? Ach, und ich will keine Beschwerden über euch hören. Weder beim Essen noch sonst wann. Erinnert euch daran, dass wir nicht alleine sind. Es ist ein Hotel, keine Jugendherberge. So ich glaube das war alles. Ich wünsche euch eine angenehme Klassenfahrt!" Sie legte das Mikro beiseite und stieg aus dem Bus. Sofort brach das Chaos von neuem aus, alles drängte und schob zu den Türen. Elena stopfte ihre Jacke in den Rucksack und quetschet sich hinter Tim auf den Gang.
Sie kniff die Augen zusammen, als sie aus dem Bus in das grelle Sonnenlicht stieg. Es kribbelte auf ihrer Haut, es war warm. Sie öffnete die Augen ganz und drehte sich einmal im Kreis. Ja, hier war sie zu Hause.
"Elena, ich glaube das ist deine Tasche, oder?" Mareike streckte deutete auf eine Tasche, "So wenig wie du hat sonst keiner mitgenommen." Die Zickenclique lachte.
"Glaube ich auch. Was wollt ihr denn alle mit den Sachen? Habt ihr etwa eure Wintermäntel dabei?" Janinas Lachen rutschte eine Oktave höher.
"Hört euch das an. Elena glaubst du wirklich in einem Hotel kommt man mit einer Garderobe zu wechseln aus? Phillip hast du das gehört?" Ihr lachen wurde noch künstlicher. Sie warf Phillip einen glühenden Blick zu. Elena grinste, irgendwie hatten alle von Janinas Aktionen nur einen Grund. Sie drehte sich um, als Loretta ihr auf die Schulter tippte.
"Oh, Mann! Das ist echt geil hier. Sonne! Und guck dir mal das Hotel an! Riesig. Das ist der Hammer!"
"Ja, richtig warm hier. Das wird die beste Klassenfahrt meines Lebens."
"Aber klar doch. Sonst kann ich gerne nachhelfen." Tim hatte sich zu ihnen gestellt und zwinkerte El verschwörerisch zu. Loretta kicherte.
"Wie lange," wechselte El das Thema, "braucht ein normaler Mensch, um mal eben schnell einzuchecken?"
"Herr Schuhmann," warf Loretta lachend ein, "ist eben einfach kein normaler Mensch."
"Dann anders. Selbst ein unnormaler Mensch braucht nicht so lange um einzuchecken, oder?"
"Nein. Beziehungsweise, anscheinend schon."
"Ich sollte mal meinen Tasche holen."
"Sag mal El, bist du dir sicher, dass du alles dabei hast?" Loretta runzelte die Stirn.
"Nicht mal die Jungs haben so wenig mit."
"Hey was soll das heißen?" Tim verschränkte die Arme vor der Brust.
"War nicht so gemeint. Aber El hat wirklich sehr wenig mit. Hast du echt alles dabei?"
"Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube schon."
"Was? Elena Cortez. Du bist dir nicht sicher?" Entsetzt riss Loretta die Augen auf. Ihre Freundin kicherte. Doch genau in diesem Moment kam Herr Schuhmann in Begleitung eines Liftboys wieder.
"So, wenn ich euch jetzt bitten dürfte, mir zu folgen. Mein Begleiter wird uns den Weg zeigen. Please, Francesco, would you show us the way?"
Elena erstarrte. Francis. Langsam drehte sie sich um. Da stand tatsächlich Francis in einer lindgrünen Liftboyuniform. Auf seiner linken Brusttasche klebte ein Schild:
Francesco
Liftboy
Zusätzlich trug er noch eine ebenfalls lindgrüne Fliege. Unwillkürlich ließ Elena ihren Blick zu seinen Füßen gleiten und konnte ihr Lachen nicht mehr länger verbergen. Alleine ein Francis, der in einer grünen Uniform steckte, war schon urkomisch. Aber wenn er dazu auch noch seine alten abgenutzten Turnschuhe trug, dann war das Ganze wirklich zum schreien. Als sie wieder aufschaute, begegnete sie Francis leuchtenden Augen.
Wider Willen war El gerührt. Francis hatte sich doch extra in einen Liftboy verwandelt, nur um sie vor allen Andere zu sehen!
Loretta sah voll Staunen auf den schicken Liftboy neben ihrem Lehrer. Mit so süßen Jungs hatte sie nicht gerechnet. Ob er wohl auch in seiner Freizeit in der Nähe des Hotels war? Verstand er überhaupt deutsch. Spanisch konnte sie nicht, wie sollte sie ihn nur ansprechen. Ob Elena ihr wohl helfen würde? Bestimmt, aber würde sich ein Spanier nicht viel eher für so eine hübsche Spanierin interessieren, als für eine durchschnittliche Deutsche, die nicht mal seine Sprache sprach? Sie schüttelte den Kopf, nein eine schlechte Lösung. Wenn kein deutsch und kein spanisch, was dann? Englisch? Verstand er es? Klar ein Liftboy würde zumindest ein paar Brocken Englisch sprechen. Wie Schuppen fiel ihr von den Augen, dass Herr Schuhmann doch vorhin Englisch mit dem süßen Jungen geredet hatte. Sie war gerettet! Hatte Hanna ihn schon entdeckt? Loretta drängelte sich durch ihre Klassenkameraden. Schnell, wo war Hanna nur. Und Erika und Elena? Ungeduldig umging sie einen Koffer. Beeilung, nachher war der Liftboy verschwunden, ohne das ihre Freunde ihn gesehen hatten!
"Hanna, hast du schon den Liftboy gesehen? Oh, Mann, der ist vielleicht süß!"
"Wie sollte ich ihn übersehen haben?" Hanna lachte ihr entgegen, "Wo Janina doch urplötzlich wie versteinert stehen blieb, Mareike auch. Sie hat den Kerl angestarrt sag ich dir. Sie ist sich hundertprozentig sicher, dass sie in höchstens zwei Tagen mit ihm zusammen ist. So ein Selbstbewusstsein möchte euch haben. Na, wenigstens habe ich Phil jetzt ganz für mich allein." Zufrieden verschränkte sie die Arme vor der Brust.
"Glaubst du sie schafft das? Ich nicht. Und wenn werde ich persönlich dafür sorgen, dass das nicht passiert."
"Wow, Loretta! Komm lass uns deinen Traumprinzen doch einmal angucken gehen. Ich möchte ihn auch einmal aus der Nähe betrachten."
"Wen?" Phil war aus dem Nichts vor ihnen aufgetaucht.
"Lorettas Zukünftigen. Den Liftboy, den Herr Schuhmann mitgebracht hat."
"Ich glaube," er machte eine kurze Pause, "da kommt sie zu spät." Er rückte ein Stück zu Seite und gab den Blick auf den Liftboy frei. Dieser guckte mit leuchtenden Augen Elena hinterher, die ihre Tasche packte und auf sie zustiefelte.
"Mann, hier herrscht das totale Chaos."
"Elena!" Hanna schielte sie von der Seite an.
"Was?" Verwirrt bemerkte sie dass sie von allen angestarrt wurde, "Was? Hab ich ein Fleck auf dem Shirt?"
"Sag bloß du hast es nicht bemerkt. Das glaub ich nicht. Selbst Janina hat bemerkt, dass er dich angestarrt hat." "Wer?"
"Das ist kein Wunder Hanna. Die merkt es doch sofort, wenn nicht sie nicht der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit eines Jungen ist." Mischte Loretta sich ein. Sie warf noch einen Blick auf den süßen Jungen. Er lächelte Frau Lampe freundlich an und erklärte ihr irgendetwas über ein Gebäude neben dem Hotel.
"Na, der Hoteljunge. Er hat dich vorhin die ganze Zeit angestarrt." Elena verzog die Stirn.
"Der Hotelboy? Glaub ich nicht, da musst du dich täuschen." Sie drehte sich um. Gleichzeitig blickte Francesco Eleonora auf. Ein Kribbeln lief durch Elenas Körper, am liebsten hätte sie ihre Tasche fallen lassen und wäre auf ihn zugestürmt. Endlich konnte sie ihn wieder sehen. Nach drei Monaten! Ihre Tasche fiel auf den Boden. Aber bevor sie auch nur einen Schritt machen konnte, blickte Francesco wieder weg. Enttäuscht wandte Elena sich wieder Loretta zu.
"Da musst du dich echt getäuscht haben." Zweifelnd nickte ihre Freundin, doch ein leichter Hoffnungsschimmer keimte in ihr auf. Wenn Elena kein Interesse an dem Typen zeigte, hatte sie vielleicht noch eine Chance. Sie war schließlich nicht hässlich. Eher hübsch. Ohne eingebildete zu klingen, das konnte sie ohne Scham behaupten. Sie drehte sich noch einmal um, aber Francis war verschwunden.
"Wow, Leute, die Spanier lassen es sich echt gut gehen. Jetzt feiern sie schon Feste unter der Woche." Erika schüttelte den Kopf.
"Sei doch froh, jetzt erleben wir gleich am ersten Tag was Interessantes. Das ist besser als 'ne Wanderung." Gestern mussten sie gleich zu ihrer ersten Wanderung antreten. Ein Gewaltmarsch über Stock und Stein zu einer Felswand mit Malerei. Zugegeben, der Wand war beeindruckend, aber bei 33 Grad wandern war nicht jedermanns Sache. Am Abend waren sie erschöpft und durstig in die Hotelbar eingefallen. Phillip schaute auf seine Uhr.
"Sagt mal, warum brauchen Loretta und Elena denn so lange? Wir warten schon eine Viertelstunde."
"Phil, das ist bei Mädchen noch normal, besonders bei Loretta." Hanna grinste als sie an Lorettas vielen Cremes und Kleider dachte.
"Kann ja sein, aber die anderen sind schon alle weg. Wir verpassen noch das Fest. Selbst Tim und so sind schon gegangen."
"Hast Recht", Erika zuckte die Schultern, "ich gehe mal gucken." Sie drehte sich um und entfernte sich in Richtung Zimmer. Phillip legte Hanna einen Arm um die Schultern.
"Sag mal, warum brauchen Mädchen immer so lange?"
"Falsche Frage. Außerdem gibt es auch Jungs, die morgens lange brauchen."
"Ach ja? Gibt es da konkrete Beispiele?" Phillip strich mit dem Finger leicht über Hannas Wange. Es kribbelte. Ihr schwirrte der Kopf. Ging das nicht ein bisschen schnell? Was sollte sie jetzt machen, wenn er sie küsste? Sie lehnte sich an die kalte weiße Wand des Hotelflures und blickte zu ihrem Freund hoch. Phillip hatte schon viele Freundinnen gehabt, bestimmt hatte er auch einige von ihnen geküsst. Sollte sie ihm jetzt sagen, dass sie noch nie einen festen Freund hatte? Oder würde sie dann den Moment zerstören? Phillip fing wie beiläufig eine Strähne ihres Haares ein und wickelte sie um seinen Finger. Langsam senkte er den Kopf. Plötzlich schoss einer der spanischen Liftboys um die Ecke und prallte mit voller Wucht gegen Phillips Schulter. Der Aufprall war so heftig, dass er taumelte und hingefallen wäre, hätte Hanna ihrem Freund nicht noch rechtzeitig unter die Arme gegriffen. Den Jungen im grünen Anzug hingegen schien der Zusammenstoß nicht das Geringste ausgemacht zu haben. Hanna erkannte in ihm Lorettas Schwarm wieder.
"Oh, Sorry. I am very sorry about this. Excuse me. It will not happens again." Höflich hielt er Phillip die Hand hin. Seufzend schlug dieser ein.
"Weiß er denn gar nicht, dass er gerade einen der romantischsten Momente in meinem Leben zerstört hat?" Er zuckte mit den Schultern. Hanna schoss das Blut in den Kopf, hoffentlich fiel keinem auf wie rot sie geworden war.
"Jetzt ist er hin." Der Spanier schaute kurz zwischen ihnen hin und her, doch dann setzte er seinen Weg fort.
"Das ist doch der, in den Loretta verknallt ist, oder?" Hanna guckte dem Jungen hinterher.
"Woher soll ich das wissen, sie ist doch deine Freundin. Aber der Anzug steht im ganz und gar nicht. Er sieht aus als hätte er noch andere Klamotten drunter." Sie blickten dem schlanken Jungen hinterher, der auf einmal abrupt stehen blieb. Er schien nachzudenken. Langsam drehte er seinen Kopf zurück. Doch kurz bevor sein Blick Hanna und Phillip erreichte erstarrte er. Sekundenlang verharrte er in dieser Pose, schließlich zuckte er mit den Schultern und setzte eilig seinen Weg fort. Hanna schüttelte den Kopf.
"Was sollte das denn? Das sah aus als würde er irgendwas sehen, was wir nicht sehen." Phillip kicherte.
"Wie meinst du das denn? Ich sehe was, was du nicht siehst? Ich glaube eher, er wollte dich noch eine Weile anstarren, doch dann hat er sich an mich erinnert und Angst gekriegt." Zufrieden verschränkte er die Arme vor der Brunst und lehnte sich an die Wand. Von links hörte er ein Kichern.
"Was gibt es da zu Lachen? Glaubst du mir etwa nicht?"
"Klar doch. Er hat Angst gekriegt!" Hanna wand sich vor Lachen, "Vor was denn? Hast du dir den mal angeguckt? Der macht selbst Klitschko Konkurrenz."
"Was? Du guckst anderen Jungen hinterher? Ich glaub's ja wohl nicht!" Phillip runzelte die Stirn, eigentlich hatte er nicht vorgehabt so eifersüchtig zu reagieren. "Da hast du schon…" Er hielt inne. Hanna starrte an ihm vorbei. Die Kinnlade war ihr heruntergeklappt. Schaute sie schon wieder diesem Spanier nach? In seiner Gegenwart und so offensichtlich? Langsam drehte er sich um, er wollte nicht sehen, was er glaubte gleich zu sehen. Als er sich Vollendens umgedreht hatte staunte auch er nicht schlecht über das Bild, welches sich ihm bot. Loretta und Elena waren aus dem Zimmer gekommen. Loretta hatte ihre blonden langen Haare zu zwei Zöpfen geflochten, während Elenas Haare offen und in langen dunklen Wellen über ihr mit roten Stickereien verziertes Kleid fielen. Obwohl Elena sich halb hinter ihrer Freundin verbarg, konnte man erkennen, dass ihr Kleid um einiges bewundernswerter zu sein schien. Es lag wesentlich enger an ihren schlanken, fast schon dünnen, Körper an und der Stoff schien auch besser zu sein. Lorettas Kleid hingegen war mit blaugrünen Bändern dekoriert und hatte einen tiefen V-Ausschnitt. Sie grinste Phillip an.
"Ja, ja. Aber eifersüchtig sein wenn die Freundin einem Anderen nachstarrt." Peinlich berührt klappte der Angesprochene seinen Mund zu, Hanna kicherte.
"Hey, ihr seht echt gut aus. Wo hast du denn nur das Kleid her, Loretta? Ich wette hundert zu eins, dass du es dir gestern gekauft hast. Aber wann?" Sie umkreiste ihre Freundinnen und geriet immer wieder über die Feinheiten von Elenas Kleid in Verzückung.
"Ach, so zwischendurch. Elena hat den Preis für mich von 28 auf acht Euro fünfzig heruntergehandelt. Du hättest die Beiden sehen müssen, es war fast so, als würden sie sich kennen. Und aufeinander eingelabert haben sie, so schnell und temperamentvoll. Es sah echt aus, als würden sie sich kennen. Nur das es so aussah, als hätte der Verkäufer gehörigen Respekt vor ihr." Loretta zupfte nervös an ihrem Zopf.
"Ja, ich muss zugeben, ihr seht spitze aus. Tim wird vor dir knien El, aber ich muss sagen, gegen Hanna seid ihr nichts." Mischte Phillip sich in Lorettas Monolog ein.
"Oh, du gemeiner Mistkerl, war ja klar, dass du parteiisch bist!"
"Was heißt denn hier parteiisch? Ich halte mich eben nur an die Wahrheit…"
"Die diesmal eine totale Lüge ist!" Fiel Hanna ihm ins Wort und hauchte ihm ein Bussi auf die Wange, "Aber trotzdem danke."
"Von mir aus gerne. Soll ich's noch mal sagen? Gibt’s dafür dann wieder einen Kuss?" Hanna schielte schelmisch zu ihm hoch.
"Frag Elena doch mal. Vielleicht hast du ja Glück und sie verwechselt dich mit Tim. Dann kommst du zu einem gratis Elena-Bussi."
"Wer spricht den hier von Elena?"
"Hä? Was hab ich damit zu tun?"
"Doing. Guten Morgen Elena. Auch schon aufgewacht. Ich hoffe Sie haben wohl geruht. Es war ein ziemlicher Lärm, darum könnte es sein, dass Sie das eine oder andere Wort nicht mitbekommen haben. Wir können dieses Gespräch auch gerne noch einmal wiederholen, drücken Sie dazu einfach die Taste mit der eins, wenn Sie allerdings lieber ein neues Hörgerät kaufen wollen, drücken sie die Zwei, sollten Sie sich dazu entscheiden das Gespräch zu beenden, drücken Sie den Knopf mit dem kleinen roten Hörer." Kopfschüttelnd sah Hanna ihre Freundin an. Elena bekam heute aber auch gar nichts mit.
"Sorry, ich habe den Wecker nicht gehört, darum müssen Sie meine Unaufmerksamkeit entschuldigen. Wenn man schläft, kann man Gesprächen in der Regel nicht so gut folgen." Antwortete El todernst. Loretta grinste.
"Tja, Hanna. Das nennt man schachmatt. Los jetzt aber nichts wie zum Fest, wir sind schon viel zu spät dran!" Sie drängte die anderen Richtung Aufzug wie eine Entenmutter ihre schnatternde Kückenschar.
"Stopp, Stopp! Loretta warte." Elena schnappte sich einen Zipfel vom Kleid ihrer Freundin, "Wenn wir schon in diesen Kleidern dahingehen, dann auch mit den restlichen Accessoires. Warte ich hole sie dir." Schnell wie ein Wiesel verschwand sie in ihrem Hotelzimmer.
"Hey Leute, einen Moment noch. El holt noch was." Hanna drehte sich um.
"Wieso, was fehlt denn noch?" Loretta zuckte mit den Schultern. "Ach, komm. Lasst uns am Aufzug warten." Sie drehte sich wieder um, Loretta hob noch einmal die Schultern und folgte ihrer Freundin.
"Elena beeil dich, wir warten vor dem Lift."
Als keiner der Freunde der Zimmertür hinter ihnen mehr Beachtung schenkte, streckte der Liftboy seinen Kopf um die Ecke. Sei Mund verzog sich zu einem Grinsen, als er Lorettas Kleid entdeckte. Nicht übel, Elena hatte ganze Arbeit geleistet. Er blickte zur geöffneten Tür von Zimmer 154. Was soll's, irgendwann sieht sie und doch, warum nicht jetzt. Dann bin ich wenigstens der Erste, den sie begrüßt. Er grinste wieder. Dann lief er zielstrebig auf die geöffnete Tür zu. Dann ging alles sehr schnell. Kurz bevor er die Tür erreichte schoss Elena mit zwei kleinen schicken Körben aus ihr heraus und knallte sie hinter sich zu. Damit hatte sich Francis Weg drastisch verkürzt, bremsen konnte er nicht mehr. Er hatte nur die Wahl wogegen er laufen konnte. Die Tür war hart und es würde peinlich werden, wenn man erfuhr, dass er gegen eine geschlossene Tür gelaufen war. Also Elena. Na ja viel weicher würde der Aufprall nicht werden, seit ihrer Abreise vor acht Wochen schien sie noch dünner geworden zu sein, fast zu mager. Ich muss sie ein bisschen aufpäppeln dachte er. Diese Gedanken gingen ihm im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf. "Loretta! Warte ich komme!" Francis registrierte, wie sich Elenas Freundin umdrehte und die Augen aufriss, dann prallte er aus vollem Lauf gegen El.
"Ahh" Meine Güte, er hatte vergessen wie hoch Elena schreien konnte! Der Zusammenstoß hatte eine ganze Reihe von Reaktionen ausgelöst, die alle gleichzeitig zu passieren schienen. Zuerst flog Elena durch die Wucht des Aufpralls auf den Boden. Im Flug schwenkte sie Hilfe suchend ihre Arme, was zur Folge hatte, dass der Inhalt der Körbe, lauter kleinen Blütenblätter, in die Luft geschleudert wurde und jetzt langsam zu Boden segelte. Gleichzeitig hörte er Elenas Freunde geschockt aufschreien und zurücklaufen. Das würde wohl Ärger geben, die waren bestimmt nicht begeistert, dass er ihre Freundin umgerannt hatte. Egal. Er sprang wieder auf die Füße und streckte Elena, die immer noch auf dem Boden saß, die hand hin. Ungläubig blickte sie zu ihm hoch. Frech grinste er zurück. Sein Lächeln verblasste allerdings, als er sah, dass Elena ebenfalls die Mundwinkel hochzog und ein lustiges Funkeln in ihre Augen trat. Er zog die Hand zurück und hob sie schützend vor sein Gesicht. Doch obwohl er nur einige Sekunden brauchte, um zu dem Schluss zu gelangen, dass diese Pose ihn wesentlich besser schützte, war Elena aufgesprungen und gab ihm zwei schallende Ohrfeigen. Eine rechts, die Andere links. Vor der zweiten Schelle zögerte sie etwas und Francis atmete erleichtert auf, als er ihre Hand schließlich auf seiner Wange fühlte. Von Elena war er anderes gewohnt, da waren drei Bachpfeifen noch ziemlich harmlos. Er hob halb grüßend halb dankend die Hand, doch bevor er anfangen konnte zu sprechen, spürte er, wie zwei Hände ihn von Elena wegzogen. Ihre Freunde, wie konnte er die vergessen? Er riss sich mit einer Drehung los und bog dem Jungen die Hände auf den Rücken. Verblüfft schrei dieser auf. Jetzt wurde es laut. Jeder schrie auf ihn ein, eines der Mädchen schlug ihn sogar. Francis grinste. Es hatte seine Vorteile, wenn man kein Deutsch verstand. Aus ihren Gesichtern war zwar abzulesen, dass sie in nicht gerade lobten, aber solange er nichts verstand, konnte er sich die besten Komplimente darunter vorstellen. Auch Elena schien es langsam zu dämmern. Sanft schob sie ihre blonde Freundin zur Seite.
"Lasst das. Er versteht kein deutsch. Nachher denkt er, ihr lobt ihn, weil er Phil erfolgreich die Arme auf den Rücken gedreht hat."
Loretta verdrehte die Augen.
"El, so doof ist der nicht. Außerdem war das das mindeste, was man bei seinen Muskeln erwarten konnte!" Kichernd wandte Elena sich an Francis. Die Szene die sich ihnen nun bot war geradezu köstlich zu nennen. Die kleine magere Spanierin stemmte die Hände in die Hüften und stellte sich so dicht wie es ging vor den durchtrainieren Spanier. Sie hielt allerdings etwas Abstand, um Phillip, dem immer noch dir Arme auf den Rücken gedreht waren, nicht zu zerquetschen. Dann begann sie heftig auf Francesco einzureden. Ihre Freunde standen etwas ratlos dabei, da sie kein Wort verstanden. Selbst wenn sie einen Spanischkurs absolviert hätten, hätten sie nichts verstanden. Aber langsam dämmerte es Hanna, Erika und Phillip, was Loretta meinte, als sie sagte, die der Kleiderhändler schien einen höllischen Respekt vor der temperamentvoll und schnell redenden Spanierin gehabt. Denn obwohl sie den Sinn des Gesagten nicht verstanden, die Wirkung sahen sie dennoch. Der Liftboy lockerte zuerst seinen Griff und dann ließ er Phillip ganz los, besser gesagt, er stieß in Hannas Arme. Hanna fing Phillip gerade noch auf, bevor er stolpern und auf den Boden fallen konnte, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Streit zwischen den beiden Spaniern zu. Jetzt hatte auch der Junge begonnen wütend auf seinen Gegner einzureden und bevor er sich versah holte Elena aus und gab ihm noch eine Ohrfeige. Bevor irgendjemand auch nur reagiere konnte drehte sie sich um, hakte sich bei Hanna ein, zog sie mit sich den Gang herunter und wandte sich an Loretta:
"Schade, jetzt müssen wir ohne die Blumen auskommen. Aber ich glaube, es werden schon genug auf den Straßen liegen."
Hätte eines der Zimmermädchen diese Szene beobachtet, ihm wäre der Mund aufgeklappt und wahrscheinlich wäre ihm auch die frisch gewaschene Bettwäsche heruntergefallen. Wäre Ana Eleonora, Francescos Mutter, zeuge der Auseinandersetzung geworden, sie hätte gelacht und Elenas Talent als Schauspielerin gelobt. Denn der Streit war keineswegs ein Streit. Elena hatte befohlen Phillip los zu lassen. Danach hatte sie sich einfach mit Francis über das Fest unterhalten.
Frau Lampe hatte nicht zu viel versprochen. Das Fest war - gewaltig. Überall in den Straßen tanzten Menschen, sangen und musizierten, verkauften Souvenirs oder kleine Törtchen für Touristen und über allen lag der Duft von dutzenden von Blumen. Die Spanier hatten Blumengirlanden über die Straßen gehangen und warfen aus kleinen Körben immer wieder Blütenblätter in die Luft. Doch auch der strenge Geruch von Schweiß und Abgasen lag in der Luft, er erschwerte das Atmen ungemein. Dazu kamen auch noch der Staub und die drückende Hitze in den Straßen. Bei vielen Touristen sah man deutliche Schweißflecke unter den Armen. Trotzdem liefen alle in fiebriger Erwartung dem Marktplatz entgegen.
"Oh mein Gott! Guckt euch das an! Ist das geil! Elena was sagst du? Das ist so cool! Sag doch was. Wie findest du es?" Loretta drehte sich vor Freude im Kreis. Elena zuckte die Schultern.
"Typisches Fest für Touristen eben. Ohne Sinn und Verstand, würde man in Deutschland sagen. Wer kommt schon auf die Idee ohne Grund ein Fest zu feiern? Das Dorf muss arm dran sein, echt." Betretendes Schweigen. Elena fühlte, dass sie ihren Freunden gerade gehörig die Laune verdorben hatte. Ohne ein Wort zu sagen kämpften sie sich durch die Menge. Sie blieben nur kurz stehen, um zwei Jugendlichen zuzuhören, die einer Trommel geradezu himmlische Rhythmen entlockten. Doch als sich der Rhythmus änderte, zog Elena sie schnell weiter. Kurz vor dem Marktplatz hielt selbst für Erika das Schweigen zu lange an.
"Leute, was ist denn genau auf dem Marktplatz? Alle gehen hin, aber keiner sagt mir wieso." Fragend sah sie ihre Begleiter an, schließlich erbarmte sich Elena.
"Der Bürgermeister hält eine Rede. Verstehen werdet ihr allerdings nicht. Für das Image des Touristenfestes ist es wichtig, dass er spanisch redet. Kommt er fängt gleich an. Ich übersetze für euch!"
Je näher sie dem Marktplatz kamen, desto dichter standen die Leute. Elena musste beide Ellenbogen einsetzten, um sich und ihren Freunden einen Weg nach vorne zu bahnen. Die Leute murrten, machten aber widerwillig Platz. Als sie sich bis zum Podium, welches in der Mitte des Platzes stand, durchgeschoben hatten, trafen sie auf den Rest der Klasse.
"Da seid ihr ja." "Endlich!" "Was habt ihr so lange gemacht?" "Wow! Loretta, Elena! Wie seht ihr denn aus?" Rufe der Bewunderung erklangen. Phillip legte seine Arme um die beiden Mädchen.
"Meine beiden Schönheiten. Da ich noch eine andere als Joker habe, stehen diese meistbietend zum Verkauf frei!"
"Oh, du gemeiner Dreckskerl! Verkäuflich sind wir also, ja?" Loretta tat beleidigt, "Dann setz wenigstens einen hohen Einsteigerpreis fest!" Alle lachten.
"Also ich würde nicht allzu viel bieten, " hörte man Janinas Stimme, "diese Kleider kriegt man doch in jedem Souvenirshop."
"Ja, aber wir reden auch vom Inhalt. Nicht von der Verpackung:" Damit hatte Phillip die Lacher wieder auf seiner Seite.
"Still! Still! Der Bürgermeister will mit seiner Rede anfangen." Elena reckte den Kopf, um einen Blick auf den dicklichen Politiker zu werfen.
"Na und, Elena? Außer dir versteht sowieso keiner was." Meckerte Mareike und Janina nickte zustimmend.
"Schon mal was von Dolmetschern gehört, Mareike? Als Spanisch - Deutsch Dolmetscherin bin ich gerade so noch zu gebrauchen." Konterte Elena. Sie drängelte sich bis direkt vor die Bühne. Sie standen im Rücken des Bürgermeisters. An dieser Seite gab es eine kleine Holztreppe auf welche Elena sich nun setzte. Einige Augenblicke später begann der Bürgermeister zu sprechen.
"Sehr verehrte Damen und Herren. Wir sind hier versammelt, um dieses Fest zu feiern. Ich danke Ihnen, dass Sie so zahlreich erschienen sind und so gute Arbeit bei der Dekoration und sonstigen Vorbereitungen geholfen haben. Ich bin Ihnen sehr dankbar. Das Ergebnis Ihrer und Meiner Bemühungen ist nun hier zu sehen." Elena machte eine Pause, "Ja, ein Fest für den Massentourismus. Bah!" Sie fuhr fort, "Dank Ihrer Bemühungen haben hunderte Besucher den Weg zu diesem bescheidenen…" Protest erklang, "… nun ja, prachtvollen Fest gefunden. Ich kann Ihnen nur noch einmal herzlichst danken." Elena schwieg.
"Was ist?" Fragte Tim, "Warum sprichst du nicht weiter?"
"Der Teil jetzt ist nicht so ganz für Touristen geeignet. Besser gesagt gar nicht." "Aber es gibt doch bestimmt einige Touristen, die spanisch sprechen, oder? Was ist mit denen? Denkt er nicht an die?" "Doch. Darum spricht er mit Slang. Extremen Slang. Du kannst es mit der Jugendsprache in Brasilien vergleichen, eine komplett eigene Sprache. Darum kann er sich darauf verlassen, dass ihn nur diejenigen verstehen, die ihn auch verstehen sollen."
"Und du beherrschst diesen "Slang" nicht, oder warum übersetzt du ihn nicht?" Fragte Franziska heuchlerisch.
"Doch. Ich verstehe den Herrn da oben. Aber ich sagte bereits, dass dieser Teil nicht für Touristen geeignet ist. Ah. Ist auch egal, jetzt redet er wieder normal." Sie wollte gerade wieder ansetzen, als ein heller Ausruf den Bürgermeister unterbrach. Elena klappte der Mund auf. Sie spürte wie es in ihr zu kribbeln begann.
"Oh, es wird spannend!" "Los! Schnell El! Übersetz doch schon!" Von allen Seiten bedrängt, hob sie schließlich die Schultern und nickte ergeben.
"Ok, gerade hat jemand "Heuchler" gerufen. Und jetzt schimpft der Bürgermeister leise vor sich hin. Ah, es geht los." Der Bürgermeister begann wieder zu sprechen.
"Nun, ich äußerte soeben nochmals meinen aufrichtigen Dank…" Er wurde unterbrochen. Ein Junge hatte sich auf einem der Plattdächer ganz in der Nähe erhoben. Er stellte einen Fuß auf die Umrandung, welche das Dach umgab.
"Du hast nicht deinen Dank geäußert. Lügner!" Überall auf dem Platz schnappten die Leute nach Luft. "Du hast über ein Fest für den Massentourismus geredet, was dem Dorf eine Menge Geld bringt. Was für ein sonderbarer Weg um seinen Dank zum Ausdruck zu bringen." Der Bürgermeister wurde puterrot im Gesicht. Eine Ader auf seiner Stirn schwoll auf beachtliche Größe an.
"Du wagst es…" Der Junge auf dem Dach unterbrach ihn.
"Und danach auch noch so weiter zu reden, als ob nichts gewesen wäre - ich würde gerne den Hut vor dir ziehen," die Ader auf der Stirn begann bedenklich zu pochen, bei dieser respektlosen Anrede "leider besitze ich keinen. Aber du hast einen sehr schicken Zylinder auf deiner Glatze. Moment, jetzt werde ich doch einen Hut von dir ziehen." Mit diesen Worten ergriff er eine der Blumengirlanden, löste den Knoten, der sie mit dem Dach verband, trat einen Schritt zurück und schwang sich über die Kante. Atemberaubende Stille folgte. Der ganze Platz hielt die Luft an. Alle Augen folgten dem schlanken Jungen, der sich an der Girlande wie an einer Liane über den Platz, direkt auf das Podium, schwang. Leise wie eine Katze landete er direkt neben dem Bürgermeister. Hunderte schweigender Menschen sahen zu ihm auf. Plötzlich hörte man zwei Freudenrufe. Dort wo eben noch der Junge gestanden hatte, erschienen zwei weitere. Hanna konnte den einen von ihnen ohne Schwierigkeiten als den Liftbox aus dem Hotel identifizieren. Nur das er jetzt statt der Uniform, Freuzeitkleidung trug und nicht gerade billige, wie sie sogar auf diese Entfernung bemerkte. Die Jungen stießen mit der Faust in die Luft und riefen etwas. Fragend blickte sie zu Elena. Elena nickte und machte sich ans übersetzen.
"Die Beiden meinten einfach nur, dass der Junge gut gesprungen ist. Guckt lieber auf das Podium." Tatsächlich war das Geschehen auf dem Podium wesentlich interessanter. Der schlanke Junge hatte ohne große Komplikationen dem Bürgermeister den Hut vom Kopf gerissen und ihn in die Luft geworfen. Der Kopf des ehrenwerten Herrn hatte unterdessen ein noch kräftigeres Rot angenommen, die Ader auf seiner Stirn schien einer Explosion nahe.
"Lauf! Pablo, lauf!" Der Ruf kam von den Jungen auf dem Dach. Sie schienen zu merken, dass der Bürgermeister sich dieses Spiel nicht mehr lange gefallen lassen würde und hielten die Flucht für die beste Lösung. Der Junge hob zum Zeichen, dass er verstanden habe die Hand, fing den Hut wieder auf und legte ihn mit einer spöttischen Verbeugung auf dem Podium ab. Dann drehte er sich blitzschnell um und rannte mit drei großen Schritten auf die Treppe zu. Mitten im Lauf erstarrte er. Fassungslos blieben seinen Augen den Bruchteil einer Sekunde an Elena hängen. Dann wirbelte er wieder herum.
"Verdammt! Ich komm hier nicht weg." Er rannte wieder auf die andere Seite des Rednerpultes um dem Bürgermeister, der sich inzwischen zu einer Verfolgung entschieden hatte, auszuweichen und überlegte fieberhaft, wie er fliehen konnte ohne Elenas Anwesenheit zu verraten.
"Bleib stehen, Bursche. Du kommst hier nicht weg. Gib einfach auf. Was auch immer dein Plan war, du kannst ihn nicht mehr ausführen."
"Oh, ich hatte keinen Plan. Ich wollte nur einmal im Leben einen Hut in die Luft werfen, der vorher auf einer Glatze saß. Und da ich nicht vorhabe mir eine Solche zuzulegen, musste ich die Gelegenheit beim Schopf ergreifen. Ich danke Ihnen, Sie haben mir einen Traum erfüllt." Er deutete während des Laufens eine Verbeugung an. Das war sein Verhängnis. Da er für einen Augenblick nicht sehen konnte, wo er auftrat, blieb er mit einem Fuß an einer hoch stehenden Latte hängen und schlug der Länge nach hin.
"Tja, Bursche. Man sollte sich nicht freuen, wenn man keinen Ausweg sieht!" Mit für seine Behäbigkeit erstaunlicher Geschwindigkeit griff er dem am Boden liegenden Pablo in den Nacken und zog ihn hoch. Die beiden Jungen auf dem Dach schrieen wütend auf. Hanna zog scharf die Luft ein.
"Elena. Oh mein Gott, was macht er mit dem Jungen?"
"Oh, gleich nichts mehr." Erwiderte sie mit entschlossener Stimme. Bevor auch nur irgendjemand sie daran hindern konnte, sprang sie auf das Podium. Im ersten Augenblick wurde sie von Niemandem bemerkt, der Bürgermeister drehte ihr den Rücken zu und sein Publikum starrte nur ihn an. Das blieb so bis Frau Lampe wenige Sekunden später mahnend ihren Namen rief, damit lenkte sie die Blicke auf Elena. Auch den des Bürgermeisters. Hatte Frau Lampe nun damit gerechnet, dass dieser ihre Schülerin schleunigst von der Bühne schicken würde, so hatte sie sich getäuscht. Fassungslos musste sie mit ansehen, wie der Kopf des Bürgermeisters mit einem Schlag weiß wurde. Er sah aus, als hätte er gerade eine Begegnung mit einem Geist gehabt. Elena überlegte einen Moment. Dann lächelte sie und sprach den Bürgermeister auf Englisch an.
"Pech nur, Herr Bürgermeister, wenn der Ausweg wieder frei wird, nicht?"
Darauf brach ein kleines Chaos los. Die Jungen auf dem Dach riefen jubelnd: "El Cortez!"
In der Menge hörte man das eine oder andere gemurmelte. "Cortez."
Und der Bürgermeister sagte leise und zischend: "Elena Cortez!"
"Ja, Elena Cortez. Muss Sie ja nicht wirklich überraschen, oder? Ich habe schließlich noch nie gefehlt, wenn es Massentourismusfes… große Feste gab. Daran erinnern Sie sich doch sicher. Ich will nicht hoffen, dass ich so schnell aus den Gedächtnissen der Menschen verschwinde." Einige Jugendliche auf dem Marktplatz stießen zustimmende Rufe aus. Elena schenkte ihnen ein Lächeln.
"Und wenn ich noch so lebhaft in den Gedächtnissen vorhanden bin, " sie nickte in Richtung der Jugendlichen, "dann wird es nicht sehr verwunderlich sein, dass ich denke, dass ich Sie nicht erst wieder daran erinnern muss, dass ich es nicht sehr schätze, dass Sie meinem Freund da so im Schwitzkasten halten. So was konnte ich noch nie leiden. Ich verabscheue Gewalt, das wissen Sie doch. Also lassen Sie ihn los." Der Bürgermeister rührte sich nicht.
"Oh, aber solange ich ihn hier behalte, habe ich dich in der Hand, Elena Cortez." Er lächelte triumphierend. Zu seiner Verwirrung lächelte Elena zurück. Sie griff nach seinem Hut und drehte ihn demonstrativ in den Händen.
"So, jetzt steht es wohl Gleichstand. Pablo ist für sie doch nur so viel Wert, wie für mich dieser Hut und… oh, nein ein schlechtes Beispiel." Sie blickte wieder auf den Bürgermeister. Dann zog sie ganz langsam ihre Hand aus dem Hut, doch nur so weit, wie gerade nötig, damit der Bürgermeister den Gegenstand sehen konnte, der auf ihrer Hand lag. Kaum das der Bürgermeister ihn gesehen hatte, steckte Elena ihn schon wieder in den Hut.
"Ich korrigiere, der Hut ist für mich gerade um einiges wichtiger geworden. Darf ich Sie auf etwas hinweisen?" Sie lächelte noch freundlicher, "Verstehen Sie das unter keinen Umständen als Drohung, darüber wäre ich untröstlich. Aber Ihnen liegt doch sicher daran, Ihren Zylinder wieder auf dem Kopf zu spüren, ehe ich durch Zufall dazu kommen sollte, mir den Inhalt genauer anzusehen. Liege ich da richtig? Also ja. Hm, wie wäre es dann, wenn wir einfach den Hut gegen den Jungen tauschen? Ein zufrieden stellender Ausweg aus dieser Situation. Für uns Beide, finden sie nicht?"
"Was denkst du dir? Ich lasse mich nicht erpressen!" Vom Dach klang Gelächter.
"Herr Ronaldo, Sie sind doch soeben darauf hingewiesen worden, dass dieses unter keinen Umständen als Drohung verstanden werden darf. Sie würden El in tiefe Depressionen stürzen." Francis lachte spöttisch.
"Ãœbertreib nicht, Francis." Wies Elena ihn zurecht, "Sonst setzt es wieder welche. Obwohl das ja gar nicht nötig ist, denn es gibt schließlich einfache Worte der Ermutigung zur Beseitigung ungewollt auftretender doch unvermeidlich vorkommender immer wieder aufgerührter…"
"Schachmatt El. Du hast's mal wieder bewiesen. Du hast ein Gedächtnis wie Chaco!" Elena knickste ironisch. Dann wandte sie sich wieder ihrem Gegner zu.
"Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt. Sie überlegen so lange. Haben Sie mich richtig verstanden?" Der Kopf des Bürgermeisters hatte inzwischen seine tief rote Farbe wieder gefunden.
"Du willst mir den Hut doch nicht etwa stehlen?" Erwiderte der Bürgermeister scheinheilig.
"Oh nein! Wie kommen sie denn darauf? Ich bin mir lediglich sicher, dass der Inhalt dieses Hutes ursprünglich nicht in Ihrem Hut zu finden war." Jose Ronaldo kniff die Augen zusammen.
"Wie meinst du das?"
"Nein, so nicht Herr Bürgermeister. Ich müsste den Gegenstand aus dem Hut ziehen um Ihnen zu zeigen was ich meine. Ich glaube, daran kann Ihnen nicht so viel liegen, oder? Der Gegenstand ist letztendlich sehr einprägsam." Sie schob ihre Hand abermals in den Zylinder.
"Wollt ihr mich zum Narren halten? Da nimm deinen Freund und gib mir endlich meinen Hut wieder." Mit mühsam unterdrücktem Zorn nahm er seine Hand von Pablos Nacken. Schnell wie ein Reh sprang dieser zu Elena und stellte sich hinter sie, dabei versuchte er, einen kurzen Blick in den Hut zu werfen. Aber er hatte nicht mit Elena gerechnet. Sie stieß ihm schmerzhaft in die Seite und hielt den Hut außerhalb seiner Reichweite.
"Und jetzt wollen Sie sicher Ihren Hut wiederhaben, Herr Jose Ronaldo. Bitteschön. Ich lege ihn auf Ihr Podium, Pablo musste eben ja auch selber hierher kommen, nicht? Darum können Sie auch selber zum Hut kommen. Nochmals bitteschön, hier ist Ihr Hut." Damit legte sie den Zylinder zurück auf das Rednerpult. Doch im selben Augenblick zog sie Pablo mit nach vorne und sprang neben der Kopfbedeckung auf den Tisch. Dann salutierte sie vor dem Gemeindeoberhaupt verbeugte sich in Richtung der Jugendlichen, bedeutete ihrem Begleiter ihr zu folgen und sprang hoch. Etliche Leute auf dem großen Marktplatz geben Angstschreie von sich, als Elena nach einer Blumengirlande über ihrem Kopf griff und sich mit einer anmutigen Bewegung herauf schwang. Rittlings auf ihr sitzend half sie Pablo hinauf, ohne dass die Girlande allzu sehr ins Schwanken geriet. Dann begann sie sich Richtung Hausdach fortzubewegen, auf welchem inzwischen die anderen beiden Jungen erschienen waren. Hanna hielt den Atem an. Was machte Elena da? Eins war klar, Elena kannte dieses Dorf. Sehr gut sogar. Und auch den Liftboy kannte sie. Selbst der Bürgermeister schien mit ihr bekannt zu sein. Plötzlich fiel es Hanna wie Schuppen von den Augen. Sie keuchte, so doll traf sie die Erkenntnis. Phillip legte beruhigend den Arm um sie.
"Was ist?"
"Das fragst du noch? Guck mal was El gerade macht. Leute, Elena kennt dieses Dorf. Sie kommt hierher."
"Wovon redest du? Erika, Loretta, Tim, hei, kommt mal her. Wisst ihr was sie meint?" Es dauerte einen Moment bis sich die Freunde zu ihnen durchgeschoben hatten. "Womit?"
"Leute, glaubt mir doch. Elena kommt hierher. Sie ist hier aufgewachsen. Und wir haben nichts davon gewusst. Wir haben sie auch nie nach Spanien gefragt." Ihre Freunde sahen sich an.
"Nein, haben wir nicht. Bist du dir sicher?" Ratlos sah Tim seine Schwester an.
"Ja, es stimmt. Elena hat bis vor drei Monaten noch hier gewohnt. Wir sind froh, dass sie wieder da ist."
Erschrocken fuhren die Freunde herum. Vor ihnen stand ein etwa achtzehnjähriges Mädchen mit kurzen braunen Haaren, dunklen Augen, langem Kleid und lächelte sie an.
"Hallo! Ich bin Carla. El hat mich gebeten den Rest der Ansprache von Bürgermeister Ronaldo zu übersetzen. Ich habe ein Auslandsjahr in Deutschland, in Vlotho, gemacht. Darum spreche ich deutsch. Hört zu der Bürgermeister spricht weiter." Sie machte Anstalten zu übersetzten. Doch Frau Lampe unterbrach sie.
"Sie sagten, Elena hätte Sie gebeten für uns zu übersetzen. Wo ist sie jetzt? Ich muss über den Aufenthaltsort meiner Schülerinnen informiert sein!"
Carla blickte auf.
"Ich bin leider nicht befugt Ihnen darüber Auskunft zu geben. Ich kann Ihnen lediglich sagen, dass es ihr gut geht. Sie und Pablo sind gut bei Francis und Paolo angekommen. Sie hat mich gebeten, anstelle von ihr zu übersetzten. Niemand weiß, wo sie sich jetzt aufhält. Darf ich jetzt beginnen?"
"Als Lehrer ist es unsere Pflicht auf die Schülerinnen und Schüler aufzupassen. Also würde es uns wirklich helfen, wenn Sie uns ihren Aufenthaltsort mitteilen."
"Wie ich bereits sagte, keiner weiß, wo sie sich befinden. Außerdem erwähnte ich auch, dass es mir nicht erlaubt ist, Auskunft über Elena Cortez Aufenthaltsort zu geben. Ich darf sie außerdem darauf hinweisen, dass sie Ihre Aufsichtspflicht soeben verletzt haben. Wären Sie gute Lehrer, hätte Ihnen das ja wohl nicht passieren können. Und jetzt müssen sie mich entschuldigen, die Ansprache des Bürgermeisters ist beendet und ich habe die Anweisung, mich nicht dem Bürgermeister zu zeigen." Zu Statuen erstarrt standen Frau Lampe und Herr Schuhmann da, niemand hatte es bisher gewagt so mit ihnen zu reden. Sie vor ihren Schülern bloßzustellen! Keiner hatte das bisher getan. Ärgerlich war auch, dass sie hier keine Möglichkeit zu einer Bestrafung hatten. Das Mädchen war eine völlig Fremde, sie konnten ihr keinen Tadel oder gar einen Schulverweis erteilen und das machte die beiden Lehrer fast vollständig machtlos. Carla drehte sich um, besann sich aber noch mal eines anderen und wandte sich wieder an Hanna.
"Du bist schlau. Ich hoffe ich sehe dich wieder. Auf wieder sehen." Dann umarmte sie die verblüffte Hanna und verschwand in der Menschenmenge.
Elena rutschte auf das Plattdach. Sie lachte.
"Mann, El. Coole Aktion!" Pablo lachte mit, "Was war denn in dem Hut?" Elena hörte auf zu lachen.
"Was denkst du dir eigentlich? Mitten auf einem Fest den Bürgermeister zu blamieren?" Sie lief zum anderen Ende des Hauses und sprang auf die Straße. Ein Cola trinkendes Mädchen wich erschrocken vor ihr zurück.
"Carla? Olá, kannst du mir einen Gefallen tun? Direkt am Podium stehen ein paar deutsche Freunde von mir. Kannst du ihnen die Rede übersetzten? Beeil dich. Warte, ich schreib kurz eine Nachricht auf dein Colaetikett, ja? Danke, dass schaffst du schon. Und bitte, lass dich nicht von Jose erwischen, ja?" Das schlanke Mädchen lief lächelnd los. Mit einem dumpfen Plumps sprang Pablo neben ihr auf die Straße.
"Jetzt sag schon. Was war in dem Hut?" Er blickte sie fragend an.
"Genau. Jetzt zu dir. Was fällt dir ein? Bleibst du einfach auf dem Podium! Es war schon Schwachsinn, dich überhaupt da runter zu schwingen."
"Ja das war echt ein super Sprung." Unterbrach sie ihr Kumpel, Elena verdrehte die Augen.
"Mensch, ich dachte die Girlande reißt." Pablo kicherte über Elenas Sorge.
"Ich habe gesehen wie sie gemacht wurden. Zuerst hat man eine sehr lange Blumenkette geflochten. Dann hat jemand ein Seil gebracht und die Blumen wurden da herum gewickelt. Damit die Girlanden auf dem Platz dicker aussehen. Manche Leute sind direkt schlau zu nennen, nicht?" Elena fühlte sich entwaffnet.
"Trotzdem hätte das nicht sein müssen. Du hättest erst gucken müssen, wie du da wieder weg kommst." Verärgert stemmte sie die Hände in die Hüften.
"Aber," sinnierte Pablo, "du hast die Girlanden doch auch benutzt, obwohl du nicht wusstest, ob sie halten."
"Doch. Sie mussten halten, dich haben sie schließlich auch gehalten."
Sie wirbelten herum, als zwei weitere Plumpse das Eintreffen ihrer anderen Freunde ankündigte.
"Paolo! Francis!" Sie sprang auf sie zu und umarmte sie. Erfreut wurde ihre Umarmung erwidert. "Warum habt ihr so lange gebraucht um über die paar Dächer hierher zu kommen?" Sie wand sich aus Francis Umklammerung. Paolo wiegte den Kopf hin und her.
"Wir haben Clara beobachtet. Sie tauchte plötzlich bei deinen Klassenkameraden auf." Prüfend schaute er sie an. Ernst blickte Elena zurück. Klassenkameraden, nicht Freunde. So so. Er glaubte also nicht, dass sie schon richtige Freunde gefunden hatte. Nachdenklich krauste sie die Stirn. Irgendwie hatte er Recht. Inzwischen wusste sie alles Mögliche über Hanna, Loretta und Co, aber sie hatte nie etwas über sich erzählt. Man würde auch nur lachen. Die Erfahrung hatte sie schon gemacht. Aber belog sie nicht damit ihre neuen Freunde? Sie spürte Paolos Arm auf ihrer Schulter. Sie nickte. Klassenkameraden.
"Aber nicht mehr lange, Paolo. Darauf kannst du wetten." Elena nahm sich fest vor, ihren Freunden ein bisschen von sich zu erzählen. Verwirrt blickten Francis und Pablo sich an. Paolo zog eine Augenbraue hoch. Elena verstand ihn.
"Hanna, Loretta und Erika. Den anderen nicht. Vielleicht Tim auch noch, mal sehen." Er nickte.
"Ich glaube, wir zwei werden hier völlig ignoriert. Komm Francis. Wir gehen, des Bürgermeisters Rede ist zu Ende. Lass uns verschwinden bevor die Straßen erneut von schwitzenden Touristen überschwemmt werden." Zustimmend neigte Francis den Kopf. Er wandte sich halb an Elena halb an die Luft als er sprach.
"Das würde ich anderen auch empfehlen. Kommt ihr?" Paolo salutierte.
"Jawohl, Sir!" Elena gluckste. Zusammen liefen sie durch ein paar Straßen, bis sie die Touristengebiete verlassen hatten. Die Wege wurden immer staubiger und schmutziger, je weiter sie sich vom Stadtzentrum entfernten. Plötzlich verschwanden die Freunde in einer der Baracken, die inzwischen das Straßenbild prägten. Francis lief voraus, nach einigen Schritten stand er überraschend wieder im Sonnenlicht. Er hatte einen rechteckigen Platz erreicht, der von drei Seiten von kleinen Reihenhäusern und von der anderen von Baracken gleicher Art gesäumt wurde. Ihn konnte man nicht über eine Straße betreten, da die Mauern und Holzwände der Häuser und Hütten eine fast undurchdringliche Mauer bildeten. Nur einige der Baracken hatten eine kleine Hintertür, durch die man den Platz betreten konnte. In der Mitte des Rechtecks standen drei Bäume in einer Reihe. Unter dem rechten standen mehrere schmale notdürftig gezimmerte Kisten um ein wackeliges Fass. Offenbar dienten sie als Schemel und Tisch.
Hinter Francis traten Elena und Pablo auf den Platz, Paolo folgte ihnen.
"Ladys first." Francis deutete mit einer einladenden Handbewegung auf die Kisten, "Wir wissen nicht, wer die Teile hier hineingestellt hat. Wir wissen nur, dass sie äußerst nützlich sind." Langsam ging Elena auf die Kisten zu. Sie traute ihnen nicht recht. Sie sahen so improvisiert aus, dass es schien als würden sie bei der ersten Berührung zusammenbrechen. Vorsichtig setzte sie sich auf eines der vertrauenswürdigsten Kästchen. Es hielt. Francis stellte erst mehrer Kisten aufeinander bevor er sich niederließ, dann hob er ungeduldig den Kopf.
"Gar keine Fragen?" Elena hob träge den Kopf.
"Jetzt wo du es sagst. Wie geht es Chaco?" Gelangweilt blickte sie in die Runde. Nur das unruhige Flackern in ihren Augen verriet ihre Ungeduld. Normalerweise wäre es niemandem außer Paolo aufgefallen, doch heute lachte Pablo laut auf.
"Tu nicht so gelangweilt, ich sehe es in deinen Augen, dass es dich brennend interessiert. Deine Augen verraten dich." Verblüfft starrte das Mädchen ihn einige Sekunden an. Plötzlich brach es in Lachen aus.
"Willkommen im Paolo-Club." Sie legte den Kopf schräg, "Aus welchen Grund beobachtest du mich?" Pablo machte große Augen. Beobachtung?
"Ach, das nennst du Beobachtung? Ich hätte es eher Scharfsinn genannt."
"So, du meinst also du bist scharfsinnig? Das wäre das Letzte was ich gedacht hätte. Denn dann hättest zumindest du herausfinden müssen, dass diese Kisten vom Händler hinter dem Rathaus kommen. Und das hast du nicht?" Überrascht guckte Pablo sie an.
"Woher weißt du das?" Elena stöhnte gespielt genervt auf.
"Erstens auf ein paar von den benutzten Brettern sieht man eine dunkle untergehende Sonne mit drei Bäumen. Spezielle Apfelkisten. Und diese Apfelsorte wird nur von Händler hinter dem Rathaus verkauf. Verstanden?" Pablo hob entschuldigend die Hände.
"Normalerweise esse ich keine Äpfel." Er grinste zufrieden, so kam man aus dem Schneider. Triumphierend bemerkte er, wie Elena resigniert das Thema wechselte.
"Was ist jetzt mit Chaco?" Verlegen senkten die Jungen den Blick. Eine Weile herrschte betretenes Schweigen. Doch dann antwortete Paolo.
"Nachdem du weggezogen bist, flog er andauernd Kreise über der Gegend und schrie nachts. Es war richtig unheimlich. Urplötzlich war dann alles vorbei. Nach zwei oder drei Wochen war er vom einen Tag auf den andern verschwunden. Niemand hat ihn seitdem gehört, geschweige denn gesehen. Der Bürgermeister hat sogar einen Suchtrupp zusammengesellt. Du weißt ja, ohne Adler keine Touristen. Doch sie haben keine Spur von ihm gefunden. Rausgeschmissenes Geld. Später kam heraus, dass der Suchtrupp Unmengen an Geld verschlugen hatte. Geld mit dem die Schule und die Straßen ausgebessert werden sollten. Das hat dem Bürgermeister mächtig Ärger eingebracht, aber er hat die Neuwahl trotzdem irgendwie gewonnen. Er hat ja auch nicht nur Schlechtes gemacht. Die meisten Leute haben ihn wiedergewählt, weil während seiner Amtszeit Chaco aufgetaucht ist und so viel Geld gebracht hat. Sogar ein zweites Hotel wurde gebaut und richtig viele andere Dinge, die für Urlauber unentbehrlich sind. Schwimmbad, Sporthalle, Kletterwand. An vielem profitieren auch die Dorfbewohner. Was Chaco angeht. Einige denken, er ist weggeflogen, andere denken er ist dort oben in den Bergen, obwohl dort alles abgesucht wurde. Und der Rest denkt,… na ja… dass er tot ist, El. Wahrscheinlich haben ihn einige Wilderer erwischt. Man kann es nicht genau sagen. Aber die meisten haben sich der letzten Variante angeschlossen." Er blickte hoch. Elena hatte sich umgedreht. Ihre Schultern zuckten. Paolo dachte sie weine, aber als sich Elena zurückdrehte, waren ihre Augen trocken. Langsam stand sie auf.
"Ich hätte es wissen müssen. Ich habe ihn die ganze Zeit seit ich her war weder gehört noch gesehen." Ergeben sackte sie wieder auf ihren Stuhl.
"Hey, " Paolo ging neben ihr in die Hocke, "wir können ja zusammen nach ihm suchen. Vielleicht finden wir ihn ja. Einverstanden?"
"Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist." Mischte Pablo sich ein, "Du solltest eher alle anderen begrüßen, El. Jeder weiß, dass du hier bist. Spätestens seit deinem Auftritt auf der Plaza. Lasst uns durch das Dorf gehen und gucken wen wir finden können."
"Ich meine, " Paolo warf seinem Freund einen vernichtenden Blick zu, "das sollten wir nicht tun."
"Doch." Erklärte Elena mit fester Stimme, "Das ist jetzt genau das richtige. Vorhin habe ich Juan und Ramon gesehen, beim trommeln. Aber als sie mit Hymnen auf Chaco anfingen, bin ich verschwunden. Ich glaube sie haben mich nicht erkannt."
"Gibst du ihnen einen auf den Deckel?" Fragte Francis hoffnungsvoll. Als Elena verneinte ließ er den Kopf hängen.
"Bitte. Ich mag die Beiden einfach nicht."
"Warum machst du es nicht selber?" Verwundert sah sie Francis an.
"Ich habe nicht vor mir meine Kleider bei einer Prügelei zu verdrecken."
"Aber ich, oder wie?" Francis lächelte scherzhaft.
"Das hast du nicht nötig. Ich war vorhin im Hotel schon reichlich froh, dass du dich für zwei Ohrfeigen entschieden hast. Ich hab deinen Fuß schon fast zwischen meinen Beinen gefühlt!" Elena lachte auf.
"Na, sonst wäre die Begrüßung ja wohl etwas sehr derbe gewesen, meinst du nicht?" Befreit atmete Francis auf. Sie lachte wieder. In seiner Unbekümmertheit merkte Francis gar nicht, wie Paolo nachdenklich den Kopf senkte. Ihm kam gar nicht erst der Gedanke, dass Elena ihre Trauer so schnell überwunden haben könnte. Es gab nur zwei Erklärungen für ihr Verhalten. Entweder wollte sie ihre Freunde von ihrer Trauer ablenken oder sie trauerte gar nicht. Das hieße allerdings, Elena würde gar nicht erst an Chacos Tod glauben. Und was das wieder hieß, wollte er sich lieber gar nicht erst ausmalen.
"Mein Gott! Habt ihr Frau Lampe gesehen? So sauer war sie noch nicht einmal als Pascal und Felix Jennifer beim Sportunterricht die Anziehsachen weggenommen haben als sie gerade unter der Dusche war. Das war echt crass. So was hätte ich nie von Elena gedacht. Plötzlich war sie gar nicht mehr ruhig und nett sondern irgendwie berechnend. Warum sie uns wohl nie was erzählt hat. Das ist doch eigentlich voll hinterhältig, so als ob sie uns belogen hätte. Aber das was sie gemacht hat ist so cool! Trotzdem sollte ich, beziehungsweise wir, sollten wir dann nicht voll sauer auf sie sein?"
"Denk bitte leise, Loretta!" fuhr Phillip auf, "Was meinst du was wir sind?" Loretta zog den Kopf ein. Sie sollte erst überlegen bevor sie etwas sagte. Sonst würde sie doch nur wieder ins Fettnäpfchen treten. Betreten blickte sie zu Boden.
"Ich bin nicht böse auf Elena." Alle Köpfe fuhren herum. Hanna stand auf dem Balkon des Hotelzimmers und hatte die Arme auf das Geländer gestützt. Phillip lief zu ihr.
"Was hast du gesagt?" Sie drehte sich um.
"Ich bin nicht wütend auf sie. Höchstens enttäuscht." Sie lehnte sich an Phillip, doch er wich zurück.
"Du bist nicht wütend auf jemanden, der einem die ganze Klassenfahrt versaut hat? Frau Lampe hat uns wegen ihr Disco-Verbot erteilt. Wir dürfen wegen ihr abends nur bis zehn Uhr aufbleiben. Keine Jungs auf Mädchen Zimmern und andersrum. Wir dürfen fast gar nichts mehr."
"Ja genau, " Mischte Franziska sich ein, "und eine extra Wanderung hat sie uns auch aufgebrummt. Warum bist du dann nicht sauer?"
"Hey, versucht sie doch mal zu verstehen…"
"Sie verstehen? Was sollen wir verstehen? Das sie uns belogen hat? Das sie uns Ärger eingebockt hat? Was?" Phillip fuhr sich verzweifelt mit den Händen durch das Haar, "Sag mir, was sollen wir verstehen?" Hanna stiegen die Tränen in die Augen. Warum wollte niemand sie verstehen? Was hatte Phillip nur? Mochte er sie nicht mehr, weil sie Elena verteidigte?
"Ich glaube", begann Erika zögernd, "ich glaube, ich weiß was Hanna meint."
"Jetzt unterstützt du sie auch noch? Ich versteh's nicht! Kommt jemand mit rüber? Wir machen einfach drüben eine kleine Party bis zehn Uhr. Beeilen wir uns, dann haben wir noch eine viertel Stunde. Wer Elena und ihren Freunden hinterher trauern will kann gerne hier bleiben." Wütend verließ er den Raum. Tascha und Franziska watschelten hinterher.
"Hanna kannst du mir mal erklären was du da verstehen kannst? Mir wäre es lieber wenn ich nicht sauer auf sie sein müsste." Tim blickte fragend auf seine Schwester. Inzwischen waren außer ihm und Hanna nur noch Loretta und Erika im Raum. Hanna sah auf, Tränen liefen über ihre Wangen.
"Versetzt euch mal in Elenas Lage. Ihr kommt in ein fremdes Land, kennt dort niemanden, außer der eigenen Mutter, müsste mehrere Sprachkurse machen um die Sprache überhaupt erst einmal ansatzweise zu beherrschen. Dann findet ihr plötzlich Freunde. Würdet ihr denen erzählen, dass ihr in Spanien fast schon kriminelle Aktionen durchgeführt habt? Sie würden euch für verrückt erklären oder, noch schlimmer, euch wieder fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Elena hatte einfach Angst uns von ihrem Leben hier zu erzählen. Wir haben sie auch nie danach gefragt. Hoffentlich hält sie uns nicht für vollkommen desinteressiert. Ich bin nur ein bisschen enttäuscht, dass sie uns nicht wenigstens ein bisschen erzählt hat, als wir hier angekommen sind." Sie ließ den Kopf wieder auf ihre Arme sinken, Tim räusperte sich.
"Sorry, wenn ich das sagen muss. Aber Phil hat ein bisschen über ihr Leben erfahren. Es ist El einfach so rausgerutscht als er den Pool erwähnt hat. Während der Busfahrt. Sie haben gedacht ich würde schlafen, aber wer kann bitteschön schon neben Elena schlafen?" Hanna lächelte schwach.
"Auf jeden Fall hat sie gesagt das sie nicht schwimmen kann. Na ja, um genau zu sein. Phillip hat gelacht. Wahrscheinlich hat El gedacht wir würden alle so reagieren. Sie hat also gedacht wir würden sie wie eine heiße Kartoffel fallen lassen, um mich deiner Worte zu bedienen. Ich will Phillip jetzt auch nicht als Schuldigen darstellen, ich musste selber auch schmunzeln, aber El hat sein Verhalten einfach auf uns alle übertragen. Klingt das glaubhaft?" Fragend schaute er in die Runde. Erika nickte.
"Hey, Hanna nicht weinen. Das wird schon wieder. Er ist bestimmt nur im Moment sauer, weil er sich auf die Disco gefreut hat. Das legt sich wieder." Loretta nahm die nickende Hanna tröstend in den Arm. "Brr! Können wir mal die Balkontür zumachen? Es wird frisch." Tim erhob sich.
"Elena meint wir sollen die Tür offen lassen, also lehn sie nur an, ja?"
"Hä? Wie sie meint wir sollen die Tür offen lassen? Sie ist doch gar nicht da." Hanna grinste.
"Erinnert ihr euch an Carla? Die hat mich doch zum Schluss umarmt. Dabei hat sie mir ihre Hand in die Gesäßtasche gesteckt. Ich war erst ganz schön perplex. Lacht nicht, aber außer Elena kommt niemand so schnell auf die Idee jemandem eine zu klatschen, ich jedenfalls konnte mich erstmal gar nicht bewegen. Nachher habe ich einen Zettel in der Tasche gefunden. Carla muss ihn da rein getan haben. El hat ihn geschrieben. Hier guckt: Lasst bitte die Balkontür offen, ich möchte sie nicht aufbrechen und ich mag keinen Sachschaden."
"Das heißt sie kommt hierhin. Die einzige Frage ist dann nur wann." Tim wiegte nachdenklich den Kopf.
"Korrigiere", mischte Loretta sich ein, "es gibt noch ein paar Frage mehr. Habt ihr gehört wie Carla gesprochen hat? Es klang als hätte sie einen Befehl von El gekriegt. Es ist mir nicht erlaubt. Ich habe Anweisung. Das heißt auf Deutsch, Elena hat ihr das so befohlen. Oder?" Unsicher blickte sie in die Gesichter ihrer Freunde.
"Daran habe ich auch schon gedacht." Nickte Hanna, "Elena muss es uns erklären, wenn sie wieder da ist. Lasst uns schlafen, was anderes können wir jetzt eh nicht mehr machen. Gute Nacht, Tim. Frag Phil bitte, ob er noch sauer auf mich ist, ok? Ich trau mich nicht."
Als Frau Lampe wenig später Franziska und Natascha in das Zimmer begleitete, schliefen die Mädchen friedlich in ihren Betten.
"Mädels! Aufstehen, Frühstück. Kommt raus aus den Federn. Ihr seid doch gestern früh ins Bett gekommen. Solange könnt ihr doch gar nicht schlafen." Elena zog die Vorhänge auf und helles Sonnenlicht durchflutete das Zimmer.
"Oh Mann!" murrte Hanna, "Wer steht denn schon so früh auf. Elena mach den Vorhang zu. Elena?" Hanna sprang mit einem Schrei aus dem Bett.
"Leute! Wacht auf. Elena ist wieder da!" Die Wirkung der Worte war fatal. Franziska und Natascha zogen die Decke über den Kopf und begannen zu stöhnen während Loretta und Erika aus den Betten sprangen.
"Wie bist du hereingekommen? Wir haben dich gar nicht gehört."
"Nur ruhig. Ich bin gestern Abend ungefähr um viertel nach zehn zum Fenster rein gekommen. Zum Glück habt ihr es offen gelassen. Dreißig Sekunden später hat Frau Lampe Tascha und Franzi hier abgeliefert. Grade eben war ich dann duschen und ich saß auch ein bisschen auf dem Balkon. Jetzt will ich zum Frühstück. Kommt ihr mit? Danach können wir meinetwegen zum Pool."
"Du bist unglaublich. Das mit dem Pool wird fürchte ich nichts. Herr Schuhmann hat uns eine zusätzliche Wanderung eingebockt, weil du gestern… na ja, auf jeden Fall haben wir heute wohl keine Freizeit." Hanna schüttelte den Kopf.
"Du musst uns versprechen uns alles zu erklären, bis ins kleinste Detail. Abgemacht?" Loretta lief nervös zwischen Bett und Bad hin und her.
"Oh, da habe ich wohl Einiges wieder gut zu machen. Ja ich verspreche ich erkläre es euch. Wie es aussieht muss ich vor dem Frühstück noch etwas erledigen. Loretta", grinsend drehte Elena sich um, "was hältst du von einem Date mit dem Liftboy?"
"Was? Ein Date mit dem Liftboy? Ist das dein Ernst?!" Loretta schrie fast vor Aufregung. Nervös verkrampfte sie die Hände ineinander, dann schüttelte sie die Arme. Elena lachte. Wie aufgeregt Loretta war. Und sie hatte gedacht Loretta hätte schon viele Dates hinter sich und jetzt konnte sie an ihren Reaktionen ablesen, dass es ihr Erstes war. Gerade zehrte sie Erika zu ihrem Kleiderschrank um sie zu fragenden was sie anziehen sollte, damit ihre Figur am besten zur Geltung kommt. Hanna sah ihr grinsend zu.
"Dass das ihr erstes Date wird, wusstest du wohl nicht was?"
"Nein." Gab Elena offen zu, "Ich dachte sie hätte mit so was Erfahrung." Hanna schielte ihr über die Schulter zu.
"Ist die denn erforderlich?"
"Das nicht." Entschieden schüttelte sie den Kopf, "Aber ich glaube Loretta wird danach von jedem anderen Date enttäuscht sein. So wie ich Francis kenne, lässt er sich was total Ausgefallenes einfallen. Bungeejumping wäre da noch harmlos." Seufzend schüttelte sie den Kopf.
"Hanna! Elena! Rettet mich!" Erika drehte sich mit gequälter Grimasse um. “Sonst bin ich für immer und ewig in Lorettas Klauen gefangen." Die Freundinnen lachten los.
"Wie soll Loretta ihren Schwarm eigentlich verstehen? Sie spricht schließlich kein spanisch."
"Kein Problem. Ihr Liftboy spricht perfekt englisch. Und ich glaube inzwischen versteht er auch ein bisschen deutsch. So was wie: "Ich heiße Francesco" oder "Wie geht es dir". Er hat echt einen süßen Akzent, du musst ihn mal sprechen hören." Verträumt lächelte Elena. Hanna hob misstrauisch die Augenbrauen.
"Du bist doch etwa nicht selber in ihn verknallt?" Elena sah abrupt auf, dann brach sie in schallendes Lachen aus.
"In Francis? Ich? Nein!" Sie lachte noch lauter.
"Haltet die Klappe!" Franziska richtete sich in ihrem Bett auf. "Elena du solltest eigentlich froh sein, dass wir dich noch in unserem Zimmer dulden. Schließlich hast du die Schuld daran, dass unsere ganze Klassenfahrt im Eimer ist. Es waren ja nicht wir, die einfach abgehauen sind." Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
"Genau", stimmte Tascha aus dem hinteren Bett zu, "du hast ja wohl die alleinige Schuld daran. Frau Lampe sollte dir wirklich verbieten noch irgendetwas mitzumachen. Sie hat gestern voll verzweifelt nach dir gesucht. Das sollte man seiner Lehrerin nicht antun."
"Schleimer!" Zischte Erika vom Schrank her.
"Was hast du gesagt?" Tascha sprang aus dem Bett.
"Ich wollte nur ausdrücken, das Loretta dringend noch eine …Sch…. Schlei… Schleife braucht. Ja genau, eine Schleife in den Haaren!" Erleichtert über die Ausrede lehnte sie sich an den Schrank.
"Du meinst wirklich ich soll eine Schleife in meine Haare binden?" Nicht ganz überzeugt wickelte Loretta eine Haarsträhne um den Finger. "Elena was meinst du, würde das Francesco gefallen?" Elena konnte nur schwer das Kichern unterdrücken, als sie mit todernster Miene antwortete.
"Ich weiß nicht. Aber es würde ihm sicher gefallen, wenn du ihn Francis nennst, statt Francesco. Francesco erinnert ihn zu sehr an seine Arbeit, sagt er." Franziska horchte auf.
"Wer sagt das?"
"Lorettas Date!" Antwortete Hanna vergnügt und lief ins Bad, "Loretta hier ist besetzt, bevor du auf die Idee kommen solltest dir einen anderen Spiegel zu suchen. Nimm nicht den im Bad!" Sie huschte durch die Tür du knallte sie hinter sich zu.
"Jetzt sind alle wach." Stellte Erika lakonisch fest.
"Gut so." Meinte Elena, "In zwanzig Minuten ist Frühstück. Ich geh schon mal und halte Plätze frei, außerdem muss ich ja noch was erledigen." Sie zwinkerte verschwörerisch in Lorettas Richtung und lief aus dem Zimmer.
Kaum stand sie auf dem Flur angekommen, blieb sie stehen und ging auf Zehenspitzen an der Tür des Lehrerzimmers vorbei. Endlich am Aufzug angekommen, drückte sie auf den Aufzug-Button und rannte die Treppe herunter. Fröhlich grinsend sah sie dabei dem von Glas umrundeten Fahrstuhl hochfahren. Summend rutschte sie das letzte Stück auf dem Treppengeländer herunter und sprang mit einem Satz in die mit Marmor ausgekleidete Halle. Zielstrebig steuerte sie auf die Rezeption zu und schlug dreimal kraftvoll auf die Klingel. Sekunden später erschien der zerzauste Kopf eines Angestellten hinter dem Tresen. Verschlafen rieb er sich die Augen.
"Sie wünschen?" Dann schien er sich seiner Unhöflichkeit gegenüber dem Gast bewusst zu werden, denn er begann sie eilig um Verzeihung zu bitten.
"Es ist ja schon gut." Sprach Elena ihn im Slang an, "Ich würde nur gerne wissen, wo ich Francesco Eleonora finden kann." Erstaunt riss der Mann die Augen auf, schließlich grinste er.
"Ach, hat sich der Herr mal wieder jemandem geangelt? Wohl vergessen den Weg zu erklären was?" Dadurch, dass sie einwandfreien Slang sprach, vertraute er ihr wohl ziemlich schnell, denn er begann ihr sogleich ausführlich den Weg in die oberen Stockwerke und zur Suite des Sohnes seiner Chefin zu erklären. Ungeduldig winkte Elena ab.
"Entschuldigen Sie, aber ich habe mich wohl falsch ausgedrückt. Ich wollte nur wissen, ob er da ist." Verblüfft starrte der Angestellte zu ihr herüber. Dann kratzte er sich am Kopf.
"Ja, nun. Sie haben doch sicher gesehen, dass ich, äh, geschlafen habe." Gab er offen zu, "Ich kann also nicht sagen, ob er das Hotel durch diesen Eingang verlassen oder betreten hat." Er kratzte sich an der Wange. Elena stöhnte innerlich über so viel Unverstand auf.
"Aber Sie können doch sicher einmal dort oben anrufen, meinen Sie nicht?" Entgegnete sie stattdessen höflich.
"Ich weiß nicht," Elena sah ihn scharf an, "aber wenn ich es recht überlege. Sicher doch." Eilig griff er nach dem Telefon und drückte auf eine Kurzwahltaste. Einen Moment lang herrschte Stille. Dann ertönte am anderen Ende der Leitung ein leises Klicken und eine Jungenstimme brummte unwirsch ein paar Worte. Entschuldigend drehte der Mann sich weg. Elena schüttelte den Kopf. Leise schlich sie um die Rezeption herum, bis sie direkt hinter dem Mitarbeiter zu stehen kam. Ruhig drückte sie den Knopf, welcher den Lautsprecher einschaltete. Francis wütende Stimmer hallte in der gesamten Eingangshalle wieder.
"… aber du hast noch lange nicht das Recht mich einfach so aus dem Bett zu klingeln und sollte das Mädchen auch noch so hübsch sein. Ich hätte gewusst, wenn ich mich mit jemandem verabredet hätte. So was vergisst man nicht. Und ich habe heute kein Date. Ich habe überhaupt…" Elena unterbrach ihn.
"Wenn du dich da mal nicht irrst, Francis. Wenn du dich da mal nicht irrst." Bevor Francis auch nur irgendetwas erwidern konnte drückte sie die Taste, die das Gespräch beendete. Fassungslos sah der Bedienstete sie an.
"Danke für Ihre Hilfe, den Weg nach oben finde ich alleine." Freundlich lächelnd wandte sie sich um und stieg in den Aufzug.
Zufrieden lächelnd ließ sich Elena auf Francis großes Bett fallen. Er hatte hier seine eigene kleine Suite, seine Mutter bestand allerdings darauf, dass er zumindest in den Ferien seine Räume selber putzte. Die Suite bestand aus drei Zimmern, zwei Schlaf- sowie einem Fernsehzimmer mit Minibar und einen Bad, welches sogar mit einem Whirlpool ausgestattet war. Wenn man das größere der beiden Schlafzimmer betrat, konnte man durch eine große verglaste Wand direkt auf einen Wasserfall, der in der Ferne hernieder stürzte, blicken. Hinter der Glaswand befand sich ein Balkon auf dem Francis saß und sein Frühstück, Cornflakes in Jogurt, verschlang.
"Ich liebe dein Bett. So eins möchte ich auch gerne haben." Elena setzte sich wieder auf, Francis war wieder ins Zimmer gekommen.
"Das war jetzt aber sehr doppeldeutig, El. Na ja, wenn du mich schon nicht liebst, dann wenigstens mein Bett." Er sah sie mit einem schelmischen Grinsen an. "Was gibt's?" Elena setzte ein gequältes Lächeln auf.
"Nun ja, als ich gestern mit euch weggelaufen bin, hab ich wohl meinen Klassenkameraden ein paar Schwierigkeiten gemacht. Tägliche Wanderungen, keine Disco, abends nur bis zehn Uhr aufbleiben und so weiter." Sie schwieg. Francis kratzte sich am Kopf.
"Was habe ich jetzt damit zu tun?" Fast zu schnell antwortetet Elena.
"Du bist ein guter Schauspieler." Nachdenklich blickte Francis zu Boden.
"Ich soll dir also mal wieder helfen, ja? Na ja, es ist ja auch ein bisschen unsere Schuld, wir hätten auch an deine Lehrer denken können. Ich brauche allerdings Hilfe."
"Hilfe?" Fragend blickte Elena ihn an.
"Sagen wir, es wird ein Geschäft. Ich helfe dir aber als Gegenleistung musst du heute ein bisschen improvisieren. Ich will sehen, ob man das in Deutschland verlernt.“
“Eigentlich wollte ich dir als Gegenleistung ein Date anbieten.“
“Mit dir?“ Francis Augen leuchteten auf.
“Nein, eine Klassenkameradin.“ Francis schüttelte bestimmt den Kopf. “Sagen wir, um acht beim Frühstücksbuffet?" Elena sprang auf.
"Oh nein! Das Frühstück, hoffentlich komme ich nicht zu spät. Dann wäre da ja schon wieder schlechte Stimmung. Sag mal," rief sie während sie die Suite verließ, "was hältst du eigentlich von Loretta?"
"Elena, da bist du ja endlich!" Zischte Hanna zur Begrüßung, als sie sich zu ihnen an einen Vierertisch setzte. "Was hast du solange gemacht? Mir gehen langsam die Ausreden aus."
"Ich hielt es für wichtiger erst den heutigen Tag zu retten. Ich hoffe, dass ist mir gelungen." Erika blickte auf.
"Du hoffst es?"
"Ich habe einen Freund gebeten uns, beziehungsweise mir, aus diesem Dilemma zu helfen. Er meinte es würde von meinem Improvisationstalent abhängen." Erika kniff die Augen zusammen.
"Bist du gut im improvisieren?" Elena zuckte lächelnd mit den Schultern.
"Ich war es mal. Francis ist allerdings genauso gut. Und ich habe keine Ahnung wie er helfen will. Er kann praktisch jede Situation heraufbeschwören. Wenn ich sie dann früh genug begreife, könnte es klappen." Hanna schüttelte den Kopf.
"Warum hat er dir nicht gesagt was er macht? Das wäre viel einfacher. "Ja." Gab Elena unumwunden zu, "Aber es wäre auch nur halb so lustig." Genervt stöhnte Hanna auf.
"Du und dein Spaß. Das kann ja noch was geben."
"Mal ein ganz anderes Thema." Mischte sich Loretta ein, "Was ist jetzt eigentlich mit meinem Date?" Elena lächelte.
"Ich frag ihn nachher. Vorhin hatte ich keine Zeit mehr, sonst wäre ich noch später gekommen." Loretta verschränkte die Arme vor der Brust.
"Nun, jetzt hast du aber Zeit. Jetzt kannst du uns erklären was gestern eigentlich los war." Zustimmend nickten ihre Freunde mit dem Kopf. Elena atmete tief durch und blickte sich um, da huschte ein Grinsen über ihr Gesicht.
"Ich glaube, dazu reicht die Zeit nicht. Francis fängt gleich mit seiner Show an. Da vorne am Buffet steht er schon." Sie deutete mit einem Kopfnicken in seine Richtung.
"Und was macht er jetzt?" Wisperte Hanna neben ihr.
"Keine Ahnung," flüsterte Elena ebenso leise zurück, "mal sehen." Gespannt blickten sie in seine Richtung. Francis, jetzt in der Uniform eines Kellners, griff nach einigen Wasserflaschen und verteilte sie auf den umliegenden Tischen. Als er an Frau Lampes Tisch vorbeikam, hörte Elena ihn in seinem gebrochenen Deutsch sagen:
"Umsonst, Mrs." Freundlich lächelte er sie an. Zu ihrer Erleichterung konnte Elena bemerken, dass ihre Lehrerin ihn offenbar nicht wieder erkannte. Mit einer neuen Ladung Wasserflaschen näherte er sich nun ihrem Tisch, doch als er bei ihnen ankam, hatte er nur noch eine Flasche für zwei Tische. Verwirrt blieb er stehen und schaute zwischen der Flasche und den beiden Tischen hin und her. Janina und Mareike, die mit Tascha und Franzi am Nachbartisch saßen, beobachteten ihn gespannt. Janina setzte gerade ihr verführerischste Lächeln auf, da schob Elena ihren Stuhl leicht zurück und erhielt die volle Aufmerksamkeit des Kellners, welchen Janina zweifelsfrei als den Liftboy enttarnt hatte. Elena hielt ihr leeres Glas hoch.
"Gib mir ein bisschen, dann kannst du die Flasche dort auf den Tisch stellen." Sie deutete zu Janina herüber. Der Kellner nickte.
"Was hast du gesagt?" Fragte Janina scharf, die Lehrer hoben die Köpfe.
"Ich wollte nur ein bisschen Wasser, danach bekommt ihr die Flasche." Herr Schuhmann senkte seinen Kopf wieder doch Frau Lampe blickte immer noch angespannt zu ihnen herüber.
"Woher weiß ich, dass das stimmt?" Abschätzig sah Janina sie an.
"Frag ihn." Ungerührt deutete Elena auf Francis. Erstaunt hob er den Kopf.
"You will get this bottle. After this Lady got her drink." Stimmte er Elenas Aussage zu, anscheinend hatte er den Zusammenhang erraten, ohne das ihn extra jemand darüber aufklären musste.
"Siehst du?" Elena konnte sich eine schnippisch Bemerkung nicht verkneifen. Mareike sprang auf.
"Hey, jetzt tu mal nicht so…." Francis unterbrach sie indem er dem Finger an die Lippen legte und leise die Luft ausstieß. Als sie sich wieder gesetzt hatte drehte er sich wieder zu Elena um. Er nahm ihr Glas in die linke Hand und schüttete mit der Rechten Wasser hinein. Leider kam ein solch großer Schwung heraus, dass das Wasser überschwappte und treffsicher auf Elenas weißer Bluse landete.
"Ahh!" Sie schrie spitz auf. Janinas Tisch brach in Lachen aus.
"Seht euch den begossenen Pudel an!" Kreischte Mareike.
Bedauernd schüttelte Francis den Kopf.
"Jetzt bist du nass." Sagte er.
"Ja, danke klatschnass." Stimmte Elena nachdrücklich zu. Francis grinste.
"Wann kommen die Ohrfeigen?"
"Doch nicht vor den Lehrern. Da hast du dich wohl verrechnet." Munter krauste Francis die Stirn.
"Mist! Daran habe ich nicht gedacht. Ich wollte dich nach den Ohrfeigen eigentlich zur Bestrafung mit aus dem Saal nehmen. Dann anders, du musst leider mit zu Buffet kommen, da habe ich ein Tuch. Schnell. Beeil dich, bevor das kleine Fleckchen noch trocknet." Kopfschüttelnd betrachtete er den melonengroßen Fleck auf Elenas Bauch.
"Ich kann in den Pool springen und ich werde nicht viel nasser." Francis brachte grinsend eine Entschuldigung über die Lippen und schob sie ein paar Schritte Richtung Buffet. Janina schaute ihnen fassungslos hinterher. Plötzlich standen ihnen jedoch Tim und Tom im Weg.
"Was hast du denn gemacht, El?" Grinsend sah Tom auf ihre durchsichtige Bluse.
"Ach, halt doch den Mund. Der hat mir Wasser drüber gekippt. Jetzt holen wir ein Tuch." Sie deutete mit dem Daumen erst auf Francis und dann auf das Buffet. Tom lachte jetzt sogar.
"War klar, dass er genau dich trifft, El. Das einzige hübsche Mädchen im Raum. Und dann auch noch mit weißer Bluse, nicht schlecht." Er reckte beide Daumen hoch und ging zurück an seinen Tisch. Tim starrte Francis böse an.
"Soll ich mitkommen, El?" Elena winkte ab.
"Es ist doch gleich da vorne. Das geht schon." Einen Moment schwieg Tim, als er gerade wieder zu Sprechen ansetzte kamen plötzlich energisch Schritte in ihre Richtung.
"Francesco, was hast du nur wieder gemacht!" Schimpfte Ana Eleonora. "Wenn du so weiter machst verscheuchst du uns noch alle Gäste." Sie legte dem nassen Mädchen einen Arm um die Schulter. "Du bist mit der Schulklasse hier, richtig? Zieh dich nur rasch um, ich werde deine Lehrerin über den Vorfall aufklären. Francis begleite sie und entschuldige dich!" Verschwörerisch zwinkerte sie Elena zu, dann eilte sie mit schnellen Schritten zu Herr Schuhmann und Frau Lampe. Innerhalb von einigen Sekunden rannten Elena und Francis aus dem Speisesaal. Francis war Elena einige Schritte voraus und konnte gerade noch einen Aufzug offen halten, der sich soeben anschickte die Türen zu schließen. Außer Puste kam Elena bei ihm an. Schnell quetschte sie sich zwischen einen dicklichen Mann und dessen schweren Lederkoffer, da setzte sich der Aufzug auch schon in Bewegung. Vergeblich versuchte sie ihre Vorderseite vor den aufdringlichen Blicken des Mannes zu verbergen. Nach dem fünften Stockwerk stieg der Mann endlich aus und nach dem sechsten hatte er sich vollständig geleert. Schweigend trat Elena dicht vor Francis.
"Na, immer noch so versessen auf die Ohrfeigen?" Sie grinste süffisant.
"Wenn ich ehrlich bin. Nein." Francis sah von oben auf sie herunter, "Aber als Dank schuldest du mir wenigstens ein kleines Bussi, meinst du nicht?" Er verzog den Mund zu einem Lächeln.
"Mann, was habt ihr alle mit euren Bussis? Langsam kommt es mir so vor, als hättet ihr euch abgesprochen. Erst Hanna, gestern hat Juan zur Begrüßung auch eins verlangt und jetzt du. Ich glaube ich muss beim Bürgermeister ein Bussi Verbot anmelden." Sie lehnte sich an die Wand Francis gegenüber.
"Francis, sag mal, was macht eigentlich deine Mutter da unten?"
“Ich hab keine Ahnung. Die Show ist total aus den Fugen geraten, so war das alles nicht geplant.” Nachdenklich blickte Francis durch die verglaste Aufzugswand nach draußen. Interessiert betrachtete er sein Spiegelbild.
“Du verschweigst was.” Elena lehnte sich an die gegenüberliegende Wand. “Das läuft alles genau nach deinem Plan. Sag schon, was kommt jetzt?” Fassungslos schwieg Francis.
“Woran ich das gemerkt habe? Deine Mutter sagt nie “Du verscheuchst uns noch die ganzen Gäste”. Sie würde eher sagen “Francis, ab!”.”
“Erwischt.” Elenas Kumpel wand sich, “ich kann dir aber echt nicht sagen was meine Mama unten anstellt.”
“Und warum, bitteschön, fahren wir dann hoch und kontrollieren nicht die Situation im Saal?.” Beleidigt zog sie eine Schnute. Francis bekam sofort ein schlechtes Gewissen.
“Hey, hör mal El. Ich würde es dir wirklich gerne erklären, aber ich hab versprochen nichts zu sagen. Ich habe es versprochen.” Resigniert ließ Elena die Schultern sinken. Wenn er es versprochen hatte, konnte sie es vergessen. Dann war kein Wort aus ihm rauszukriegen.
“Das heißt”, erinnerte sich Francis, “das hat nicht Mamas Text da unten eingeschlossen. Das ist eine spontane Aktion und sie verrät auch nichts, vorausgesetzt du machst dir keine tiefgehenden Gedanken darüber. Versprochen?” Bittend blickte er ihr ins Gesicht. Seufzend willigte Elena ein.
“Sie teilt dein Lehrerin mit, dass sie heute keine Gebühr für den gemieteten Saal nimmt, weil ich dein T-Shirt nass gemacht habe. Sie wird zwar etwas überrascht sein, wenn sie erfährt, dass sie einen Discoraum gemietet hat, aber da er kostenlos ist, kann sie nicht nein sagen.” Er schloss seine Apartmenttür auf. “Komm rein!”
“Das heißt also,” folgerte Elena, “Meine Klasse kann heute Disco machen solange sie will und kann auch die Bar umsonst plündern?” Francis nickte.
“Hier du musst dich umziehen, zieh das an.” Dabei deutete er auf eine unerhört kurze Hot Pant und auf ein leichtes Top.
“Was? Das soll ich anziehen? Francis, ich hab mich schon die ganze Zeit gefragt, warum wir in dein und nicht in mein Zimmer gehen. Wegen den Sachen? Die passen mir bestimmt gar nicht. Außerdem…”
“Keine Widerrede,” Francis verschwand im Nebenzimmer, “ich komme in fünf Minuten wieder, wenn du dann nicht umgezogen bist, setzt es was.”
Als Francis fünf Minuten später den Kopf durch die Tür steckte lag Elena lässig auf seinem Bett und blätterte in einem Magazin. Träge drehte sie den Kopf.
“Was? Glaubst du echt ich brauch ganze fünf Minuten zum Umziehen?” Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Francis pfiff durch die Zähne.
“Hat die eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du unglaublich tolle Beine hast?” Verwirrt blickte El auf.
“Was zum Teufel ist den jetzt mit dir los?” Francis zuckte die Schultern.
“Ist mir grad mal so aufgefallen. Wetten das sagen heute noch mehrere? Und jetzt los. Schließlich ist der gesamte Discoraum für euch reserviert.”
Ana Eleonora blickte ihrem Sohn wütend hinterher, dann wand sie sich Frau Lampe zu.
“Er wird ihr natürlich neue Kleidung besorgen. Es tut mir unglaublich Leid. Hören Sie, als Wiedergutmachung werde ich heute keine Miete für den separaten Discoraum nehmen. Sie können ihn heute umsonst nutzen und auch die Getränke aus der Bar sind kostenlos.”
Ãœberrascht zog die Lehrerin die Luft ein.
“Aber ich bitte Sie! Das ist doch wirklich zu viel…” Die Hotelbesitzerin unterbrach sie in perfekten Englisch, sie senkte ihre ohnehin leise Stimme allerdings noch mehr, so dass Hanna nun gar nichts mehr verstehen konnte. Auch Janina ließ enttäuscht über die schlechte Akustik den Kopf hängen.
“Entschuldigen Sie, ich tue das gewiss nicht aus Eigennutz, aber wie sie wahrscheinlich wissen lebte Elena Cortez bis vor drei Monaten noch in dieser Stadt. Und um mich klar auszudrücken: Ihre alten Freunde haben mich heute Morgen überfallen und mich bedrängt ihnen den Raum für heute zu überlassen. Sie richten dort eine kleine Welcome-back Party aus, zu der Ihre Klasse natürlich herzlich eingeladen ist. Sie brauchen auch keine Angst zu haben, auf der Feier werden keine alkoholischen Getränke serviert.” Frau Lampe schwirrte der Kopf. Sie hatte noch gar nicht gewusst, dass Elena aus genau dieser Stadt kam, natürlich hätte sie es vermuten können, aber sie war zu sehr mit der Suche nach Elena beschäftigt gewesen. Um sich nicht als unwissend darzustellen nickte sie weise.
“Ich denke, unter diesen Umständen können wir wohl von unserem Disco Verbot absehen. Was meinen Sie, Herr Schuhmann?” Der junge Lehrer nickte gelassen. Ein solches Verbot konnte man eh nicht lange einhalten. Doch dann stutze er.
“Sind die Lehrer denn auch eingeladen?” Mrs Eleonora schüttelte bedauernd den Kopf.
“Ich fürchte nein. Aber sie können sich selbstverständlich in der Bar im Erdgeschoss aufhalten und die Getränke sind auch für Sie frei Haus. Und Sie müssen wirklich nichts befürchten, es werden sich ständig Kellner in dem Raum aufhalten, fähigere als das Exemplar mit der Wasserkanne, und Sie können auch alle Stunde einmal dem Kopf durch die Tür stecken. Ich glaube so viel Verantwortung kann man ihren Schülern schon zutrauen.” Geschlagen gab die Klassenlehrerin ihre Zustimmung.
Ana Eleonora wandte sich wieder an die gesamte Schülerschaft. In ihrem klaren Englisch gab sie Frau Lampes Beschluss bekannt. Lauter Jubel brach aus, als die Ersten die Nachricht übersetzt hatten und an Langsamere weitergaben.
“Wir machen eine Disco, wir machen eine Disco!” Loretta schlug Hanna auf die Schulter, “Der Discoraum gehört für den ganzen Tag uns! Und freie Getränke!” Nachdenklicher fuhr sie fort: “Aber warum hat Frau Lampe ihren Entschluss geändert?”
“Ist doch klar,” Hanna lachte, “El und der Liftboy und die Frau, die haben sie überredet!” Immer noch jubelnd rannten sie Richtung Disco. Doch als die Schnellsten den Kopf zur Tür hereinsteckten erwartete sie eine Ãœberraschung. Der Raum war voll. Proppevoll. Ãœberall saßen, standen und tanzten Spanier. Dazu lief laute Musik. Als die Neuankömmlinge bemerkt wurden, herrschte schlagartig Stille. Schließlich trat ein gelockter, leicht rundlicher Junge auf sie zu. Er stellte sich als Paolo vor und lud sie alle ein mitzufeiern.
“Francis, ich habe versprochen mir keine Gedanken zu machen, aber ist es sehr schlimm?” Unsicher kniff Elena die Augen zu.
“Schlimm? Nein. Dir wird’s gefallen.” Inzwischen waren sie vor einer schallgedämmten Tür angekommen, trotzdem konnte man von der anderen Seite laute Musik und Lachen hören.
“Jetzt habe ich doch gedacht.” Ertappt hob Elena den Blick.
“Und?” “Eine Party!” Francis brach in Gelächter aus.
“Ach nein! Was für eine Glanzleistung! Eine Party. Elena, das ist deine Party.” Mit diesen Worten stieß er die Tür auf und stürmte in den Raum. Sofort wurde die Musik leiser gedreht und in den Lautsprechern knackte es; ein sicherer Hinweis auf ein eingeschaltetes Mikrofon. Vorsichtig lugte Elena durch die Tür. Das Bild was sich ihr bot war wirklich köstlich zu nennen. Auf der einen Seite stand zusammengedrängt ihre Klasse und auf der anderen Seite tanzten ihre spanischen Freunde. Alle waren sie gekommen, selbst die, die sie gestern nicht begrüßt hatte. Lachend trat sie durch die Tür. Zeitgleich ergriff einer der Spanier das Mikro, sprang auf einen Tisch und begann auf Englisch zu reden.
“Und hier ist sie wieder, unsere umwerfende Elena. Komm doch zu mir Süße, wow tolle Beine.“ Pfiffe unterbrachen ihn, lachend kniff er ein Auge zu.
“Ok, also hier ist sie wieder und jetzt wird sie, die drei Monate weg war, sich nie gemeldet hat und gestern das Straßenfest für Ronaldo vermiest und für uns gerettet hat, einige Worte zu euch sagen.” Mit einem breiten Grinsen überreichte ihr Juan das Mikrofon.
“Äh…ja.” Einen Moment stand Elena perplex da, dann lachte sie.
“Wenn ihr wollt, aber Achtung es wird hart!” Francis pfiff.
“Klappe Francis, ich rede. Wisst ihr was ich hier sehe? Zwei Gruppen die sich gegenüberstehen ohne Hallo zu sagen. Die eine Gruppe tanzt und die andere nicht. Die eine Gruppe macht Stimmung und gibt der anderen nichts ab. Meine Güte Leute, muss man erst ein Tanzwettbewerb eröffnen, damit ihr lacht? Und Paolo, frag nicht woher ich es weiß, du magst sie vielleicht eingeladen haben, aber sie danach in der Ecke stehen zu lassen, und das gilt für euch alle, dass ist als würde man sie gleich wieder ausladen. Äh… reicht das für einige Worte?” Francis lachte.
“El, wir haben den Wink verstanden. Los Leute, schnappt euch jemanden. Aber halt! Finger weg von Loretta. Die krieg ich!”
Freudestrahlend blickte Elenas Freundin zu Francis, der sich mühsam einen Weg zu ihr hinbahnte. Janina, die ihm lässig zuwinkte, schenkte er dabei keine Beachtung.
Elena zwinkerte ihr zu. Hanna reckte einen Daumen hoch und Erika klopfte ihr aufmuntern auf die Schulter. Dann begann Elena sich ihren Weg zu Hanna freizuschießen.
“Hanna!” Ihre Freundin drehte sich um.
“Oh, Elena. Es tut mir so Leid! Wir hätten dich mehr nach Spanien fragen sollen, bitte denk jetzt nicht wir wären desinteressiert, ja?” Bittend legte Hanna den Kopf schief.
“Ich hätte auch von mir aus etwas erzählen sollen, vor allen seit ich weiß, dass wir eine Klassenfahrt machen, die genau in mein Heimatdorf führt. Also Kopf hoch, lass uns tanzen.” Hanna strahlte, doch bevor sie einwilligen konnte wurde sie von hinten umarmt.
“Kommt nicht in Frage. Hanna tanzt heute mit mir.” Phillip umfasste seine Freundin von hinten und zog sie auf die Tanzfläche.
“Darf ich bitten?” Ironisch grinsend stellte Tim sich vor Elena.
“Klar. Ich kann nur nicht tanzen. Versteh das jetzt als Warnung und sag nachher nicht, du hättest es nicht gewusst.” Fröhlich folgten sie ihren Freunden. Nur Erika stand noch verlassen an derselben Stelle wie zu Beginn der Veranstaltung. Deprimiert ließ sie die Schultern hängen. Schon wieder dasselbe, sie war einfach zu pummelig um von jemandem zum Tanzen aufgefordert zu werden. Seufzend hob sie den Blick, als sie eine Bewegung neben sich wahrnahm. Ein kleiner sommersprossiger Spanier lehnte neben ihr an der Tischkante und folgte gespannt dem Geschehen auf der Tanzfläche. Er bemerkte ihren Blick und sah sie an.
“Hei, bist du Erika?” Erstaunt öffnete sie den Mund, doch der Junge sprach schon weiter.
“Ich bin Paolo. Ein alter Freund von El.” Neugierig nahm Erika ihn genauer in Augenschein. Es war derselbe Junge, der sie zu Anfang eingeladen hatte. Er hatte gelockte Haare und schmale blitzende Augen. Auch er war ein bisschen untersetzt, schien sich aber nicht im Geringsten daran zu stören.
“Tanzt du?” Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen biss sie sich auf die Zunge. Warum fragte sie noch? Es war doch klar, dass sie eine Absage bekam.
“Nee, tut mir Leid. Geht grad schlecht. Ich in gestern von einem Dach gesprungen und habe mir dem Fuß verknackst.” Wie zur Bestätigung deutete er auf seinen verbundenen Fuß. Er war Erika bisher noch gar nicht aufgefallen.
“Oh.” Sag was Sinnvolles, komm schon Erika, jetzt sag schon was. Unbehaglich trat sie von einem Fuß auf den anderen. Er hält dich bestimm für eine verklemmten Streber, wenn du hier nur herumhüpfst.
“Der Typ mit dem Elena tanzt, ist das ihr Freund?” Ãœberrascht blickte Erika auf. Tim? Erst im nächsten Augenblick zuckte sie innerlich zusammen. Es war ja klar, dass sich der kleine Spanier nur für Elena interessierte.
“Er wäre es wohl gerne. Aber bei El weiß man nie.” Niedergeschlagen zuckte sie mit den Schultern.
“Hm.”
“Was?” Erika sah auf.
“Ach nichts. Aber ich glaube er hat keine allzu großen Chancen. Seit ich denken kann ist El in Pablo verknallt. Traut sich bloß nie was zu sagen, weil Pablo einen so fertig machen kann, dass selbst der härteste Kerl heult.”
“Wer ist Pablo?” Interessiert überflog Erika die anwesenden Gesichter.
“Das weißt du nicht? Dann hat Elena euch also gar nichts über Spanien erzählt? Dabei hat sie mir gesagt Hanna, Loretta und Erika würde sie es noch erzählen.”
“Wir hatten bis jetzt kaum Zeit.” Verteidigte sie ihre Freundin, “Sie kam mitten in der Nacht, heute morgen ist sie ganz früh weg, dann das Frühstück und jetzt das hier. Da kann man ja nirgends in Ruhe reden.”
“Ihr braucht also Zeit?” Nachdenklich ließ Paolo seine Hände sinken, “Was macht ihr morgen?”
“Eine Fahrt nach Barcelona. Um sechs in der Früh geht es los und abends kommen wir spät wieder. Wir sind nur vier Stunden in der Stadt.”
“Ist die Fahrt freiwillig?” Paolos Augen leuchteten listig.
“Nein! Wo denkst du hin. Das hier ist eine Klassenfahrt, da ist sogar der Klogang verpflichtend.” Der Junge grinste.
“Nicht schlecht. Liegt euch viel daran, nach Barcelona zu kommen?”
“Loretta bestimmt, sie will da shoppen. Hanna weiß ich nicht und ich mag Städte nicht besonders, von mir aus könnte der Bus ruhig drei Platten haben.” Antwortete sie irritiert. “Wieso?”
“Na ja, wenn ihr sie ausfallen lasst, hätte El Zeit euch ihre Geschichte einzutrichtern. Und glaub mir, für ihre Story würde eure Bundeskanzlerin den G8-Gipfel sausen lassen. Aber das geht wohl nicht. Na dann, mach’s gut.” Er drehte sich um. Reflexartig griff Erika nach seinem T-Shirt.
“Hey, warte.” Erschrocken über ihre eigene Courage zog sie ihre Hand wieder zurück.
“Sie kann uns ihre Geschichte doch auch im Bus erzählen.” Paolo schüttelte den Kopf.
“Ja klar. Und alle hören zu. Die würden sie für verrückt verkaufen. Hier kann sie euch wenigstens noch ein paar Schauplätze zeigen. Aber im Bus? Die lachen ja schon wenn sie erfahren, dass einer nicht schwimmen kann.” Er wollte wieder gehen, doch Erika hielt ihn noch einmal zurück.
“Angenommen, mindestens eine Person möchte ihre Geschichte hören?” Ein Strahlen huschte über Paolos Gesicht.
“Dann würde man eine Möglichkeit suchen, diese Person samt Elena von der Busfahrt auszuschließen.”
“Hui, das klingt aber formal.” Triezte Erika, “Bist du sicher, dass man das auch ausführen kann?”
“Klar, Francis und El schaffen fast alles.” Zuversichtlich nickte er, jetzt klang seine Stimme hoffnungsvoll.
“Würdest du dir die Geschichte anhören?” Erika nickte knapp.
“Eine von den beiden Anderen auch?” Nachdenklich wiegte sie den Kopf.
“Vielleicht. Ich weiß nicht genau.” Aufmunternd drückte Paolo ihre Hand.
“Frag sie!”
“Lass mich in Ruhe Ellen! Ich will jetzt nicht tanzen und schon gar nicht mit dir!” Gekränkt ließ Ellen Eleonora ihre Hand sinken, mit der sie zuvor Pablos Arm umklammert hielt. Pablo ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, endlich fand er, wonach er suchte. Elena tanzte ein paar Schritte weiter mit einem Jungen aus ihrer Klasse und lachte dabei fast ununterbrochen. In Pablo knurrte es. Was tanzte Elena auf ihrer Willkommensfeier mit einem Jungen den sie sowieso die ganze Zeit in Deutschland sah? Das konnte er auch. Resigniert wandte er sich wieder Francis Zwillingsschwester zu. Äußerlich hatten die Beiden zwar einige Gemeinsamkeiten, doch vom Charakter her waren sie grundverschieden. Francis hatte zwar die kriminelleren aber doch die besseren Eigenschaften mitbekommen, während seine Schwester mehr negative als positive Charakterzüge besaß.
“Hey, Ellen. War ein Scherz. Natürlich tanz ich. Und erst recht mit dir.” Dabei sah er sie mit seinen braunen Augen so intensiv an, dass Ellen ein Kribbeln durch den Körper fuhr. Vergessen waren seine harten Worte und die verletzenden Gesten. Willig ließ sie sich auf die Tanzfläche führen. Pablo tanzte bewusst in Elenas Nähe, damit ihr auch ja nicht entging, dass er sich bestens mit Ellen amüsierte. Eigentlich war es ein niederträchtiger Plan, Elena eifersüchtig zu machen. Aber Pablo wusste sich zurzeit keine andere Hilfe. Deshalb traf ihn erneut ein heftiger Anfall von Eifersucht, als er Elena weiterhin fröhlich mit ihrem Klassenkameraden reden hörte.
“Mensch, hör auf zu grinsen. Langsam nervt es.”
“Ja und das Englisch nervt auch. Sollen wir nicht deutsch reden?” Hoffnungsvoll sah Tim in Elenas Gesicht. Beinahe hätte sie ja gesagt, hätte sich Pablo in diesem Augenblick nicht in das Gespräch eingemischt.
“Ola! Darf ich dich mal kurz ablösen?” Ohne auf Antwort zu warten, griff er sich Elena und schob sie ein Stück weiter auf die Fläche.
“Was ist nur mit dir los?” Kopfschüttelnd musterte Pablo seine Freundin, “Sonst hast du mich immer freiwillig aus Ellens Klauen befreit.”
“Ich war beschäftigt.” Elena lachte, “Du glaubst es nicht, aber wenn Tim grinst muss ich so lachen…” Pablo wirbelte sie herum.
“Mann, bin ich froh, dass du wieder da bist!” Erfreut lächelte Elena.
“Aber ich geh auch wieder, denk dran.”
“Jetzt bist du ja da.“
Pablo drückte sie an sich, so dass sie aus dem Rhythmus geriet und strauchelte. Sofort war Tim hinter ihr und wollte sie auffangen, doch Pablo zog sie einfach wieder zu sich auf die Füße.
“Hey, du bist doch der, der gestern mit offenen Mund auf das Podium vom Bürgermeister gestarrt hat. War die Rede so interessant?” Der spöttische Unterton in Pablos Stimme war kaum zu überhören. Verteidigend schüttelte Tim den Kopf.
“Sicher doch. Das habt ihr alle gemacht. Wie die Besoffenen standet ihr da und habt geglotzt. Das hat selbst Paolo gesagt.” Triumphierend stemmte er die Arme in die Seiten und brachte es fertig auf Tim herunter zu gucken, obwohl er genauso groß war wie sein Gegenüber. Fassungslos suchten Elenas Augen Paolo. Der hatte gelästert? Das war eine Premiere! Aber dass er ausgerechnet über ihre Freunde herziehen musste gefiel ihr nicht. Paolo lehnte neben Erika an einer Tischkante und deutete entschuldigend auf seinen Fuß. Elena grinste. Typisch Paolo, da dachte sich der Typ doch gleich eine hieb- und stichfeste Ausrede aus um nicht tanzen zu müssen! Sie boxte Pablo in die Seite.
“Wettest du? Ich bin mir sicher Paolo hat erzählt, dass er sich seinen Fuß bei einem Sprung vom Dach verstaucht hat.” Verwirrt ließ Ihr Kumpel von Tim ab.
“Was? Oh, ach so. Nee, bestimmt hat er erzählt er ist die Treppe runtergeschupst worden.” Noch während er sprach drängelte er sich durch die Tanzenden. Francis klopfte Elena bewundernd auf die Schulter.
“Wow, du hast ihn angelenkt. Gratuliere, wer weiß wie er sonst mit deinem Kumpel umgesprungen wäre.” Elena guckte erschrocken. Tim hatte sie völlig vergessen! Sie hatte kaum mitbekommen, dass er von Pablo fertig gemacht wurde. Schuldbewusst senkte sie den Kopf. Sie war durch Paolo so abgelenkt gewesen, sie hatte einfach nicht mehr zugehört. Paolo würde etwas zu hören kriegen! Sie einfach abzulenken. Aber wenigstens hatte sie Pablo von Tim angelenkt. Eigentlich eine Glanzleistung - wäre es bewusst geschehen. Cool grinste sie und schlug bei Francis mit ihrem alten Spruch ein.
“Viva Chaco!” Dann folgte sie Pablo. Ein erstarrter Francis blieb hinter ihr zurück.
“Hanna?”
“Hm?” “Kommst du mal?“ Träge erhob sich die Freundin von Phillips Schoß, auf dem sie zuvor gesessen hatte. Sie folgte Erika in eine relativ leere Ecke der Disco. Loretta wartete schon dort. Ungeduldig begrüßte sie die Beiden.
“Was gibt es denn so Dringendes?” Nervös trat sie von einem Fuß auf den anderen.
“Beruhig dich. Alles halb so schlimm. Es geht um El.” Hanna stöhnte auf.
“Erika, wir haben doch schon darüber gesprochen. Abgestimmt haben wir, als El neu in unsere Klasse kam. Was regst du dich denn jetzt so darüber auf?” Verständnislos starrte ihre Freundin sie an, dann ging ihr ein Licht auf.
“Nein, so meine ich das nicht. Aber ich habe grad mit einem von ihren Kumpels gesprochen, dabei habe ich gesagt, dass uns die Zeit fehlt uns Elenas Geschichte anzuhören.”
Jetzt stöhnte auch Loretta.
“Aber wir haben morgen im Bus doch noch genug Zeit dazu!”
“Nein. Ja. Nein. Lasst mich doch einfach einmal ausreden ja?”
“Versprochen, keine Unterbrechungen mehr.”
“Also, der Typ meinte, wir könnten uns nicht im Bus darüber unterhalten. Weil wir ihr da nicht glauben würden, oder so. Auf jeden Fall will er, dass wir uns die Story morgen anhören. Wenn die Anderen in Barcelona sind. Ich habe ihm schon zugesagt. Ihr müsst das selbst entscheiden, ich sag ihm dann Bescheid und er überlegt sich dann was. Ich meine einen Grund warum wir nicht nach Barcelona können.” Schweigen. Erika wurde ungeduldig. Hielten ihre Freunde sie vielleicht für verrückt? Oder dachten sie - der Gedanke durchzuckte sie wie ein Stromschlag, daran hatte sie noch gar nicht gedacht, - Erika sei auf einen Hochstapler hereingefallen? Hanna beugte den Kopf vor.
“Wer hat das gesagt?” Ihre Freundin spähte vorsichtig über ihre Schulter.
“Der Kleine mit den Locken. Er steht bei Elena und noch so einem, der so wirkt als hätte er eine Wette verloren.”
“Der der uns begrüßt hat?” Loretta mischte sich ein, “Francis meint, Paolo wäre Els bester Freund. Ich glaube nicht, dass der uns auf den Arm nehmen will. Aber wie will er es hinkriegen vier Leute von einem Ausflug fernzuhalten?” Erika triumphierte. Loretta hatte für sich und Hanna zugesagt und Hanna hatte nichts dagegen! Sie hatte gewonnen.
“Ja genau, wie will er das bewerkstelligen?” Neugierig musterte Hanna ihre Freundin. Die zuckte die Schultern.
“Keine Ahnung. Francis und Elena würden fast alles hinkriegen, meint er.”
“Sprich mit ihm, er soll sich schnellstens was überlegen!” Befahl Hanna. Sie sahen Erika dabei zu, wie sie zielstrebig auf Paolo zusteuerte. Als sie ihn erreichte zögerte sie, doch dann tippte sie ihm auf den Rücken. Der Spanier drehte sich um und hörte ihr aufmerksam zu. Schließlich deutete er auf Elena. Nachdenklich zog diese die Stirn in Falten. Plötzlich nickte sie und verschwand mit Pablo im Schlepptau aus der Disco.
“Wo bleibt sie denn schon wieder? Gleich macht Frau Lampe ihre Kontrollrunde und Elena fehlt.” Natascha stemmte wütend die Hände in die Hüften. Da klopfte es an der Tür.
“Da habt ihr die Bescherung. Das dürft ihr erklären.” Trotzig setzte sie sich auf ihr Bett. Herr Schuhmann steckte den Kopf durch die Tür.
“Na? Alle vollzählig? Dann in die Betten und das Licht aus!” Franziska platzte.
“Nein. Elena fehlt. Sie ist mal wieder nicht aufgetaucht. Sie ist einfach aus der Disco verschwunden, das hab ich gesehen. Aber wo sie ist weiß ich nicht. Das sollten Sie vielleicht mal ihre Freunde fragen.” Kampflustig stellte sie sich vor Hanna.
“Franziska, ich kann dich beruhigen. Elena spricht zurzeit mit Frau Lampe über ihr gestriges Verhalten. Sie wird sich morgen bei dem Bürgermeister entschuldigen. Das heißt allerdings, dass sie unseren Klassenausflug voraussichtlich nicht mitmachen kann. Das tut mir sehr Leid, aber Strafe muss sein.” Natascha hustete. Automatisch klopfte Erika ihr auf den Rücken.
“Gut, dann wissen wir Bescheid.” Herr Schuhmann verschwand. Jetzt gab sich Natascha keine Mühe mehr ihr Lachen zu unterdrücken.
“Ha, da seht ihr was man von so was hat. Und jetzt macht das Licht aus ich bin müde, wir müssen morgen um halb fünf aufstehen!”
Eine Viertelstunde später wurde die Zimmertür leise geöffnet, ein Schatten huschte herein und schloss die Tür hinter sich.
“Elena?” Verschlafen richtete Hanna sich auf.
“Psst! Still, was gibt’s?” Sie schlich zu Hannas Bett.
“Du kannst morgen nicht mit? Wie schade.” Hanna hatte ihre Ironie wieder gefunden. “Was ist mit uns?”
“Du reitest doch, oder?” “Hm.”
“Da lernt ihr doch auch Fallen, nicht?” “Klar!”
“Pass auf, dann kannst du doch morgen die Treppe runterfallen und dir ganz doll am Fuß wehtun. Francis bringt dich dann, natürlich in seiner Aufgabe als Hoteljunge, zum Arzt.” “Das kriege ich hin. Aber…” “Aber?”
“Aber was ist, wenn Phil mich zum Arzt bringen will?”
“Das wird er schön sein lassen. Ersten, er weiß den Weg nicht. Zweitens, unser Arzt spricht sehr schlecht Englisch und drittens… ach vergiss es.”
“Was drittens?” Elena schüttelte den Kopf.
“Drittens… drittens würde er es sowieso nicht machen.”
“Hey, das weißt du doch nicht!” Empört setzte Hanna sich auf. Elena drückte sie zurück.
“Lass gut sein, es war nicht so gemeint.” Unzufrieden mit der Erklärung verschränkte ihre Freundin die Arme vor dem Oberkörper.
“Und Erika und Loretta? Die können doch auch nicht mit zum Arzt.”
“Loretta wird morgen früh kotzen.”
“Was? Das ist nicht dein Ernst.”
“Doch, ” Elena drehte sich um, damit Hanna ihr Lächeln nicht sah, “als Pablo Francis informiert hat, der muss dich ja zum Arzt bringen, da hat er Francis ein Kraut gegeben, welches wir nach der Disco gesucht haben. Francis hat es Loretta dann ins Getränk gekippt. Keine Drogen oder so. Was Harmloses. Das habe ich früher selber genommen, wenn ich nicht zur Schule wollte. Nach ein paar Stunden muss man brechen und eine Stunde später noch einmal. Keine Nebenwirkungen. Loretta müsste sich das erste Mal so gegen vier übergeben und dann noch mal um fünf. Damit Frau Lampe es auch ja sieht. Und Erika spielt dann die gute Freundin und verzichtet zugunsten von Loretta auf die Fahrt. Sie ist die Einzige die sogar sagen kann, dass sie Städte nicht besonders mag.”
“Wieso? Ich kann das doch auch sagen.” Hanna öffnete fragend die Augen.
“Nein, bei dir wäre es eine Lüge. Du magst Städte wie Berlin, Hamburg oder München. Und lügen darf man nicht.”
“Hast du denn noch nie gelogen?” Erstaunt richtete Hanna sich noch einmal auf.
“Oberstes Gesetz: Erzähl nie Lügen. Damit kann ich leben. Hieße das erste Gesetz: Sag immer die ganze Wahrheit, wäre die Sache schon wesentlich schwerer.”
“Was ist den da der Unterschied?” Verwirrt blickte Hanna ihre Freundin an.
“Wenn du immer die ganze Wahrheit sagen musst, kannst du nichts verschweigen. Wenn du bloß nicht lügen darfst, kannst du über Vieles schweigen.” Elena sah Hanna direkt in die Augen.
“Außer dein Gegenüber fragt genau nach diesen Sachen.”
“Genau, außer dein Gegenüber fragt nach diesen Dingen.” Bestätigte Elena.
“Gute Nacht, Hanna.” Doch Hanna war schon eingeschlafen.
Gegen vier Uhr hörte Elena die Badezimmertür. Sie setzte sich auf, Sekunden später hörte sie Loretta würgen. Auch die Anderen erwachten.
“Was ist denn los?” Mühsam erhob sich Natascha aus ihren Kissen.
“Loretta ist schlecht.” Elena bemühte sich um eine ruhige Stimme. Sie wusste selbst wie ekelhaft der Geschmack des Pulvers auf der Zunge lag, während man die eine Stunde bis zum nächsten Mal abwartete.
“Was? Loretta?” Sofort war Hanna auf den Beinen und lief ins Bad. Elena rief die Zimmergenossinnen zu Ordnung.
“Legt euch wieder hin. Stellt euch vor ihr wärt Loretta und kommt in ihrem Zustand vom Klo - und Alle starren dich an.” Sie legte sich wieder hin.
Eine halbe Stunde später wurde sie von Franziskas Handywecker aus dem Schlaf gerissen. Und wieder eine halbe Stunde später verschwand Loretta erneut auf der Toilette. Diesmal holte Erika die Lehrerin. Alarmiert schob Frau Lampe den Kopf durch die Baddezimmertür. Mit einem Blick registrierte sie die Situation.
“Ich glaube, wir haben noch eine Person, die heute nicht mitkommen kann. Zum Glück seit ihr zu zweit, Elena wird ein Auge auf die haben Loretta, da sei mal unbesorgt.” Sie wollte gehen.
“Aber Frau Lampe…” So macht es Frau Lampe richtig, dachte Elena voll Spott, schnell die Situation klären und aus dem Gestank raus.
“Ja, Elena?”
“Ich weiß, dass man bei Herrn Ronaldo sehr lange warten muss, bis man aufgerufen wird. Wenn ich also ein Auge auf Loretta haben soll, kann ich kaum zu unserem Bürgermeister gehen.” Nicht gelogen. Elena atmete auf.
“Ach ja? Wenn das so ist. Bestimmt kann Frau Eleonora…”
“Frau Lampe?” Erika unterbrach den Gedankengang ihrer Lehrerin, “Ich kann bei Loretta bleiben. Wissen sie, sie ist meine Freundin und große Städte mag ich nicht besonders, um nicht zu sagen gar nicht.” Hoffnungsvoll blickte sie zu der Frau auf. Die fasste sich an die Stirn.
“Ich entsinne mich. In Hamburg hast du doch Platzangst bekommen, nicht wahr? Bei unserem letzten Klassenausflug?” Ein schwaches Nicken bestätigte ihre Vermutung. “Nun, dann ist es vielleicht wirklich besser, wenn du hier bleibst, vor allem wenn du selber es schon so nett anbietest. Und der Rest: Beeilung, in fünfzehn Minuten geht es los!” Sie hinterließ ein grenzenloses Chaos. Trotzdem waren die übrigen drei Mädchen pünktlich fertig. Hanna tat ungeduldig.
“Was braucht der Fahrstuhl denn so lange? Wir sind schon spät dran, kommt lasst uns die Treppe nehmen.” Sie spurtete los, Natascha lief hinter ihr her und Franziska musste wohl oder übel folgen. Hanna hatte gerade die letzte Treppe erreicht als es passierte. Sie stolperte mitten im Laufen, knickte um, fiel hin und rollte die letzten Stufen hinunter. Unten angekommen war sie der Meinung, dass ein Schrei angebracht wäre und schrie auf. Annette, die ihr am nächsten stand, schrie mit.
“Mein Gott, Hanna. Ist was passiert?” Sie wollte Hanna auf die Füße helfen, die ließ sich jedoch mit einem erneuten Schmerzensschrei wieder auf den Boden sinken. Eine besorgte Frau Lampe erschien.
“Hanna, alles in Ordnung?”
“Aua, mein Fuß tut so weh. Aua!” Sie rieb sich den umgeknickten Fuß. Nur Francis fiel auf, dass es nicht der Fuß war, den sie sich oben an der Treppe umgeknickt hatte. Er griff ein.
“Ich denke, damit sollten wir zu einem Arzt. Es ist nicht gut mit einem verletzten Knöchel in Barcelona auf und ab zu stolzieren.” Er sah Frau Lampe ins Gesicht.
“Ganz meine Meinung. Wer begleitet Hanna zu einem Arzt?” Stille.
“Ich kann das erledigen. Unser Arzt spricht sowieso nur sehr schlechtes Englisch und ich kenne auch den Weg dorthin.” Frau Lampe atmete auf.
“Dankeschön, Francesco. Herzlichen Dank. Und nun: Abmarsch! Der Bus wartet.” Sie trieb die gaffenden Schüler aus der Empfangshalle. Francis half Hanna auf.
“Wir müssen wenigstens so tun als würden wir losgehen. Komm, leg deinen Arm um meinen Nacken, dann sieht es halbwegs echt aus. Das war übrigens ein atemberaubender Sturz. Sah echt gut aus.” Er bugsierte die schweigende Hanna aus dem Hotel.
“Was ist? Hast du dir wirklich wehgetan?” Besorgt blickte Francis auf ihren Fuß.
“Nein, es ist nur, mein Freund hat sich kein einziges Mal nach meinem Befinden erkundigt. Er hat auch nicht angeboten mich zum Arzt zu bringen. Elena hat so was gestern schon gesagt, aber es ist doch hart.” Eine Träne lief über ihre Wange.
“Wenn Elena so etwas sagt, kannst du dich normalerweise darauf verlassen. Sie hat eine außergewöhnliche Menschenkenntnis. Und ein phänomenales Gedächtnis. Sei nicht traurig, wenn er dir nicht geholfen hat, war er kein echter Freund.” Sie blickten dem Bus nach, bis er hinter einer Kurve verschwand. Da drehte Francis um, er zog seinen Arm zurück und schubste Hanna sanft vorwärts.
“Jetzt los, bevor sie ohne uns anfangen. Dann verpassen wir die beste Story unseres Lebens!”
Francis führte Hanna durch kleine staubige Straßen, auf denen Kleinkinder in Dreck spielten, zwischen baufälligen Häusern, deren Fenster größtenteils vernagelt waren, und klapprigen Hütten, vor denen rauchende Jugendliche saßen, entlang, aus dem Dorf hinaus. Hanna schluckte.
“Das hier ist wohl nicht das, was du gewohnt bist, wie? Ja, es gibt auch Elend, Hunger und Diebstahl in dieser Stadt. Zwischenzeitlich war die Kriminalitätsrate schon fast auf Null, aber dann ist Elena verschwunden, unser Fels in der Brandung und unsere Hoffnung, und schließlich auch Chaco, unser Stolz. Man konnte zusehen wie das Elend hier mit jedem Tag wächst. Vor allem die Jugendlichen hatten keine Beschäftigung mehr, weil die Touristen nicht mehr kamen wurden auch keine Aushilfskräfte mehr gebraucht. Kinder gingen auf der Straße betteln und das vertrieb noch mal einen Teil Touristen. Alle die du hier siehst, sie wollten vorgestern auf dem Fest demonstrieren, gegen den Bürgermeister. Das hätte wahrscheinlich auch die restlichen Gäste vertrieben. Pablos Aktion sollte das verhindern, aber fast hätte sie die Demonstration noch heraufbeschworen. Diejenigen, die demonstrieren wollten, standen schon hinter der Ecke, als Elena eingriff. Da kam plötzlich die Hoffnung wieder. Man hatte jemanden an den man sich klammern konnte. Und es hat schon gewirkt. Sie rauchen keine Joints mehr, nur noch Zigaretten.” Abwesend stiefelte Francis weiter durch die Straßen. Seine Augen abwesend nach vorne gerichtet, die Hände in den Hosentaschen vergraben. So kannte Hanna ihn gar nicht. Sie hatte ihn immer nur gut gelaunt und zu jeden Spaß bereit erlebt. Es kam ihr nun fast wie ein Schock vor, hinter diesen fröhlichen Francis noch ein tiefsinnigeres Spiegelbild zu erblicken. Zögernd fragte sie:
“Was hat denn die Kriminalitätsrate auf Null runtergebracht?” Francis Augen leuchteten auf.
“Elena. Sie erzählt euch die ganze Geschichte gleich. Aber wegen ihr kam schließlich wieder Geld in die Kasse und die Touristen kamen auch. Du kannst die denken was das heißt, oder?” Hanna nickte leicht. Verträumt fuhr Francis fort.
“Das war eine echt gute Zeit. Genau das richtige für mich. Jeden Tag ein bisschen Action.” Er hatte seinen leichten Ton wieder gefunden.
“Ich dachte, je mehr Touristen kommen, desto höher steigt die Anzahl der Verbrechen. Diebstahl und so. Weil die Einwohner eifersüchtig auf das ganze Geld der Touristen sind. Oder weil die Urlauber etwas haben, was sie sich einfach nicht leisten können und… und dann klauen.” Francis sah sie so lange mit seinen dunklen Augen an, dass Hanna den Kopf zwischen die Schultern zog, aus Angst etwas Falschen gesagt zu haben. Nach einer Weile sprach ihr Begleiter jedoch weiter.
“Ja. Mit dieser Problematik haben sich auch unsere Politiker auseinandergesetzt. Das Ergebnis war, dass ein paar zusätzliche Polizisten gesucht wurden und das die Strafen für Diebstahl weiter hochgingen. Mit jedem Diebstahl ging die Geldstrafe um fünf Euro hoch. Wenn man nicht zahlen konnte gab es Jugendarrest. Oder man versteckte sich bei Elena.” Erschrocken unterbrach Hanna ihn.
“El hat die Diebstähle unterstützt?” Fassungslos starrte sie Francis an.
“Nein” Er schüttelte leicht den Kopf, sein Haar fiel ihm dabei vor das Gesicht. “Nein, Elena hat die Diebstähle nicht unterstützt. Aber sie wusste, dass die Strafen für die ärmeren Familien einfach unzumutbar waren. Und Jugendarrest kam für diese Familien auch nicht in Frage, sie brauchten jede freie Hand zum Geldverdienen. Zum Geldverdienen ist Diebstahl natürlich nicht der richtige Weg. Das hat Elena auch ganz klar gesagt. Und sie hat ihre eigenen Bestrafungen eingeführt. Und glaub mir, die waren teilweise schlimmer als die Geldbuße. Zum Glück hatten die Jugendlichen noch so viel Anstand ihre Familie nicht mit herein zuziehen und Els Strafe anzunehmen. Ihre Strafen fielen jedes Mal anders aus, so dass niemand sagen konnte: Guck mal, da läuft einer nackt durch die Straße. Elena hat wieder einen Dieb bestraft. Nein, man konnte nie wissen, was kam. Wenn einer rückfällig wurde und ein weites Mal zu Elena gekrochen kam, gab es vier normale Strafen oder Eine, nur doppelt so hart. Das konnte man sich aussuchen. Das härteste was ich erlebt habe war eine Gefängnisstrafe. Der Junge wurde das fünfte Mal erwischt. Da ist Elena der Geduldsfaden gerissen und sie hat ihn ins Gefängnis geworfen. Einen Monat lang. Jeden Tag nur Brot und zwei Liter Wasser. Elena hat das Essen persönlich gebracht, die Wächter wussten schließlich nichts von ihrem Insassen, damit versicherte sie sich auch, dass niemand mit dem Jungen sprach. Und das war das einzige Mal, dass Elena eine Familie mit herein gezogen hat. Einen Monat lang hat die Familie nichts von ihrem Kind gehört. Sie hat sich nachher entschuldigt, die Entschuldigung wurde auch angenommen. Diese Familie hat sich echt gebessert. Der Vater hat den Vorfall als Grund genommen, mit der Erziehung seines Sohnes noch einmal von vorne anzufangen. Es hat gewirkt. Paolo ist der beste Charakter den diese Stadt zu bieten hat.”
“Paolo? Der aus der Disco?” Ungläubig schaute sie Francis an.
“Ja, Paolo, der aus der Disco. Der Vorfall liegt etliche Jahre zurück. Paolo und Elena waren acht.”
“Acht?” Jetzt blieb Hanna geschockt stehen. “Er muss ein Trauma gekriegt haben. Mit acht einen Monat lang in einem Gefängnis eingesperrt zu sein. Schrecklich.” Verträumt nickte Francis.
“Das dachten wir alle. Aber die Beiden sind besondere Charaktere. Paolo meint, weil er wusste wofür er bestraft wurde, hat er seine Strafe widerstandslos abgesessen. Und nach diesem einen Monat hat er Elena echt respektiert, vertraut, bewundert und was weiß ich noch alles. “
“Ich glaube,” fuhr er fort, “Elena hat doch ein bisschen mit ihm geredet, Bücher gebracht oder so.”
“Du hast gesagt Elena war auch acht. Wie konnte sie einen Jungen so lange unbemerkt festhalten? Warum haben selbst Jugendliche ihre Strafen akzeptiert oder sind zu ihr gekommen um Schutz zu suchen?” Francis konnte Hanna ihren Unglauben von den Augen ablesen. Sie war so in ihre Zweifel vertieft, dass sie nicht merkte, wie sie die Stadt endgültig verließen.
“Ich weiß es nicht. Ich weiß es echt nicht. Ich glaube nicht einmal Elena selbst weiß es. Als ich sie kennen gelernt habe, hatte sie schon einen riesigen Freundeskreis. Und alle sahen sie als die Anführerin an. Das war mit fünf Jahren. Sie konnte schon mit fünf Jahren auf viele Probleme der Kinderwelt eine Lösung finden. Beispielweise als wir uns im Kindergarten um ein Spielzeug stritten. Da alarmierte ein ganz kleiner Pimpf Elena. Elena hat einen Zeitplan entworfen. Montags der Eine, Dienstags der Nächste. Das war kindlich einfach, aber für uns war so eine Ãœberlegung in diesem Alter eine Glanzleistung. Und wir haben uns an den Plan gehalten, weil Elena denjenigen, der sich nicht daran hielt, aus dem Plan ausradieren wollte. Ihr Freundeskreis hat sich rasant erweitert. Sie trat immer für die Jüngeren ein, was ihr natürlich deren Sympathien sicherte. Und sie besitzt einfach ein so phänomenales Gedächtnis und eine solche Cleverness, die Jugendlichen mussten sie mit der Zeit einfach respektieren. Außerdem war sie imstande überall ihre Kritik zu äußern ohne jemanden zu verletzen. Was sie gar nicht leiden konnte waren Lügen. Als sie die erste Lüge des alten Bürgermeister entdeckt hat, begann sie regelmäßig bei ihm einzubrechen, um sich seine Pläne anzusehen. Ich habe keine Ahnung wie sie es geschafft hat, aber niemand wusste von ihren Aktivitäten. Doch es kamen immer mehr die ihren Rat wollten, Hilfe brauchten. Und Elena konnte helfen. Ich würde echt gerne ihren Intelligenzquotienten wissen. Elena wollte nie die große Königin spielen, sie wurde nur zur Monarchin gemacht. Sie hat zu spät gemerkt, dass einige sie sogar anbeteten. Da hat sie sich zurückgezogen. Ist nur noch mit Paolo, Pablo und mir herumgelaufen. In der Zeit ist auch die Sache mit Chaco passiert. Sicher hat sie weiter ihre Kritik an der Politik oder an Veranstaltungen geäußert, wenn sie diese für falsch hielt. Aber jeder ihrer Auftritte war für ihre Anhänger ein großes Erlebnis. Bis sie zwölf Jahre alt war lief das so. Danach hat sie begonnen Widerstand zu organisieren. Gegen unseren alten Bürgermeister, der war echt nichts wert. Der schlimmste Mensch den ich je kennen gelernt habe. Im Vergleich zu ihm ist Ronaldo eine gute Fee. Na ja, der organisierte Widerstand sah dann ungefähr so aus: ältere Jugendliche interessierten sich plötzlich für Politik, brachten ihr wertvolle Informationen, jüngere Kinder hörten sich überall um, sammelten Meinungen. Und dann startete Elena eine riesige Kinderdemonstration. “Wir wollen Wahrheit“. Niemand hätte das von vierjährigen Kindern erwartet, aber selbst die Kleinsten konnten den erwachsenen Auskunft über die Hintergründe der Demo geben. “Josef Luz ,unser Bürgermeister, wirtschaftete nur in seine eigene Tasche. Es gibt Beweise.” Stell dir vor, ein zwölfjähriges Kind versammelt hundert Jugendliche und Kinder auf dem großen Platz. Monatelang gab es Furore, und der Erfolg war, dass bei der Bürgermeisterwahl diesmal Ronaldo gewann. Mit ihm gab es neue Affären und Intrigen, aber klein und läppisch im Gegensatz zu Josef Luz Betrug.” Francis blickte starr geradeaus, so dass Hanna seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte, aber eine Frage brannte noch auf ihrer Zunge.
“Was ist die Sache mit Chaco?”
Doch Francis schwieg den Rest des Weges.
“Okay, wir sind gleich da.” Francis war aus seinen Gedanken gerissen worden. Hanna blickte sich um, nirgends konnte sie eine Spur von ihren Freunden entdecken. Hinter ihnen war eine weite Steppe und vor ihnen ein nahezu rechteckiger haushoher Felsen. Fragen sah sie Francis an. Der grinste, lief hinter Hanna und hielt ihr die Augen zu.
“Nur um die Ecke. Du wirst überrascht sein.” Hanna fühlte wie Francis sie ein wenig drehte und vorwärts schob. Unsicher setzte sie einen Fuß vor den anderen.
“Hey, vertrau mir. Ich lass dich schon nicht stolpern.” Francis Stimme, ganz nah an ihrem Ohr. Sie trat ein bisschen fester auf.
“Und Stopp. Oh, alle anderen sind schon da. So dreh den Kopf nach links, genau und mach die Augen auf.” Langsam öffnete Hanna ihre Augen und Francis trat zurück, ein bisschen vermisste sie seine Gegenwart. Aber der Blick der sich ihr bot, ließ sie das schnell vergessen. Sie sah sich einem gigantischen Wasserfall gegenüber, der ein paar hundert Meter entfernt in die Tiefe stürzte, sein Donnern konnte man selbst auf dies Entfernung noch vernehmen. Sonnenstrahlen brachen sich in der Gischt am Fuße des Wasserfalles und die Tropfen blitzten wie Edelsteine zu ihr herüber. Aber das war noch nicht alles. Ein paar Meter vom eigentlichen Wasserfall entfernt, fiel ein nicht so breiter, dafür aber umso stiller, Wasserfall in einen tiefen ruhigen See. Seine Gischt schäumte wie Nebel über die leicht gekräuselte Oberfläche des Wassers. Zwei schmale Gestalten bewegten sich wie Tänzer vor diesem Szenario.
“Wow.” Hanna drehte sich um, Francis hatte sich gegen den Felsen gelehnt und grinste. Neben ihm, auf einem kleineren Felsen, saß Loretta und räkelte sich in der Sonne. Erika hatte sich neben Paolo, dessen Fuß inzwischen nicht mehr verbunden war, auf den Boden gesetzt und sah erwartungsvoll zu ihr auf. Doch Hanna war ob so viel Schönheit sprachlos.
“Sprachlos, sie ist sprachlos. Francis, du hättest ihr nicht die Augen zuhalten sollen, jetzt hat sie die Stimme verloren!” Gespielt verzweifelt schlug der dickliche Spanier die Hände vor die Augen. Francis setzte eine Doktormine auf.
“Mal sehen.” Er nahm Hannas Kinn fest in die eine Hand und zwang sie den Mund zu öffnen. Ernst betrachtete er ihren Rachen.
“Diagnose: Stimme noch vorhanden. Ich werde die Patientin jetzt behandeln.” Diesmal setzte er seine Begräbnismine auf und schob seine nicht vorhandenen Kittelärmel hoch. Plötzlich ging er in die Hocke umfasste Hannas Beine und hob sie blitzschnell hoch.
“Ahh, lass mich runter du…”
“Piep!” Unterbrach Paolo sie, “Francis, stelle fest: Behandlung erfolgreich abgeschlossen.” Lachend stellte dieser die Patientin wieder auf dem Boden ab.
“Wo ist Elena?” Lorettas Stimme zitterte ein bisschen und Hanna setzte sich schnell ein Stück entfernt von Francis auf den steinigen Boden.
“Sie kommen.” Francis deutete mit einer lässigen Bewegung zum Wasserfall. Hanna folgte seinem Arm mit den Augen. Die beiden Tänzer hatten aufgehört sich vor der Gischt hin und her zu bewegen, stattdessen kamen sie nun friedlich nebeneinander auf die kleine Gruppe zu. Francis lächelte.
“Das war ja klar, seit wann lässt El sich die Gelegenheit entgehen einmal richtig schön nass zu werden?” Man sah sofort was er meinte. Auch wenn Elena und Pablo einige Meter entfernt des großen Schäumens und Brodelns gestanden hatten, Beide waren von Kopf bis Fuß nass. Elenas leichte Bluse klebte eng an ihrem Körper und die Leinenhose hing pitschnass an ihren Beinen, lachend wrang sie ihre Haare aus. Doch das Augenmerk eines jeden Mädchens wurde automatisch auf Pablo gelenkt. Nur mit Shorts und Hemd bekleidet kam er auf sie zu. Das feuchte weiße Hemd klebte an seinem Oberkörper und betonte seine Muskeln, was Loretta ein unwillkürliches Seufzen entlockte. Erika schlug ihre Hand vor den Mund um nicht laut aufzulachen. Francis war jetzt wahrscheinlich abgeschrieben. Paolo schien das Seufzen auch gehört zu haben, er machte sich jedoch nicht die geringste Mühe sein Lachen zu unterdrücken. Flüsternd lehnte er sich zu Erika.
“Francis war sich schon vorhin bewusst, dass er ab jetzt keine Aufmerksamkeit von einem Mädchen mehr bekommt.” Erika lachte.
“Also ich will auf jeden fall diese Kirche sehen. Acht Türme, oder?” Tom blickte fragen durch den Bus.
“Also, ich” unterbrach ihn Janina, “für meine Teil, sehe es nicht ein warum ich so eine weite Strecke durch die Stadt laufen soll. Es reicht, wenn wir nur shoppen können. Da müssen wir nicht auch noch so eine lange Stadtführung machen.” Genervt verdrehte sie die Augen. Phillip stimmte zu:
“Ich habe auch keine Bock mir die Füße in Barcelona wund zulatschen.” Janina nickte wie wild.
“Mensch, Leute, könnt ihr euch erinnern, dass wir so viele Serpentinen gefahren sind, bei der Anreise.” Natascha drehte sich zu ihren Klassenkameraden um, ihr Gesicht hatte einen leichten Grünstich.
“Gleich kommt eine größere Straße, keine Sorge Natascha.” Beruhigte Herr Schuhmann seine Schülerin. “Aber wenn es gar nicht mehr geht sag Bescheid. Am Besten du setzt dich nach ganz Vorne, komm mit.” Vorsichtig führte er sie durch den Gang zu den vorderen Sitzreihen.
“Arme, Tascha.” Mitleidig sah Mareike ihr hinterher.
“Loretta und Hanna sind auch echt arm dran.” Tim stützte seinen Ellenbogen auf die Armlehne.
“Ja, aber Elena hat es verdient.” Janina unternahm keine Anstrengung um die Befriedigung ihrer Stimme zu unterdrücken. Tom schaute auf, doch Phillip war schneller.
“Vielleicht. Aber wisst ihr was ich wirklich komisch finde? Der Bürgermeister wirkte so als wäre er gar nicht überrascht, dass Elena ihn unterbrochen hat. Er war nur ein bisschen verdutzt, dass sie da war. Wenn ihr versteht was ich meine.” Janinas Kopf fuhr herum. Tim nickte langsam.
“Ja, es hat ihn nur überrascht, sie hier zu sehen, weil er sie in Deutschland vermutet hat. Aber als er sich wieder gefangen hatte, sah es aus wie ein altes Spiel, welches schon oft gespielt wurde.”
“Genau das mein ich!” Erleichtert nickte Phillip.
“Nee, da müsst ihr euch getäuscht haben.” Janina forderte die Aufmerksamkeit zurück, “Der Bürgermeister sah einfach nur wütend aus, als das Fest gestört wurde. Ich kann ihn verstehen. Wenn wir in Barcelona sind werde ich als erstes…” Stille. Fünf Sekunden herrschte vollkommene Stille, kein Geräusch war zu hören, dann unterbrach Phillip sie.
“Tja, Janina. Sieht so aus als würdest du Barcelona heute nicht mehr sehen. Ein kaputter Bus wird dich auf jeden Fall nicht dahin bringen.”
Der Busfahrer stieg aus und öffnete eine Klappe am Heck des Busses nur um den Kopf zu schütteln, seine Kappe ab und wieder auf zu setzten, nochmals den Kopf zu schütteln und die Klappe wieder zu schließen. In der Haltung eines Hundes der weiß, dass er einen Fehler gemacht hat ging er zu Frau Lampe und sprach kurz mit ihr, Frau Lampe griff sich an die Stirn und schien zu überlegen. Schließlich deutete sie auf das Mikro und griff auf ein Nicken des Busfahrers zu.
“Ich muss euch leider mitteilen, dass wir unsere Fahrt nach Barcelona nicht fortsetzten können. Zwei Schläuche sind gerissen und es fehlen unglücklicherweise die Mittel sie wieder zu reparieren. Wir haben nun die Möglichkeit hier zu warten, bis Hilfe kommt und dann zum Hotel zurückfahren oder wir wandern den kurzen Weg zurück. Ich habe mich für die zweite Möglichkeit entschieden und hoffen, dass alle geeignetes Schuhwerk anhaben. Ansonsten gehen wir die zehn Kilometer eben langsam zurück. Wir sollten auf jeden Fall in zwei bis drei Stunden am Hotel angekommen sein, also circa um neun. Nehmt bitte eure Verpflegungsrucksäcke mit. Es ist hier auch schon um neun Uhr in der früh unerträglich heiß.” Murrend und schimpfend verließen die ersten Schüler den Bus.
“Sie hat noch nicht mal gesagt, ob wir die Tour verschieben.” Maulte Franziska. Alleine Natascha wirkte erleichtert angesichts der Aussicht an die frische Luft zu kommen.
“Jetzt halt deine Klappe und geh!” Phillip schob Franziska unsanft aus dem Bus.
“Vielleicht können wir heute wenigstens den Hotelpool benutzen.”
Lorettas Kinnladen fiel herunter, als Francis seinen Teil der Geschichte beendet hatte. Nur Hanna, die ihn jetzt schon zu zweiten Mal hörte, behielt einen klaren Kopf.
“Und was ist jetzt die Sache mit Chaco?” Herausfordernd schaute sie Francis an, der blickte zu Elena. Traurig stützte diese ihren Kopf auf die Knie. Aufmunternd legte Pablo ihr einen Arm um die Schultern. Elena blickte auf.
“Ich war vier Jahre alt, da war ich mit meinen Eltern auf Urlaub in Frankreich, am Meer. Wir waren jeden Tag schwimmen und am Strand spazieren. Um es kurz zu machen, mein Vater wurde dort von einem Hai getötet. Darauf ist meine Mutter umgezogen. Wir lebten an der Küste, aber sie konnte den Anblick des Meers nicht mehr ertragen, darum sind wir hier gelandet. Ich habe schnell Freunde gefunden, die richtig Guten zwar erst nach ein paar Jahren, Francis nach einem, Pablo nach zwei und Paolo nach vier Jahren, aber ich war wieder glücklich. Mit elf Jahren habe ich dann noch einen Freund gefunden. Chaco. Ihr wisst doch noch wer er ist, oder?” Schweigen, fragende Gesichter. Elena senkte ihren Blick wieder.
“Der Polizeihelm, Frau Lampe hat doch das Referat selber gehalten.” Erika schnappte nach Luft.
“Ja, der Adler. Ich habe ihn gefunden als er mit einem gebrochenen Flügel abgestürzt war. Da konnte ich hin nicht liegen lassen, also habe ich ihn hierher gebracht. Zu diesen Felsen. Ich habe ein Dach drüber gebaut und ihn gesund gepflegt. Das hat einige Zeit gedauert, als er wieder fliegen konnte waren zwei Monate vergangen. Doch Chaco kam immer wieder, ich spielte mit ihm, fütterte ihn, lief durch die Steppe während er nebenher flog. Ich war dumm, so dumm.” Sie schluckte. Pablo drückte sie ein bisschen fester.
“Ich hätte wissen müssen, dass die Anwesenheit eines so großen, seltenen Tieres Wilderer anlockt. Letztendlich kamen sie und ich musste Chaco verstecken. Ich wollte ihn wieder auswildern, denn inzwischen ließ er sogar Paolo, Francis und Pablo an sich heran. Also beschlossen wir ihn in die Berge zu bringen.” Elenas Stimmer versagte, sie lehnte ihren Kopf an Pablos Schulter, eine Träne lief über ihre Wange. Mit ruhiger Stimme übernahm Pablo die Geschichte, er beschrieb den Weg in die Berge, den Einsturz der Brücke, den Streit, wie Elena in den Fluten verschwand und ihre verzweifelte Suche. Als er zu dem Punkt kam an dem sie Elena endlich sahen, atmete Loretta befreit auf. Pablo machte eine Pause. Paolo übernahm jetzt die Rolle des Erzählers.
“Und dann ist sie gefallen.” Loretta lachte.
“Das kann nicht sein, dass hätte sie nicht überlebt…” sie verstummte als sie in die ernsten Gesichter der vier Freunde blickte. Paolo fuhr fort.
“Wir hörten sie schreien, hoch und schrill. So ein Schrei geht einem nicht mehr aus dem Kopf. Leute aus unserem Dorf, dass zwei Kilometer weit weg liegt hörten ihn. Und Chaco hörte ihn. Er tauchte plötzlich auf, flog direkt auf El zu und ergriff sie und legte sie vor den Leuten aus unserem Dorf ab. Dann verschwand genauso schnell wie er gekommen war.” Mit lockerer Stimme führte El die Geschichte fort.
“Na ja, wie schon gesagt, bei den Leuten war diese Jury. Die war natürlich tief beeindruckt von der Show. Ronaldo hatte eine Ãœberraschung versprochen und jetzt war sie da. Wir haben den Zuschuss unter der Bedingung bekommen, eine Chaco-Show zu machen. Also bin ich jeden Samstag von der Klippe gesprungen, Chaco hat mich aufgefangen und hier abgelegt. Niemand hat sich Gedanken über Tierquälerei oder meine Sicherheit gemacht.” Francis protestierte, “Außer euch und meiner Mama, aber zum Glück ist ja auch nie was passiert. Und um ernst zu sein: Niemand wusste wer da sprang, schließlich war ich immer nur ein kleiner Punkt am Horizont. Na ja, vielleicht ein bisschen größer. Man dachte wahrscheinlich, dass es ein Stuntman oder so wäre. Also floss das Geld. Bis meine Mama es nicht mehr ausgehalten hat und wir weggezogen sind, soweit ich weiß ging es ab da bergab.”
“Radikal.” Stimmte Paolo zu.
“Ja, Chaco ist verschwunden und mit ihm die Touristen.” Francis streckte seine Arme.
“Aber Elena,” Erika sah sie nachdenklich an, “warum bist du gesprungen? Das hättest du doch nicht machen müssen. Du hättest auch einfach den Adler präsentieren können, das wäre schon genug Attraktion gewesen.”
“Du glaubst nicht wie oft wir ihr das schon gesagt haben.” Meinte Pablo.
“Ich musste springen. Die Stadt brauchte das Geld, du kannst dir nicht vorstellen was für eine Hoffnungslosigkeit auf dem Arbeitsmarkt geherrscht hat. Und einfach einen Vogel zu präsentieren, dafür hätten wir nicht halb so viel Geld bekommen.”
“Das ist ihr Standpunkt und davon weicht sie keinen Millimeter ab. Da kannst du versuchen was du willst. Das ist hoffnungslos.” Hoffnungslos klang auch Francis Stimme, doch dann huschte ein Strahlen über sein Gesicht.
“Und jetzt ist El wieder da und schon verändert sich was. In den paar Tagen. Die Leute haben wieder Hoffnung, auch wenn Chaco nicht da ist.”
“Was ist wohl mit Chaco passiert?” Sinnierte Loretta. “Ob ihn wohl doch die Wilderer erwischt haben?”
“Viele glauben das, wenige sagen, er wäre einfach weggeflogen. Ein kleiner Spinner ist der Meinung, dass er jetzt in Deutschland ist.” Pablo drückte El noch einmal leicht, dann stand er auf.
“Und El geht ihn morgen suchen.” Dann drehte er sich um, “Wer zuerst beim Wasserfall ist, wird zuerst nass!” Und rannte los. Mit offenem Mund sah El ihm hinterher. Francis fuhr herum.
“Sag, dass das nicht wahr ist!” Fast flehend sah er ihr ins Gesicht. Mit einer fließenden Bewegung stand Elena auf uns stellte sich vor Francis.
“Bisher habe ich da noch keinen Gedanken dran verschwendet, aber die Idee ist nicht schlecht. Aber egal was ich mache, wenn wir uns nicht beeilen, gewinnt Pablo das Rennen und ist mal wieder unausstehlich.” Wie auf Kommando grinsten sie und rannten los. Nachdenklich sah Paolo ihnen nach.
“Denkt jetzt nicht, sie wären nicht mehr traurig oder hätten alles schnell überwunden. Sie denken die ganze Zeit noch an die Geschichte. Aber ihr dürft jetzt auch nicht denken, dass sie nur so tun also hätten sie Spaß. Nein, aber die Kinder hier in der Gegend lernen schnell, dass das Leben ohne Spaß nicht lebenswert ist, darum haben sie ihre eigenen Methoden entwickelt um durch das Leben zu laufen. Lasst und hinterher gehen. Sonst verpassen wir nämlich den ganzen Spaß.“ Seufzend stand er auf.
“Was? Leute hat das ganze hier jetzt überhaupt noch einen Sinn? El und Pablo sind doch schon nass!” Verwirrt folgte Paolo seinen Freunden.
“Wir haben es geschafft! Da vorne ist das Hotel, ich kann schon den Eingang sehen.” Lukas machte einen Luftsprung.
“Okay,” sagte Tim, “das waren definitiv weniger als zehn Kilometer. Wir haben nur eine halbe Stunde gebraucht und sind auch noch extrem langsam gegangen.” Genervt verdrehte er die Augen Richtung Janina. Sie stöckelte, von Phillip gestützt und über ihre Blasen jammernd, auf acht Zentimeter Absätzen durch den Staub. Tom lachte.
“Ich würde es auf zwei Kilometer schätzen.”
“Da liegst du fast richtig, Junge.” Plötzlich tauchte Herr Schuhmann neben ihnen auf. “Es waren drei.”
“Und warum hat Frau Lampe dann zehn gesagt?” Herr Schuhmann zuckte mit den Schultern. Unter Jubelgeschrei liefen die ersten Schüler in die kühle Empfangshalle des Hotels. Frau Lampe versammelte sie alle noch einmal um sich.
“Also, wir sind statt zehn Kilometern doch nur zwei gelaufen.” “Drei!” “Meinetwegen drei. Doch da wir heute unseren Ausflug nach Barcelona nicht machen können, werden wir heute stattdessen unsere Wanderung zum Wasserfall unternehmen. Ich erwarte euch hier in einer halben Stunde. Inzwischen solltet ihr euch bessere Schuhe angezogen und eine neuen Verpflegungsrucksack samt Badesachen gepackt haben. Ich werde mich nach Erika, Loretta und Elena erkundigen.” Unter lauten Protest wurden die Schüler von ihrem Lehrer auf die Zimmer gescheucht.
“Nicht übel. Laut El soll der Wasserfall echt klasse sein.” Tim schien sich nicht dem allgemeinen Murren anschließen zu wollen.
“Oh, deine El geht mir sonst wo vorbei. Ich will viel lieber schwimmen.”
“Hast du Frau Lampe nicht gehört?” Tim erschien neben Janina. “Wir können da schwimmen, direkt am Wasserfall.”
“Im Wildwasser?” Ihre Stimme schnappte über, “Weißt du was da alles drin rum schwimmen kann? Das ist nicht gut für meine Haut. Und mal ne ganz andere Frage, kommt Elena heute mit? Sie sollte doch bestraft werden und wenn sie jetzt mitkommt hat sie doch keine Strafe abbekommen.” Phillip lachte.
“Na und? Es macht doch eh keinen Unterschied, wir wissen doch alle, dass Elena nicht schwimmen kann.” Tim schüttelte still den Kopf. Wie konnte man nur so darüber lachen? Schwimmen konnte man lernen, so schlimm war es also nicht.
Nach einer guten halben Stunde war die Klasse wieder in der Eingangshalle versammelt, wo die Klassenlehrerin intensiv mit der Hotelbesitzerin sprach. Fünf Minuten später kam sie zu ihnen.
“Die Strecke die wir zurücklegen werden beträgt zwei Kilometer, genau so viel wie wir heute morgen gelaufen sind. Aber mit normalem Schuhwerk sollte das kein Problem für uns sein. Etwas entfernt von Wasserfall gibt es einen Badestrand. Und jetzt hört mir zu: der Bereich in dem das Schwimmen erlaubt ist, beginnt am Ende eines großen Felsens. Ich sage deutlich am Ende, damit klar ist, dass es nicht erlaubt ist von dem Felsen ins Wasser zu springen. Und endet an der roten Leine, die quer durch das Wasser gespannt ist. Der Beginn wird übrigens auch von einem roten Seil gekennzeichnet. Und ich will niemanden, und ich meine auch niemanden, auch nur in der Nähe des Wasserfalles sehen. Haben wir uns da verstanden? Niemanden und unter keinen Umständen. Worauf warten wir dann noch. Abmarsch!”
“Frau Lampe?” Tim schob sich in den Vordergrund. “Was ist mit den vier Mädchen?” Obwohl man ihr ansah, dass sie wusste wen Tim meinte, fragte Frau Lampe:
“Wen meinst du?”
“Elena, Hanna, Loretta und Erika.”
“Lorettas Unwohlsein hat sich verflogen und nachdem sich Hannas Fuß als nicht allzu hinderlich herausgestellt hat, haben sich die Vier, natürlich in Begleitung, denn Hanna braucht jemanden zu stützen, auf den Weg gemacht um den Wasserfall auf eigene Faust zu erkunden. Wir werden sie dort treffen.”
“Aber hat Elena sich denn entschuldigt?” Janina schielte ihre Lehrerin von der Seite an.
“Nachdem sich herausgestellt hat, dass ein Termin unmöglich zu bekommen war, hat sie einen Brief geschrieben und hier am Empfang abgegeben. Er wird dem Bürgermeister überreicht. Also ja, Janina.” Damit stiefelte sie ihren Schülern voraus aus der Halle.
Hanna legte den Finger an die Lippen, Erika verstand die Geste und hielt den Mund. Leise schlichen die beiden Mädchen um einige kleine Gesteinsbrocken auf dem Boden. Hinter den Steinen, an deren Sonnenseite, saßen Paolo, Loretta und Francis und ließen ihre Klamotten in Hitze trocknen. Hanna lächelte. Plötzlich sprang sie mit einem lauten ”Buh!” durch eine Lücke zwischen den Felsen und schüttelte ihre nassen Haare direkt über Francis Bauch. Erschrocken schrie er auf.
“Hey, ich war fast trocken! Wer zum Teu… ach, du bist es. Ich dachte schon es gibt gleich blaue Augen. Dann eben nicht.” Gleichgültig sackte er wieder zusammen. Verwundert und enttäuscht ließen sich Hanna und Erika zwischen ihren Freunden nieder. Sie hatten sich eindeutig mehr von der Aktion verhofft. Hanna machte einen Schmollmund. Francis grinste leicht und mit einer fließenden schlangenartigen Bewegung schnappte er sich Hanna, sprang auf und lief Richtung Wasser.
“Tja, das hätte sie vorher wissen sollen. So was lässt Francis nicht einfach auf sich sitzen. Ich hoffe Hanna ist so schlau und schlägt nicht noch einmal zurück. Einen zweiten Krieg können wir hier nicht gebrauchen.”
“Einen zweiten? Wer führt den ersten?” Erika zog die Augenbrauen hoch. Paolo lachte.
“Musst du noch fragen? Natürlich El und Francis. Seit Jahren spielen sie sich gegenseitig Streiche. Besonders lustig ist es, wenn einen niemand kennt und dann schreit einer von Beiden plötzlich: “Ha, Punkt für mich!” Wirklich, wie Leute gucken können.” Er lächelte.
“Ja und wenn ich recht informiert bin, führe ich mit drei Punkten.” Ein klitschnasser Francesco kam mit einer noch nasseren Hanna im Schlepptau wieder. Man konnte ein Kichern hinter den Steinen hören. Elenas Kopf guckte über den Rand.
“Seit wann denn das? Bei der letzten Zählung lag ich noch mit Vieren vorne.” Francis zog den Kopf zwischen die Schultern und setzte einen Unschuldsblick auf.
“Kann sein, dass ich mich etwas verzählt habe.” Elena erschien Vollendens und versetzte ihm eine Kopfnuss. Dann richtete sie sich auf.
“Wer von euch kommt mit zum großen Stein? Pablo ist schon da. Der große Stein ist der riesige Felsblock da hinten. Wir wollen ein bisschen runterspringen und schwimmen. Oh, ihr könnt auch springen, wenn ihr schon geschwommen seid.” Erklärte sie mit besorgter Mine. Loretta warf einen Blick auf die Felswand. Man konnte Pablo in einer Höhe von vielleicht sechs Metern an ihr Klettern sehen.
“Wie wäre es mit nur schwimmen?” Sie drehte sich wieder um. Hanna und Erika nickten.
“Ich glaube,” meinte Erika, “Pablos Startpunkt ist mir ein bisschen zu hoch.” Elena bekam aus ungeklärten Gründen einen Lachanfall. Francis lachte mit.
“Er hat grade mal die Hälfte des Weges hinter sich gebracht. Der Startpunkt liegt bei circa elf Metern. Siehst du diese kleine Felsnase? Man kann nur von dort springen, weil man ein ganzen Stück weit von der wand weg springen muss um sich nicht den Kopf aufzuschlagen. Wenn man von tiefer springt, schafft man die erforderliche Weite einfach nicht.” Pablo hatte jetzt den Felsvorsprung erreicht. In Siegerpose stellte er sich darauf, streckte die Faust in die Luft und sprang. Mit einem eleganten Kopfsprung landete er im Wasser.
“Wow!” Erika schnappte nach Luft. “Das war klasse.”
“Ja, aber für Touristen viel zu gefährlich. Der Stein liegt außerhalb des öffentlichen Schwimmbereiches. Eigentlich nutzen nur wir Jugendliche ihn.” Paolo stand auf.
“Los Abmarsch! Bald kommen die ersten Touristen und dann können wir für Geld springen.”
“Für Geld springen?” Loretta folgte mit den Anderen dem Spanier. Elena nickte.
“Ja, du glaubst nicht wie sensationsgierig Urlauber sind.” Hanna schloss zu Elena auf.
“Und du bist da wirklich runter gesprungen?” Ihr Blick war auf den donnernden Wasserfall gerichtet. Knapp senkte ihre Freundin den Kopf.
“Wie fühlt man sich, wenn man da oben steht?” Hanna schauderte schon alleine bei dem Gedanken so weit vom Erdboden entfernt zu stehen. Nachdenklich hob ihre Freundin wieder den Kopf, jetzt guckte sie ebenfalls auf den Wasserfall.
“Das erste Mal, als ich gefallen bin und nicht gesprungen, hat Chaco mich ohne Aufforderung aufgefangen. Ich glaube ich habe darauf vertraut, dass er es als Spiel ansieht und mich immer wieder auffängt, wenn ich springe. Sowie er immer neben mir her geflogen ist, wenn ich gerannt bin. Manchmal hatte ich nur ein bisschen Angst er würde dem Gespiele überdrüssig werden. Aber er ist ja auch das Nebenherfliegen nicht Leid geworden.” Hanna dachte einen Moment darüber nach.
“Also,” schlussfolgerte sie, “hast du theoretisch alle deine Gefühle und Empfindungen abgestellt oder wenigstens unterdrückt.” Schwach lächelte Elena.
“Wahrscheinlich schon.” Sie waren jetzt am Rand des Wassers angekommen, doch sie gingen einfach weiter. Am Anfang hatte Hanna sich darüber gewundert, mit Klamotten schwimmen zu gehen. Sie zogen einen so runter und nachher war es kalt ihnen. Als sie etwas gesagt hatte, meinte Francis nur, ob sie nackt gehen wolle und nachher wäre es eh so warm, man wäre froh über kühle Klamotten. Er hatte Recht gehabt. Trotzdem kam Hanna die Situation einen Moment lang komisch vor, bis sie den Fehler bemerkte.
“Stopp! El, du kannst nicht schwimmen.” abrupt blieb Elena stehen.
“Stimmt, aber zum rum plantschen braucht man so was wie Kraulen und Rückenschwimmen ja nicht.” Erika fuhr herum. Loretta war schneller.
“Das heißt, du begibst dich in Lebensgefahr nur um im Wasser zu plantschen?” Erika unterbrach sie.
“Nein. Im Klartext heißt das, Elena kann schwimmen. Sie kann nur nicht schnell schwimmen oder Kraulen. Aber sie kann ganz normales Brustschwimmen. Wir haben sie da wohl alle ein bisschen missverstanden.” Damit war die Sache für sie erledigt. Doch Loretta gab nicht so schnell auf.
“Dann hast du Phillip aber angelogen. Du hast ihm gesagt, du könntest nicht schwimmen.”
“Na ja, genau genommen habe ich gesagt: Ich kann nicht schwimmen. Aber ich kann mich schon über Wasser halten.” Loretta zog die Stirn kraus.
“Dann hat Phillip was Falsches gesagt.” Hanna seufzte.
“So sieht es aus. Aber wenn nichts mehr dagegenspricht in das Wasser zu hüpfen, dann lasst uns weitergehen.” Hanna hatte ein schlechtes Gewissen. Die gesamte Klasse hatte über Elena gelacht wegen einer Falschinformation. Beschämt dachte sie daran, dass ihr Freund diese Information auch noch verbreitet hatte. Sie setzte sich neben Loretta, die einen ebenso zerknirschten Eindruck machte, ins Wasser. Um an dem Felsen hochklettern zu können, musste man den ganzen Fluss einmal durchschwimmen. Die vier Spanier hatte schon den halben Weg zurückgelegt. Um bis zu der Felsnase zu kommen, müssten sie knapp zwölf Meter senkrechten Fels bewältigen. Sollten sie scheitern, drohten sie auf den unter Wasser liegenden Steinen zerschmettert zu werden. Erst wenn man es schaffte von dem Felsvorsprung vier Meter weit nach vorne zu springen, konnte man davon ausgehen einigermaßen sicher zu landen. Das Spektakel begann also schon, wenn man mit dem Erklimmen des Gesteines begann. Hanna bis sich vor Anspannung auf die Lippen, als Pablo den Strom ganz durchquert hatte. Im selben Moment hatte Paolo den gleichen Gedanken.
“Meine Güte, Leute. Die müssen sich jetzt schon vor Anspannung in die Hose machen. Hätten wir sie nicht einweihen sollen?”
“Wozu?” Fragte Pablo, griff aber so sichtbar nach einem der kleinen, in den Fels geschlagenen Schlaufen, dass selbst die Freunde am anderen Ende des Flusses erkennen konnten, dass der Aufstieg nicht halb so gefährlich war, wie er aussah. Francis lachte.
“Los geben wir ihnen eine Show. Warte bis wir alle oben sind, Pablo. Erst springt Paolo, dann du, ich und zuletzt Elena.” Er begann hinter Pablo herzuklettern.
“Bist du sicher, dass Elena ihren Part schafft? Sie hat lange nicht mehr trainiert. Sie sollte vielleicht früher springen, der Letzte hat immer den schwersten Teil.” Pablo drehte sich besorgt um. Elena kicherte.
“Was ist mit dir los, du bist doch sonst nicht so besorgt. Natürlich schaffe ich das.”
“Sicher? Du musst schwerere Sprünge machen als wir und ich mach einen gestreckten Salto.” Pablo war noch nicht beruhigt.
“Was?” Francis unterbrach ihn. “Du machst den gestreckten? Den wollte ich machen. Mist, jetzt muss ich den normalen machen, ich springe dann vor dir. Paolo du machst den Kopfsprung mit einer Seitwärtsdrehung, okay?” Paolo brummte zustimmend.
“Aber das klärt immer noch nicht, was El jetzt macht. Sie kann schlecht einen Gestreckten mit Schraube da runter machen, wenn sie Monate nicht mehr gesprungen ist.” Pablo schien sich richtig aufzuregen. Er ließ sogar eine Schlaufe aus seiner Hand fahren.
“Pass auf!” Schrie Francis, “Du fällst mir gleich ins Gesicht.” Pablo wollte gerade antworten, als Elena sie unterbrach.
“Nee, Pablo, da liegst du falsch. Es muss nicht schwerer sein, es muss nur besser aussehen.” Sie waren jetzt alle oben versammelt. Pablo sah Elena leicht zweifelnd an, aufmunternd blickte sie zurück. Geschlagen nickte der Spanier.
“Okay, los geht’s. Francis dein Part.” Francis trat soweit an das Ende der Felsspitze heran wie möglich, dann wechselte er wieder ins Englische und schrie über das Wasser.
“Meine sehr verehrten Damen und Herren. Nun ja in unserem Fall, sehr verehrte Mädchen.” Er grinste schief, “Sie haben jetzt die einmalige Möglichkeit, die beste Sprungshow dieses Städtchens zu bewundern. Und zwar völlig kostenlos. Doch das Beste ist: erstmals seit einigen Monaten springt das Stuntteam wieder in voller Besetzung, wenn sie auch leider den grandiosen Todessprung nicht erleben werden. Trotzdem ist es einen riesigen Applaus wert, meine Damen und Herren, liebe Mädels, hier ist sie wieder in ihrer Aufgabe als Stuntspringerin: Elena Cortez!” Man konnte Hanna, Erika und Loretta applaudieren hören. Elena stöhnte auf.
“Du hättest die Aufmerksamkeit nicht unbedingt auf mich lenken müssen.” Francis grinste.
“Doch es war nötig. Raphael und sein Springerteam sind gerade gekommen. Sie springen seit du weggezogen bist immer öfter. Sie stehlen uns die ganzen Zuschauer und das nur weil sie wissen, dass wir ohne dich nur halb so gut sind. Ist wahr, protestier nicht. Ich musste ihnen einfach von ihrem hohen Thron herunterholen. Weißt du schon was du machst? Jetzt muss es nämlich richtig gut sein.” Francis grinste noch einmal schief, dann trat er zurück.
“Paolo fang an.” Langsam bewegte dieser sich auf den Abgrund zu - und verschwand. Francis zählte langsam bis zehn, um seinem gesprungenen Kumpel Zeit zu geben zu verschwinden. Man hörte Elena seufzen.
“Ach, was soll’s. Irgendwas muss ich mir ja einfallen lassen. Ist echt toll mal so gar keinen Erwartungsdruck zu haben.” Sie zog ihre Hose aus und schmiss sie zusammen mit ihrem T-Shirt ins Wasser. Unten hörte man Paolo jubeln. Auch Francis grinste triumphierend, bevor er sprang. Elena stand jetzt nur noch n Slip und BH auf dem Felsen. Traurig sah Pablo sie an.
“Ich hatte gehofft du würdest es nicht machen. Elena, du weißt wie gefährlich der Sprung ist.”
“Nicht sonderlich. Dafür ist er…”
“Ja, ja. Er sieht gut aus, ist elegant, fließen und bei dir ist er verdammt sexy. Aber ich wünschte du würdest dich nicht immer so in Gefahr bringen.” Elena guckte an ihm vorbei.
“Du musst springen.” Pablo nickte, doch bevor er Anlauf nahm, zögerte er und gab Elena einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dann sprang er mit unglaublicher Kraft ab. Elena fing an zu zählen. Am Jubel und Kreischen merkte sie, dass sein Sprung gelungen war. Als sie bei zehn angekommen war, ging sie langsam auf die Kante zu. Der Applaus verstummte. Man hörte Francis Stimme.
“Meine Damen und Herren, der Flug.” Als hätte er damit ein Stichwort gegeben drehte Elena sich um. Sie hörte ein enttäuschtes Raunen von ihren deutschen Freunden und ein schadenfrohes Lachen von Raphael, dann sprang sie. Mit aller Kraft drückte sie sich rückwärts ab, drehte sich um 180 Grad, um schließlich in einem eleganten Bogen hinunter zu gleiten. Der Flug, dachte sie, was für ein passender Name. Dann tauchte sie mit einem Köpper in das kalte Wasser.
Unter donnerndem Applaus kam sie wieder hoch. Sie hatte es geschafft, jubelnd streckte sie eine Faust in die Luft. Pablo war als Erster bei ihr.
“Yeah, you did it!” Man konnte ihm die Erleichterung ansehen. Sekunden später war sie auch von Paolo und Francis umringt.
“Du warst super El, wann bist du das letzte Mal gesprungen? Gestern?” Lachend schwammen sie zurück. Loretta begrüßte sie vorwurfsvoll.
“El, musst du uns so einen Schock einjagen? Ich dachte ich sterbe! Und schäm dich einfach deine Hose und…” Unter lauten Lachen kam Raphael um die Steinbrocken. Er verbeugte sich spöttisch vor Francis und machte einen Witz auf spanisch. Loretta räusperte sich. Ãœberrascht sah der Neuankömmling die Freunde an. Paolo half ihm auf die Sprünge.
“Das war jetzt eine Aufforderung Englisch zu sprechen.” Raphael schnitt eine Grimasse.
“Dann halte ich mich kurz. Mein Englisch ist das schlechteste im Dorf.” Er wandte sich an Elena.
“Wow, ich sag nur eins. Das war das Beste was ich diese Jahr gesehen habe.” Er umarmte Elena.
“Glückwunsch ihr habt den Platz zurück.” Damit drehte er sich um und verschwand mit seinen Freunden Richtung Dorf.
“Was meint der damit? Ihr habt den Platz zurück?” Hanna spritze Elena Wasser in den Rücken, “Und lass dich nicht von jedem beliebigen Typen angrapschen, das hast du nicht nötig.” Pablo gab ein grummelndes Geräusch ab. Paolo antwortete ihr.
“Ach, jeder braucht hier einen Platz zum Geldverdienen. Wir waren als erste hier und sind für Geld gesprungen. Als Elena umgezogen ist, sind sie plötzlich hier aufgetaucht. Die Vier sind genauso gut wie wir Drei, nur haben sie einen Springer mehr und wenn die Leute mehr für ihr Geld kriegen nehmen sie das gerne an. Jetzt werden sie wohl wieder anfangen traditionelle Tänze zu zeigen, auch wenn es in der Branche mehr Konkurrenz gibt. Aber im Tanzen sind sie echt stark, es passt besser zu ihnen.” Verstehend nickte Hanna. Plötzlich lachte Elena laut auf.
“Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich drei Punkte Vorsprung, oder?” Francis sah auf, neugierig.
“Franciscolein, willst du dir einen Punkt dazu verdienen? Wie wäre es mit einem Wettstreit? Wer zuerst drüben am Felsen ist, oben ist und wieder runter gesprungen ist, bekommt den Punkt. Oh, Verzeihung, ich glaube ich sagte Punkt verdienen, aber das wird dann wohl nichts. Den Punkt bekomme ich. Es gelten die Sicherheitsregeln.” Fügte sie mit einem Seitenblick auf Pablo hinzu. Francis lief los.
“Worauf wartest du? Komm schon, ich bin gleich da.” Elena sprang auf und rannte hinterher. Hanna grinste. Das konnte man definitiv nicht Langeweile nennen.
“Was sind die Sicherheitsregeln?” Interessiert schaute Erika in die Runde. Pablo erklärte.
“Es ist alleine so schon saugefährlich, das durchzuziehen. Wenn sie ohne Sicherheitsregel spielen würden, wäre am Ende wahrscheinlich einer von Beiden unten auf den Steinen zerbrochen. Die Sicherheitsregeln stellen klar, dass man den Anderen beim Klettern nicht runterziehen darf. Man darf nur überholen, wenn man den Gegner nicht berührt oder ihm einen wichtigen Halt wegnimmt. Sollte der Ãœberholte natürlich die Hand ausstrecken um das Ãœberholt werden zu verhindern zählt das nicht. Außerdem muss man mindestens zehn Sekunden warten, nachdem jemand abgesprungen ist, damit der Gesprungene Zeit hat aus der Gefahrenzone zu verschwinden. So was eben.” Die zwei Wettstreiter waren inzwischen an der Felswand angekommen.
“Ich glaube, ich springe auch noch einmal.” Pablo stand auf.
“Ach, und jemand sollte vielleicht Elenas Sachen einsammeln. Derjenige muss nur ein paar hundert Meter dem Fluss folgen, aber wenn er Glück hat haben sich die Teile am Seil von Touristenbadestrand verhangen, wenn nicht muss El eh nackt ins Dorf zurück.” Paolo grinste dem verschwindenden Pablo hinterher.
“Haha, du willst ja nur nicht, dass niemand deine El anstarrt. Du weißt genau, dass ihre Klamotten hoffnungslos verloren sind. Aber ich bin nicht der Blöde ihr Neue zu holen. Du kannst ja dein Hemd hergeben, dann starren alle dein Sixpack an und du bist wieder zufrieden.” Pablo drehte sich um und streckte die Zunge raus.
“Das habe ich gehört!” Paolo guckte erschrocken. Die Mädchen brachen in Lachen aus.
“Janina, guck mal. Sind die nicht süß?” verträumt guckte Mareike Raphaels Gruppe hinterher. Janina warf ihr einen abschätzigen Blick zu.
“Geht so. Sie gehen auf jeden Fall von Schwimmplatz weg, er kann also nicht so gut sein.” Genervt drehte Tim sich um.
“Mensch, Janina, jetzt hör doch endlich auf jedem die Laune zu verderben. Es gibt welche, die sich darauf freuen schwimmen gehen zu können.” Janina warf ihr Haar zurück.
“Das sagst du nur, weil Elena gesagt hat, dass der Platz gut ist. Stell dir vor Tim, hier gibt es auch einige, die nicht in Elena verknallt sind. Und diese paar normalen Menschen sehen den Dingen realistisch ins Auge.”
“Das war jetzt ein Schlag unter die Gürtellinie.” Mischte Tom sich ein, “Ich glaube ich gehöre zu den Menschen, die den Dingen realistisch ins Auge sehen. Und diese Menschen werden sich den Badestrand erstmal angucken, bevor sie negative Urteile fällen, weil sie aus einer Quelle erfahren haben, dass der Platz gut ist.” Er schob Tim weiter.
“Lass dir von der nicht die Stimmung verderben. Guck mal da Vorne, da sieht man schon den Wasserfall. Und links liegt der Badeplatz. Sieht gut aus und noch ist er leer.” Tom versuchte seinen Kumpel mit seiner Euphorie anzustecken, doch der starrte nur geschockt geradeaus.
“Frau Lampe.” Flüsterte er heiser. Sein Freund starrte ihn verständnislos an. Tim streckte seinen Arm aus und deutete auf die Felsklippe. Auf einem kleinen Felsvorsprung kämpften zwei Gestalten und eine von ihnen war zweifelsfrei Elena. Tom schluckte.
“Frau Lampe!” Kreischte Janina von hinten, “Da oben auf dem Felsen hinter dem Trennungsseil ist Elena. Außerdem sie ist fast nackt.” Die Lehrerin drehte sich geschockt in die angegebene Richtung und rannte, gefolgt von der Klasse, los.
Francis war zuerst an der Klippe, doch Elena schaffte es, ihn beim Aufstieg zu überholen. Oben jedoch hob Francis sie einfach hoch drehte sich um und stellte die federleichte Elena hinter sich ab. Grinsend wollte er Anlauf nehmen, doch El gelang es mit einem riskanten Sprung wieder zwischen ihren Freund und den Abgrund zu kommen. Eine Sekunde lang erstarrte Francis, dann griff er wieder zu um seinen Platz mit dem seines Gegners zu vertauschen. Aber Elena wich geschickt mit einem Schritt nach hinten aus, was sie automatisch näher an den Rand des Felsvorsprunges brachte. Sie überlegte, wenn sie so springen wolle, müsste sie den Flug machen, für alles andere hatte sie jetzt zu wenig Anlauf. Sie drehte sich wieder zu Francis, der im selben Augenblick die Hände nach ihr ausstreckte. Doch bevor Elena ausweichen konnte, rief eine schrille Stimme:
“Elena! Stopp!” Blitzschnell drehte sie sich um und hörte Francis aufschreien. Einen Moment suchte sie noch nach Halt, bevor sie schreiend in die Tiefe stürzte.
Am anderen Ufer kreischten ihre Freunde erschrocken auf. Frau Lampe erstarrte mitten im Laufen und ihre Schüler mussten mit ansehen, wie Elena in die Tiefe stürzte. Francis streckte geschockt den Arm nach der fallenden Elena aus. Mit entsetztem Gesichtsausdruck starrte er ihr hinterher. Es war als wären alle Anwesenden mitten in ihren Bewegungen erstarrt. Nur Pablo schien seine Reaktionsfähigkeit zu behalten. Er hatte noch nicht ganz die Hälfte des Felsens erklommen und jetzt zu springen war praktisch Selbstmord. Doch er löste seine Hände aus den Schlaufen und stieß sich mit verzweifelter Kraft ab. Er hatte gut gezielt, nach zwei Sekunden prallte er mit Schwung gegen Elena, die sofort ein Stück weiter von der Felswand weggeschleudert wurde. Jetzt wurde Pablo hektisch, der Aufprall hatte seine Fall so abgebremst, dass er jetzt genau auf den Steinen aufschlagen musste. Er zog sich zu einer kleinen Kugel zusammen, als Elena aufhörte zu schreien. Plötzlich wurde Pablo ruhig, er hatte es geschafft El aus dem Gefahrenbereich zu schleudern. Er hörte das leise Platschen, das verriet, dass sie gut gelandet war. Dann schlug das Wasser über ihm zusammen. Er fühlte einen stechenden Schmerz in seinem Rücken und strampelte mit aller Kraft um nicht noch tiefer zu sinken. Ein Stein tauchte knapp neben seinem Gesicht auf, Pablo stieß sich daran ab. Mit einem Aufschnappen durchbrach er die Wasseroberfläche.
Von all diesem bekam Elena nichts mit. Nachdem sie mit ihren Füßen abgerutscht war, fing sie an zu schreien. Sie merkte nicht, wie alle Augen sich auf sie richteten, schwach am Rande ihres Bewusstseins fühlte sie einen gewaltigen Stoß und etwas sagte ihr, dass es Pablo war. Doch ihre gesamte Aufmerksamkeit war auf einen der vielen Schreie gerichtet. Zwischen all den schrillen Stimmen vernahmen ihre feinen Ohren einen rauen, kehligen, der sie daran erinnerte, warum sie selbst geschrieen hatte. Für einen kurzen Moment sah sie einen kleinen schwarzen Punkt über dem Wasserfall schweben, dann schlug sie mit dem Kopf zuerst auf dem Wasser auf. Sie schnappte keuchend nach Luft, als sie wieder auftauchte. Das hatte sich ja noch in einen ganz normalen Sprung verwandelt. Zumindest war die Landung ziemlich weich gewesen. Schnell blickte sie zur Kante des gigantischen Wasserfalles, doch der Punkt war verschwunden. Auch Chacos Schrei was verstummt. War es alles nur eine Täuschung gewesen? Ein Wunschdenken in höchster Not? Sie erinnerte sich an Pablo und schwamm hektisch auf die Gesteinsbrocken zu. Hinter sich hörte sie Francis ins Wasser springen.
“Pablo! Pablo wo bist du?” Panisch sah sie sich um. Mit einem Prusten kam der gesuchte nur ein paar Meter von ihr entfernt aus dem Wasser. Erleichtert schwamm sie auf ihn zu.
“Pablo, hast du dir was getan? Bist du verletzt?” Es war theoretisch unmöglich, dass Pablo das Ganze ohne Verletzung überstanden haben sollte. Das Wasser war hier nur einen Meter siebzig tief.
“Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Elena, du hast überlebt! Ich dachte echt ich sehe dich nie wieder.”
“Ach, was. Ich bin zäher als ich aussehe. Danke.” Sie umarmte ihren überraschten Kumpel. Dann zog sie ihre Arme zurück.
“Francis! Francis!” Rief sie panisch. Der Gerufene tauchte neben ihr auf.
“Was gibt’s?” Geschockt sah er auf Elenas blutverschmierte Arme.
“Elena, hol den Verbandskasten. Du kletterst schneller als ich, er ist noch an der alten Stelle. Pablo setzt dich auf diesen Stein, so dass dein Rücken aus dem Wasser guckt.” Francis zog sein Hemd aus. Schnell drehte Elena sich um und begann erneut den Aufstieg an der Felswand. Francis schien die Situation ja einigermaßen unter Kontrolle zu haben. Während sie kletterte hörte sie ihre Lehrerin und Klassenkameraden aufgeregt hinter ihr her schreien. Sie blendete sie aus, was brachten sie jetzt? Sie musste den Erste-Hilfe-Kasten holen, da musste sie sich auf den Aufstieg konzentrieren. Wenn sie zu lange brauchte verblutete Pablo unter Umständen. Nein jetzt nicht an ihn denken! Sie kam oben an und zog den kleinen Kasten aus der flachen Mulde. Dann stellte sie sich an den Abgrund. Es war ganz klar, dass ein Abstieg zu viel Zeit verbrauchen würde.
“Elena Cortez, wenn du jetzt springst muss ich dich nach Hause schicken!” Hörte sie Frau Lampe rufen. Elena lächelte, also sollte sie jetzt zwischen Pablos Leben und der Klassenfahrt wählen? Dann fiel ihr ein, dass die Lehrerin Pablo von ihrem Standpunkt aus gar nicht sehen konnte und drehte sich um.
“Gut Elena. Und jetzt komm langsam herunter.” Gab Frau Lampe Anweisungen. Im selben Moment sprang Hanna auf einen Felsen vor der Klasse und schrie aus Leibeskräften:
“Meine Damen und Herren, ich präsentiere ihnen den Flug!” Hannas Stimme bekam etwas verzweifeltes, sie wollte Elena mit allen Kräften dazu bringen zu springen. Denn von ihrer Position sah es so aus, als hätte ihre Freundin der Mut verlassen. Aber Pablo musste gerettet werden! Hoffend, dass Elena ihren Wink verstanden hatte deutete sie mit dem Arm auf sie. Elena drückte den Kasten fest an ihre Brust und sprang. Unter dem erleichterten Jubel ihrer Freunde und dem wütendem Gebrüll ihrer Klassenlehrerin tauchte sie wieder auf. Als sie wieder bei Francis und Pablo ankam, waren auch Erika und Loretta schon dort. Hanna führte gerade die Klasse um die Ecke des Felsens. Bei dem Bild was sich ihnen bot blieben sie erschrocken stehen. Ein blutüberströmter Pablo saß keuchend auf einem Stein und um ihn herum waren fleißige Helfer mit dem Verbinden seiner Wunden beschäftigt. Francis blickte auf.
“Hanna, bleib da, komm nicht rüber. Renn zurück und guck nach , ob du Raphael und seine Jungs einholst. Sie sollen beim Transportieren helfen. Wir können ihn nicht hier lassen.” Doch kaum hatte er ausgesprochen, erschien die Gruppe am Ufer.
“Mach die locker. Wir sind schon hier, bei Elenas Schrei kann man gar nicht weghören. Wir dachten schon sie macht den Todessprung. Echt, es war gruselig.” Mit kräftigen Stößen schwammen sie durch das Wasser. Francis blickte auf:
“Wir müssen ihn irgendwie aus dem Wasser heraushalten, sonst durchweichen die Verbände gleich wieder. Sie sind schon ganz voll Blut.” Nachdenklich guckte Paolo auf seinen Freund.
“Wir müssen ihn auf die Schultern nehmen. Auch wenn es ihm ziemlich wehtun dürfte.” sofort formierten sich die Jungen in Zweierreihen hintereinander.
“Versuchen wir es.” Vorsichtig schoben sie den stöhnenden Pablo auf ihre Schultern und schwammen los. Elena schwamm rückwärts vorweg und führte einen Monolog mit ihrem Kumpel, der drohte das Bewusstsein zu verlieren.
“Guck und gleich sind wir auch schon am Ufer, da ist es nicht mehr so nass. Und danke noch mal, dass du mich weggestoßen hast. Aber jetzt siehst du was man davon hat. Man muss getragen werden. Sag mal hast du es eigentlich auch gehört? Ich meine den Schrei? Oder habe ich ihn mir nur eingebildet? Denn dann habe ich auch Visionen gehabt, ich habe ihn nämlich sogar gesehen. Na ja, nur als kleinen Punkt über dem Wasserfall. Aber jetzt sag, hast du ihn auch gehört? Ich bin mir ganz sicher, ich hätte Chaco schreien gehört….” Raphael schluckte Wasser. Keuchen unterbrach er sie.
“Du hast Chaco gesehen? Bist du sicher?” Mit verzweifeltem Blick sah Elena ihn an:
“Das weiß ich eben nicht. Wenn Pablo, hei hörst du mir noch zu? Jetzt nicht einschlafen, wir sind gleich da! Wenn er antworten würde, könnte ich sicher sein. Aber ich bin relativ überzeugt, dass er es war.” Mit ihrem Fuß stieß sie auf den Grund.
“So jetzt hast du es geschafft. Ich kann schon laufen. Guck.” Wie um es zu demonstrieren lief sie an dem Strand. Sanft wurde Pablo auf ein paar geliehenen Jacken abgelegt. Frau Lampe drängte sich in den Vordergrund.
“Macht etwas platz, lasst mich mal sehen. Und einer soll jetzt den Notdienst rufen. Habt ihr noch mehr Verbandszeug?” Die sonst mehr ruhige Stimme der Lehrerin hatte sich komplett verändert, jetzt verteilte sie mit schneidender Stimme Aufgaben und gab Anweisungen. Janina erschien wieder im Kreis.
“Frau Lampe? Niemand hat hier Empfang,” sie ging neben Pablo in die Knie und strich ihm über dem Kopf, “wir können niemanden erreichen.” Entsetzt sah Frau Lampe auf.
“Dann renn schnell einer in die Stadt und hole den Arzt. Einen Transport dahin würde unser junger Freund hier schlecht überleben.” Paolo mischte sich vorsichtig ein.
“Verzeihen sie, aber es sind vier bis fünf Kilometer. Man braucht, selbst wenn man rennt, bestimmt 20 Minuten und dann noch fünf Minuten mit dem Auto zurück, sagen wir auch fünf Minuten bis der Arzt fertig ist, das macht eine halbe Stunde. Und wenn ich ehrlich sein soll, ich gebe ihm maximal nur noch 20 Minuten.” Lastendes Schweigen machte sich breit, als die Klassenlehrerin bedächtig nickte.
“Dann wärst du aber ganz schön großzügig, Junge.” Janina rollte eine Träne über die Wange:
“Dann meinen Sie also, er stirbt?” Sie bekam keine Antwort. Schließlich hörte man ein lautes Klatschen. Elena hatte sich mit der flachen Hand auf den Bauch geschlagen. Beinahe empört drehten sich alle Blicke zu ihr.
“Sagt mal,” sie wandte sich an die Spanier, “meint ihr ich habe in Deutschland zugenommen?” In den Augen der Klassenkameraden, las sie nichts als Unverständnis, in den Gesichtern der Spanier stand erst Verwirrung und schließlich Sorge. Paolo trat vor.
“Elena, du weiß nicht ob du ihn wirklich gehört hast. Du hast selbst zugegeben, dass es eine Täuschung hätte sein können.” Beschwörend legte er ihr die Hände auf die Schultern. Auch Francis begann auf sie einzureden. Bis sie einen Schlussstrich zog.
“Pablo hat sein Leben eingesetzt um mich zu retten. Jetzt stirbt er, wenn ich nicht meines einsetzte um das Gleiche zu tun. Ich gehe!” Abrupt drehte sie sich um und verschwand. Hanna schob sich verwirrt eine Locke aus der Stirn.
“Was macht sie?” Düster sah Francis sie an.
“Sie s vertraut auf Chaco.”
“Nein!” Die Freundinnen zogen geschockt die Luft ein. Langsam nickte Paolo.
“Wir können es nicht mehr ändern, wie können nur dafür sorgen, dass sie sicher hoch kommt. Ich brauche ein paar starke Jungs.” Er winkte Phillip, Tim, Tom und die Spanier zu sich. Dann verließen auch sie schweigend die Versammlung.
Wien ein kleines Kind stand sie vor der Felswand und blickte an ihr herauf. Wenn sie diesen ganzen Weg klettern sollte, konnte sie Pablo direkt aufgeben. Plötzlich fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Paolo stand neben ihr.
“Der Seilzug funktioniert immer noch.” Schweigend holte er einen geflochtenen Korb an Seilen aus einem Versteck am Boden. Die seile verliefen bis zum oberen Ende des Felsens. Francis schnappte nach dem Seil.
“Los Leute, aufstellen. Wenn wir noch mehr Zeit vertrödeln, kommt Elena zu spät in die Stadt.” Verwirrt griffen ihre deutschen Freunde nach dem Seil.
“was wird das hier?” Tim sah besorgt zu Elena, welche sich in den schwankenden Korb hockte. Doch er wurde ignoriert und Paolo gab das Signal zu ziehen. Es war leichter als es aussah, Elena die Felswand herauf zu befördern. Was teilweise an dem reichlichen gebrauch von Rollen als auch an Elenas geringem gewicht lag.
“Nein, Paolo. Sie hat wirklich nicht zugenommen. Chaco wird keine Schwierigkeiten haben sie zu tragen.” Sofort hörte Tim auf zu ziehen.
“Du meinst sie ist dieses Vogelmädchen und jetzt will sie darunter springen? Ohne mich!” Er ließ den Strick los. Francis lachte auf.
“Wie willst du sie daran hindern? Sie ist schon halb oben und auch wenn du nicht ziehst, wird sie oben ankommen.” Tim verschränkte die Arme vor der Brust.
“Und wer von euch hat ihr das eingeredet? Ich wette sie würde von selber niemals Selbstmord begehen.” Auch Tim hörte auf zu helfen.
Paolo drehte den Kopf.
“Hast du sie nicht gehört? Sie springt, weil Pablo auch für sie gesprungen ist. Und du bist da der Letzte der sie aufhalten kann. Und jetzt zieh, wenn es ihr zu langsam geht fängt sie an zu Klettern und es ist dann nicht unsere Schuld, wenn sie abstürzt.” Ärgerlich begann er schneller zu ziehen. Francis entfernte sich einige Schritte von den anderen.
“Jetzt langsamer, sie ist fast da. Ja, Stopp.” Zufrieden stemmte er die Hände in die Hüften. Von oben hörte man eine scharfen Pfiff, nun ließen auch die restlichen Spanier das Seil los. Gespannt starrten sie zur kante des Wasserfalles.
“Los,” Paolo verrenkte sich den Nacken, “lasst uns zu den anderen zurück rennen. Von hier sehen wir so gut wie nichts.” Zustimmend nickend machten die Freunde sich auf den Rückweg, der Korb schlug hinter ihnen auf dem Boden auf.
Einsam stand Elena neben dem reißenden Fluss. Sie dachte daran was Hanna gesagt hatte. Ihre Gefühle unterdrücken, ausschalten und einfach springen. Doch diesmal gelang es ihr nicht. Sie dachte an den verletzten Pablo, der dringend Hilfe brauchte. An Tim, der so eifersüchtig auf Pablo war, dass er sogar aufhörte sie hinauf zu zerren. An Phillip, von dem Hanna glaubte er hätte sie verraten, der aber nicht aufgehört hatte zu ziehen. An Chaco, von dem sie nicht wusste, ob er kommen würde. Und an den Sprung. Von dem sie nichts erwartete, der ihr im Prinzip völlig gleichgültig geworden war, seit sie das erste Mal gesprungen war. Und sie meinte zu wissen, dass alle ihre Sorgen verschwinden könnten, wenn sie jetzt nur endlich sprang. Mit schlafwandlerischer Sicherheit kletterte sie auf den Vorsprung neben dem tosenden Wasserfall. Dann sprang sie. Es war nichts kraftaufwändiges, nichts besonders Elegantes, es war einfach nur ein Schritt ins Nichts. Als die Luft an ihr heraufzischte streckte sie erleichtert die Arme von sich. Es war ein herrliches Gefühl, das Elena daran erinnerte, warum sie sich nie über den Sprung beklagt hatte. Plötzlich verdunkelte sich der Himmel über ihr, obwohl sie nicht geschrieen hatte, und mit starkem Griff würde sie wieder ihn die Luft gehoben. In diesem Augenblick erlebte sie jenes, was Francis mit den Worten, “Da kam plötzlich die Hoffnung wieder. Man hatte jemanden an den man sich klammern konnte.” beschrieben hatte. Sie wurde von einer nie gekannten Zuversicht erfüllt, dass es für alle ihre Probleme, die sie unter einer frechen Schale zu verstecken versuchte, eine Lösung geben könnte. Mit einem Triumphschrei öffnete sie ihre bis dahin geschlossenen Augen. Unter ihr glitt die Landschaft in einem atemberaubenden Tempo dahin, sie konnte kaum mehr ihre Freunde ausmachen, welche teils geschockt, teils jubelnd am Badestrand standen.
Sie strich mit der Hand über Chacos Bein und ein rauer kehliger Schrei antwortete ihr. Bevor der Adler durch seine Last auch schon an Höher verlor und sie sanft auf dem staubigen Boden des Vorortes landete. Sofort kroch sie unter dem bauch hervor und stellte sich vor Chaco auf. Ein Paar stolzer funkelnder Augen trafen auf ein Paar Braune mit Tränen gefüllte. Im Hintergrund hörte man schon aufgeregte Menschen näher kommen. Interessiert wandte der Adler seinen großen kopf in die Richtung des Geräusches. Elena warf ihre Arme um seinen Hals.
“Danke, mein Freund. Ich wusste immer, dass du nicht tot sei kannst. Aber jetzt muss ich ganz schnell zum Arzt. Aber wir sehen uns wieder, ich komme heute Abend auf die Ebene. Warte doch einfach dort auf mich.” Und als hätte er verstanden ließ er noch einmal seine mächtige stimme hören und verschwand mit kräftigen Schlägen Richtung Hochebene.
“Elena! Oh das war Chaco!” Im Nu war sie von einer vor Freunde tanzenden Traube umringt. Unauffällig winkte sie einen vielleicht zwanzig Jahre alten Spanier zu sich.
“Alechandro! Fahr schnell zum Arzt! Jemand ist von der Klippe gesprungen und hatte nur halbe Höhe. Wenn der Doktor nicht in zehn Minuten dort ist, verblutet der Junge!” Geschockt verstummte die Menschenmenge, als sich diese Nachricht verbreitetet. Alechandro hechtete fast panisch zu seinem Motorrad und fuhr los. Er war früher selber Springer gewesen und wusste wie gefährlich solche Wunden waren. Ohne zu klopfen öffnete er die Tür des Behandlungsraumes in welchem Doktor Garcia gerade einer Frau den Rücken abhörte. Es handelte sich zweifelsohne um eine Touristin, doch darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Ohne auf den Protest der Arzthelferin zu achten, zerrte er den Arzt aus dem Raum.
“Am Wasserfall! Jemand hat es nicht herunter geschafft. Elena sagt er stirbt, wenn Sie nicht in fünf Minuten da sind!” Für den Bruchteil einer Sekunde stand Doktor Garcia erstarrt da, doch dann schnappte er sich seinen Notfallkoffer, befahl der Helferin einen Rettungswagen zu rufen und rannte mit Alechandro aus der Praxis. Die empörte Touristin hinter sich lassend.
Komisch, alles um ihn herum war weich und angenehm kühl. Dabei sollte er doch in brütender Hitze am Strand des Flusses liegen. Mühsam schlug er die Augen auf. Sonderbar alles war weiß, kein blauer Himmel, kein brauner Boden, nur weiß. Und dann war da noch ein Piepen im Hintergrund. Jetzt kamen auch noch Stimmen dazu. Er versuchte sich auf zu setzten.
“Bleib liegen Junge. Glaub mir das ist besser für dich.” Eine Schwester redete auf ihn ein, während andere Hände sich an Schläuchen zu schaffen machten. Plötzlich hörte er auch noch eine zweite Stimme.
“Ist er endlich aufgewacht?”
 Doktor Garcia! Erleichtert drehte Pablo den Kopf.
“Doktor, was ist passiert? Warum bin ich nicht am Strand?” Der Arzt lachte leise auf.
“Pablo, du hast die ganzen drei letzten Tage verpennt. Wir dachten schon, du wachst gar nicht mehr auf.”
“Nein, Herr Doktor, da haben sie sich geschnitten. So leicht wird man mich nicht los.” Der Doktor schmunzelte erneut.
“Ich glaube wir hätten deine Sprüche auch ganz schön vermisst. Sag mal, an was erinnerst du dich denn noch?” Konzentriert zog Pablo die Stirn kraus.
“Ich bin von der wand gesprungen, um Elena von den Steinen wegzustoßen. Dann bin ich selber auf den Steinen gelandet, aber es ist nichts wirklich passiert. Als ich hochgekommen bi hat el mich umarmt und dann war sie ganz entsetzt und plötzlich kamen sie mit dem Verbandskasten und ich bin ganz müde geworden, obwohl el mir die ganze zeit was erzählt hat. Dabei wollte ich ihr doch sagen, dass ich Chaco auch gehört habe. Und dann nichts mehr. Was ist danach passiert?” Erleichtert lächelte der Arzt.
“Elena hat Alechandro geschickt, der hat mich dann auf seinem Motorrad zu dir gebracht und ein bisschen später ist auch schon der Rettungswagen gekommen.” Zufrieden nickte Pablo, doch dann starrte er dem Mann im weißen Kittel entsetzt an.
“Wie hat sie dass denn so schnell geschafft? Alechandro war doch gar nicht da?”
“Weißt du eigentlich, dass du einen Dauerbesucher hast? Wartet draußen vor der Tür. Ich schicke sie mal rein.” Gefolgt von den Schwestern verließ er wieder Pablos Zimmer. Dessen Augen leuchteten auf, als sich langsam eine schmale Gestalt in sein Zimmer schob.
“Du bist wieder wach?” Verlegen blieb Janina neben seinem Bett stehen. Verwirrt guckte Pablo sie an. Irgendwo in seiner Brust fühlte er einen kurzen Stich.
“Hallo.” Janina strahlte ihn an.
“Erinnerst du dich an mich? Ich bin mit dir im Krankenwagen hierher gefahren.” Noch einmal guckte Pablo der Besucherin ins Gesicht und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Dieses Mädchen aus Elenas Klasse, nur wusste er ihren Namen nicht. Doch wo blieb Elena? Wieder fühlt er einen kleinen Schmerz in der Brust. Janina bemerkte anscheinend Pablos suchenden Blick.
“Suchst du Elena? Die ist verschwunden, als so verletzt am Strand lagst. Hat sich Sorgen über ihr gewicht gemacht. Danach hat keiner sie wirklich wieder gesehen. Aber war die ganze Zeit bei dir, ich habe die nicht ein einziges mal verlassen, außer nachts, wenn ich ins Hotel musste.” Pablo wandte sich ab, er wollte das Geschwafel nicht hören. Elena hatte sich also nicht weiter für ihn interessiert. Er hatte sie gerettet, aber das war ja selbstverständlich. Man brauchte sich nicht zu bedanken oder sich auch nur einmal über das Wohl seines Retters erkundigen. Niedergeschlagen schloss er die Augen, als neben ihm etwas in Scherben zerbarst. Ãœberrascht öffnete er die Augen, Janina stand auf der anderen Seite seines Bettes. Zuerst konnte er nichts entdecken, doch dann sah er eine kleine Gestalt auf dem Boden hocken und hörte einen kräftigen Fluch.
“Elena?” Mühsam setzte er sich auf. Sofort stand sie bei ihm.
“Belieb liegen du Idiot. Du weißt gar nicht wie schlimm dein Rücken aussieht.” Lächelnd ließ er sich wieder in die Kissen fallen. Während Elena wieder verschwand.
“Was ist passiert?” Elena seufzte und setzte sich auf die Bettkante.
“Ich habe mich durchs Fenster hereinfallen lassen, aber auf dem Fensterbrett stand eine Vase, die ich leider mit heruntergerissen habe.” Sie grinste ihn schief an. Sie lächelte so schön.
“Das meinte ich nicht, was ist passiert nachdem ich bewusstlos wurde?” Janina schaltete sich wieder ein.
“Ich sagte doch schon, der Krankenwagen kam und ich war die ganze Zeit bei dir.” Pablo schüttelte den Kopf.
“Nein, ich meine, was Elena gemacht hat.” Bevor ihre Klassenkameradin auch nur ein Wort sagen konnte, fing Janina wieder an:
“Sie hat sich Sorgen um ihr Gewicht gemacht!” Elena lächelte schwach.
“Ich habe befürchtet, dass Chaco mich nicht mehr tragen kann. Aber es hat geklappt.” Auf Pablos Gesicht erschien ein Grinsen.
“Ich wollte dir die ganze Zeit sagen, dass ich ihn auch gehört hatte, aber ich war irgendwie zu schwach.” Ungläubig sah El ihm ins Gesicht.
“Du gibst zu, dass du zu schwach warst? Ich glaube du bist auf den Kopf und nicht auf den Rücken gefallen.” Pablo sagte nichts sondern strich seiner Freundin einmal über die Wange. Für einen Augenblick saß Elena sprachlos auf seiner Bettkante, doch dann breitete sich das schönste Lächeln, dass er jemals gesehen hatte auf ihrem Gesicht aus. Eigentlich wollte sie etwas erwidern, doch ihr Kopf war leer wie ein Luftballon kurz vor dem Aufblasen. Zu ihrem Glück klopfte es leise an der Tür. Hanna steckte ihren Kopf hindurch.
“Ich habe gehört du bist wach?” Pablo nickte schwach.
“Darf ich reinkommen?” Er nickte noch einmal.
“Oh, hei Janina. Ich wusste nicht, dass du hier bist. Unser Bus fährt gleich ab. Ich soll dich abholen.” Traurig blickte sie zu Elena. Seufzend nickte diese. Pablo fuhr auf.
“Du gehst? Ich dachte du bleibst, jetzt wo Chaco wieder da ist. Wir alle brauchen dich doch!” Leise zog Hanna die erstarrte Janina aus dem Krankenzimmer.
“Wenn du gehst, tanzt uns der Bürgermeister wieder auf der Nase herum.” Pablo setzte sich aufgeregt auf. Elena senkte den Kopf.
“In dem Hut war der Schlüssel zu Frau Larcias Haus. Das ist die Frau des Architekten Larcia. Der Schlüsselanhänger ist ziemlich auffällig. Ein rotes Haus auf dem die Adresse des Büros von Herrn Larcia steht. Dessen Frau hat eine Affäre mit dem Bürgermeister. Keinem von Beiden kann daran liegen, dass das rauskommt. Schließlich sind Beide verheiratet, der Bürgermeister könnte seine Karriere vergessen.”
“Aber die Jugendlichen, die Kinder. Was sollen die machen. Die brauchen dich auch.” El zog eine Mundwinkel hoch.
“Francis und Paolo werden das beaufsichtigen. Ich hoffe du hilfst ihnen dabei, wenn du wieder hier raus kommst?” Schwach nickte Pablo.
“Aber ich brauch dich doch auch!” Fügte er trotzig hinzu, als Elena nichts mehr sagte.
“In Deutschland haben sie zwölf Wochen Ferien pro Jahr. Das muss dir reichen.” Pablo schluckte.
“Dann kann dich also gar nichts mehr hier halten?” Verneinend sah Elena ihn an.
“Was passiert mit Chaco?”
“Er hat sich einen Horst wirklich ganz tief im Gebirge gebaut, er hat ihn mir vorgestern gezeigt. So leicht findet ihn da niemand.” Pablo stieß die Luft aus.
“Gehst du wegen diesem Tim weg?” Ãœberrascht blickte sie auf.
“Nein, seit wann bist du denn eifersüchtig?“ Verlegen guckte Pablo aus dem Fenster.
“Entschuldigung, es ist nur wie er dich immer anguckt und…” Ein wenig verzweifelt sah er zu ihr auf. Lächelnd legte sie den Kopf schief. Unbehaglich redete Pablo weiter.
“Es ist doch nur, ich mag dich bestimmt viel lieber als Tim und der kennt dich doch auch erst seit…” Elena kicherte.
“Wer sagt denn, dass ich in Tim verknallt wäre?”
“Bist du nicht?” Die Erleichterung stand ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben.
“Nein, ist sie nicht! Sie ist seit dem Kindergarten in dich verliebt.” Francis ließ sich durch das offene Fenster gleiten.
“Nur du hast das nie mitbekommen.” Fügte Paolo hinzu, als er neben Francis landete. Grinsend setzten sie sich auf sein Bett.
“Danke Leute, jetzt fühle ich mich noch dümmer als ohnehin schon.” Die Freunde brachen in Lachen aus.
“Was ist denn jetzt der Hauptgrund, weshalb du geht’s?” Elena grinste:
“Ich kann doch Hanna, Erika und Loretta nicht alleine lassen, wie sollten die denn ohne mich gegen Janina ankommen?”
“Danke, dass du uns so wenig zutraust,” Hanna kam fröhlich ins Zimmer, “aber der Bus fährt wirklich gleich ab. Kommst du?”
“Klar!” Schnell drückte sie Francis und Paolo noch einmal fest an sich. Dann zögerte sie kurz und gab Pablo schließlich einen kurzen Kuss auf den Mund, bevor sie hinter Hanna aus dem Krankenhaus rannte.
“Also,” fragte Hanna, als sie nebeneinander im Bus saßen und mit Erika und Loretta Chips aßen, “du kommst in den Ferien wieder hierher? Was meinst du, würde es groß schaden, wenn wir uns anschließen würden?”