Kurzgeschichte
Nächstenliebe zur Vorweihnacht

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"Nächstenliebe zur Vorweihnacht"
Veröffentlicht am 21. April 2010, 14 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Nächstenliebe zur Vorweihnacht

Nächstenliebe zur Vorweihnacht

Nächstenliebe zur Vorweihnacht

Es war ein älterer Herr, Ende 69 - morgen würde er seinen 70ten Geburtstag feiern.. - Prost.

Draußen rieselt der feine weiße Staub vom Himmel, als er, wie jeden Morgen, auch an diesem, den 23. Dezember, erwacht. Der schwere Glockenschlag aus dem Wohnzimmer ertönt neun mal. Während sich der Alte aufsetzt, schmerzen seine Glieder. Er reibt sich die Augen, tastet nach seiner Brille, ohne die er nur verschwommen sehen kann.. Es ist so still im ganzen Gebäude, er hatte die meisten seiner Bediensteten

über die Feiertage nach Hause geschickt. 
Letztes Jahr um diese Zeit waren sie noch auf einer Kreuzfahrt gewesen, er und seine Frau. Sie hatte seit Jahren an Krebs gelitten.. diese Schifffahrt war so etwas wie ihr letzter Wunsch gewesen - und tatsächlich zeigte der Herr ihr gegenüber Erbarmen und nahm sie in der letzten Nacht auf See zu sich. Der Alte blieb allein.

Nun sitzt er einsam an dem vier Meter langem Nußbaumtisch. Zur Feier des Tages gönnt er sich einen Kopi Luwak, ein Mitbringsel aus Indonesien, Kaffee der ganz besonderen Art. Nebenher spielt

seine Jukebox den Tennessee Waltz von Patti Page. Erinnerungen ziehen im Inneren seines feuchten Auges vorbei..

Der Alte führte schon immer ein erfülltes sorgenfreies Leben, bis auf die letzten paar Jahre. Er hätte auch gerne Kinder gehabt, doch es sollte nicht so sein.. und trotzdem liebte er seine Frau über alles und war glücklich. Dann zogen die Schatten auf und der Tod schlich bereits auf leisen Solen über ihre Ländereien, unbarmherzig seinen Weg fortsetzend bis zum Schlafgemach der Eheleute, welche die Gnadenfrist auf der luxuriösen Freedom of the Seas verbrachten.


Der Börsenteil der Frankfurter Allgemeine liegt neben der Tasse Kaffee des Alten. Routiniert schweift sein Blick prüfend über die Zahlen.. und bleibt hängen.. einer der Aktienkurse stieg weit über der Normkurve letzte Nacht an - und doch hatte er den Namen dieser Firma noch nie gehört. Aus purer Neugierde greift der Alte zum Telefon, investiert 500 Euro in die, ihm unbekannte, Firma.

Der Alte begibt sich mühsam in seinen gefütterten Mantel, setzt seinen Hut auf und tritt, mit dem Spazierstock an seiner Seite, vor die Tür, raus in die weiße

kalt-frische Luft. Er möchte seinem Notar persönlich, noch so kurz vor Weihnachten, einen Besuch abstatten. Seit nun fast einem Jahr drängte der Urkundsbeamte darauf, dass der Alte sich doch darum kümmern möge.. denn noch steht seine verstorbene Frau als Alleinerbin im Testament.
Doch der Alte ist einsam - und somit war es ihm auch die ganze Zeit egal. Vermutlich würde er seine Besitztümer, sein Kapital den Hausangestellten vermachen. 

Eine junge Studentin spielt Geige in der Fußgängerzone. Der Alte lässt unwillkürlich einen 10-Euro Schein

fallen. Wie schön doch Grieg's Morgenstimmung in seinen Ohren klingt... Doch sein Hörgerät ist gar nicht eingeschaltet....

Der Alte läuft am Arbeitsamt vorbei, dieses Gebäude kannte er nur von außen - und dabei sollte es eigentlich auch bleiben. Der junge Mann mit der dunkelbraunen Lederjacke und ein kleines aufgewecktes Mädchen an seiner Hand ziehen die Aufmerksamkeit des Alten auf sich.. "Aber Papa, Lara bekommt doch auch eine Barbie Mariposa! Biitteeeeee!!!" Der Vater der Kleinen schaut beklommen zu Boden und schüttelt den Kopf. "Du weißt doch, wir

haben wenig Geld.. Erst, wenn ich wieder Arbeit gefunden habe.. Dann gehen wir dir auch zusammen die schönste Barbie kaufen! Versprochen!" Daraufhin stellt sich die Kleine auf Zehenspitzen und drückt ihrem Papa einen Kuss auf die Backe "Nagut, dann wünsche ich mir, dass du bald eine neue Arbeit bekommst! Hab dich lieb!" Verschmitzt lächelt das blonde Engelchen und schmiegt sich an den Arm ihres Papas, während die zwei das steril-weiße Gebäude der Arge betreten..
Der Alte hält auf einmal ein kleines Goldarmband in seiner linken Hand, welche die ganze Zeit in der Seitentasche seines Mantels geruht hatte. Wann hatte

er dieses da rein getan? Er kann sich nicht mehr daran erinnern. Er schaut auf und sieht die kleine lebensfrohe Dame mit ihrem besorgten Vater hinter der Glastür in der Warteschlange stehen. Gedankenverloren geht der Alte auf das Gebäude zu und tritt ein. Das Mädchen schaut ihn sofort mit großen Augen an, doch der Alte nickt ihr nur freundlich zu und streckt ihr seine Hand mit dem goldenen Armband entgegen.. "Frohe Weihnachten, kleine Lady" und die Kleine lächelt, während ihr Vater einfach nur ungläubig daneben steht. Und dann lächelt auch der Alte.. das erste Mal seit vielen

Monaten...

Draußen biegt der Alte schließlich in eine Seitengasse. Er findet dort einen Mann, vermutlich des selben Alters, vor. Fluchend liegt dieser am Boden, sein zerbrochener Krückstock neben ihm. Der Alte hält ihm die Hand hin und hilft ihm hoch. "Und nun.. ich kann ohne diesen verfluchten Stock doch keinen Schritt gehen!" rüffelt der Rentner den Alten mürrisch an. Wie selbstverständlich reicht ihm der Alte seinen Spazierstock "Versuchen Sie es damit" Verwirrt schaute ihn der Rentner mit großen Augen an, doch der Alte nickte ihm aufmunternd zu...


Selbst nachdem der Alte schon wieder 2 Straßen weiter gegangen ist, fällt ihm nicht auf, dass ihm das Gehen heute gar keine Schmerzen bereitet - sogar ganz ohne Hilfe seines Spazierstockes. Auch sein Hörgerät ist nach wie vor aus. Doch als er versucht, das kleine Schild vor einem alten Gebäudekomplex zu lesen, ist seine Sicht verschwommen. Geistesgegenwärtig holt er ein hellblaues Filztuch aus seiner Tasche und nimmt seine Brille ab, um diese zu reinigen.. als er just in diesem Moment das Schild liest: "Olgahospital, Kinderklinik - wir bauen neu [...]" Der Alte betrachtet seine Brille zwischen seinen Händen und liest

nochmal... 
Dann betritt er die nahe gelegene Telefonzelle und wählt die Nummer seines Notars..
"[...] ja, ändern Sie das Testament.. [...] genau, alles an die Kinderklinik [...] gut, bis gleich!" Der Alte legt den Hörer zurück in seine Gabel und winkt sich ein Taxi her, welches zufällig gerade die Ausfahrt verlassen hatte.

Am späten Abend kehrt der Alte zufrieden in sein Reich zurück. Alle Formalitäten sind erledigt - nun konnte die Feier beginnen!
Der Alte gießt sich kurz vor Mitternacht einen Schluck Cuvée Belle Époque in ein

edles Kristallglas ein. Als der schwere Glockenschlag pünktlich um 24:00 Uhr erklingt, setzt er das Glas an die Lippen, zu seinem 70ten Geburtstag zu Ehren.
Nach einem genüßlichen Schluck lehnt sich der Alte in seinem purpurnen Sessel zurück und schließt die Augen. Kurz darauf fällt das Kristallglas zu Boden und zerspringt in tausende von Stücken.

Der Alte starb mit einem Lächeln auf seinen Lippen. 
Und er war überhaupt nicht einsam.. seine Frau hatte ihn die ganze Zeit erwartet.

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Jennifer

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UteSchuster Re: Re: ja du hast recht, Weihnachten ist vorbei -
Zitat: (Original von Jennifer am 21.04.2010 - 22:50 Uhr) Schön - das war sehr motivierend :)
Vielen Dank für das Feedback!

gerne doch.
LG Ute
Vor langer Zeit - Antworten
Jennifer Re: ja du hast recht, Weihnachten ist vorbei - Schön - das war sehr motivierend :)
Vielen Dank für das Feedback!
Vor langer Zeit - Antworten
UteSchuster ja du hast recht, Weihnachten ist vorbei - aber diese Geschichte könnte auch an jedem anderen Tag im Jahr passiert sein.
Nächstenliebe ist keine Sache nur für Weihnachten, deshalb war deine Geschichte auch trotz Frühling und Sonnenschein genau richtig

Nächstenliebe schenkt doch Sonne, hab ich recht. Na siehst du, perfektes Timing.

liebe Grüße Ute
Vor langer Zeit - Antworten
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