Evelyne erzählt
Ihr Mann Robert hatte meine Großmutter im Süden kennen gelernt, als er Vieh für den Hof einkaufte. Kurze Zeit später hatten sie geheiratet und sie war zu ihm auf den Hof gezogen. Anna war von hohem, schlanken Wuchs, anmutig wie eine Katze. Ihre dunklen Haare fielen ihr bis auf die Hüften und ihre schwarzen Augen glänzten wie Obsidiane. Roberts Eltern murrten zuerst, da sie dachten, dass sie für die Landwirtschaft zu feinsinnig sei. Doch sie hatte kräftige Hände, und einen Sinn für Ordnung und Organisation. Unter ihrer Anleitung blühte der Hof auf.
Ihren ersten Sohn, Simon,  brachte sie mit 19 auf die Welt, zwei Jahre später Frederic, dann im nächsten Jahr Guiseppe. Die Zwillinge Antoine und Angelique waren Nachzügler - eine schwere Geburt - danach riet ihr der Arzt, nie mehr zu gebären.Â
Im letzten Jahr hatte sie, einer inneren Vision folgend, die achtjährige Julienne adoptiert. Hals über Kopf hatte sie den Hof verlassen, alles liegen und stehen gelassen und war nach Paris gereist.
Die ganze Familie war in Aufruhr. Doch Robert beruhigte sie. Er kannte Anna und ihre inneren Bilder, von denen sie sich führen liess. Und bis dahin hatte immer alles seine Richtigkeit gehabt. Mehr noch, immer wieder waren es ihre, oft unvernünftig scheinenden, Anweisungen, die sich in schwierigen Situationen als genau das Richtige erwiesen hatten.
Nach ein paar Tagen tauchte Anna wieder auf und hielt Julienne an der Hand. Sie hatte sie im Süden von Paris gefunden, im Straßengraben schlafend, einem Waisenhaus entflohen.
Nach kurzer Zeit schon hatte sie die Formalitäten erledigt, die Adoptionsurkunde unterzeichnet und Julienne endgültig mit auf den Hof genommen. Die Erzieherinnen im Heim waren froh, sie los zu sein. Sie galt als ungemein schwierig und aufsässig.
Simon - der zu der Zeit gerade zehn Jahre alt war -  stand am Zaun, als sie bei dem Gehöft ankamen.
Großmutter Anna hat mir erzählt:
"Ich konnte sehen, wie ihre Blicke sich trafen. Es geschah langsam, wie in Zeitlupe. Ein Bild stieg in mir auf, ich sah zwei Kometen aufeinander treffen, unter dem gewaltigen Druck zerbersten und verschmelzen. Ein gewaltiger Feuerball entstand und der Blitz tauchte den Hof für den Bruchteil einer Sekunde in gleißendes Licht.
Eine Fülle von Bildern tauchte daraus auf, wirbelte durch den Äther und verschwand wieder, so schnell, daß ich ihn nicht fassen konnte!"
Sie rieb sich die Augen, und liess Julienne dabei los. Als sie ihre Lider wieder hob, war der Spuk vorbei. Simon war verschwunden und sie ging langsam mit Julienne ins Haus.
Seit diesem Tag waren Simon und Julienne ein Paar. Nichts konnte sie trennen. Ein ganzes Jahr lang schien das Licht ihrer kindlichen Liebe über dem Hof.
Abendrot
Sabina und Joan sassen an einen der rosablühenden Kirschbäume gelehnt und liessen sich vom Farbenspiel des Sonnenuntergangs verzaubern.
Die Luft war jetzt, Anfang Mai, um diese Tageszeit immer noch kühl, und so hatte Sabina ihren Schlafsack aus dem Hänger gekramt und ihn aufgeschlagen um ihre Schultern gelegt. Joan traute sich inzwischen schon, von sich aus seinen Arm um sie zu legen. Obwohl sie schon ein paar Male miteinander geschlafen hatten, war er immer noch scheu und wagte oft nicht, sie von sich aus zu berühren.
Bisher war es auch immer Sabina gewesen, die diese Dinge in die Hand genommen hatte. Joan - das spürte sie - liebte und bewunderte Sabina auf eine besondere Art. Oft war dies angenehm, und gab ihr Selbstvertrauen, manchmal jedoch jagte es ihr ein wenig Angst ein.
Joan sollte sich nicht ein Madonnenbild von ihr erschaffen, welches doch irgendwann sowieso zerbrechen würde. Und mit ihm dann vielleicht ihre Liebe. So sehr es ihr gefiel, die geheimnisvolle Schöne zu sein, die ihn verführt und ihm das Leben gezeigt hatte, so wenig wollte Sabina in dieser Rolle steckenbleiben.
Nun war der Zeitpunkt gekommen, eines ihrer Geheimnisse zu lüften.
Leise begann sie zu erzählen. Joan lauschte mit klopfendem Herzen. Er spürte sofort, dass wieder etwas Neues geschah: Noch nie hatte Sabina von ihrer Vergangenheit erzählt. Irgendwie hatte er geglaubt, sie sei schon immer so gewesen wie jetzt: fröhlich, spontan und unkompliziert - nur früher eben jünger. Und das was Sabina im Jetzt war, hatte ihm so ausgereicht, dass er gar nicht daran gedacht hatte, nach ihrer Kindheit und Jugendzeit  zu forschen...
Sicher hatte er die Narben auf ihrem Körper gesehen, breite Flächen auf denen die Haut verfärbt war und eine andere Struktur hatte.
Doch danach zu fragen war ihm taktlos erschienen. Hatte nicht jeder seine geheimen Wunden, die er vor Anderen versteckte?
Als Sabina dann geendet hatte war es längst Nacht geworden, unzählige Sterne füllten die dunkle Himmelskuppel über ihnen und am Horizont stieg riesig und orange ein beunruhigender Vollmond auf.
Fortsetzung folgt...