Die Reise beginnt
Gemeinsam schoben sie den Rosenroller durch das Rundgewölbe der Hofeinfahrt des Hinterhofes. Durch ein grosses Tor kam man von hier nach draussen auf die Strasse. Sabina hatte sich einen uralten Lederhelm auf ihre nicht zu bändigenden schwarzen Locken gedrückt, um den eine Fliegerbrille geschnallt war. Joan erhielt eine Art verbeulte Suppenschüssel aus Blech mit einem halb zerfetzten Lederriemen zum Umbinden. Mißtrauisch betrachtete er das Ding und drehte es unschlüssig in den Händen. Sabina sah zu ihm herüber: "Neeein! nicht reinpissen!" ermahnte sie ihn mit erhobenen Zeigefinger. "Das sieht zwar aus wie ein Pisspott, und wahrscheinlich wars mal einer, aber nein, es ist ein Sturzhelm. Man tut es sich auf die Birne, um das letzte Restchen Hirn zu schützen!"
Joan lachte und stülpte sich die Schüssel über den Kopf ohne die Riemen zu schliessen. Dann half er Sabina beim Schieben, denn der vollbeladene Hänger war bereits angekoppelt. "Du glaubst gar nicht, was dieses Pferdchen alles ziehen kann!" meinte Sabina, als sie auch hier Joans zweifelnde Blicke bemerkte. "Es wird zwar gelegentlich von Schnecken überholt, aber von der Kraft her ist es wie ein Traktor!" Sie tätschelte liebevoll den abgewetzten und von den Jahren dunkelbraun gefärbten Ledersattel. Ursprünglich war er sicher hell gewesen. Das passte viel besser zur Farbe des Rollers. Joan beschloss ihr einmal einen neuen Sattel aus hellem Leder zu nähen, der besser passte und weicher war.
Sabina hatte bereits die zwei Torflügel der Einfahrt geöffnet. Sie blickten sich an. "Kuss!" verlangte Sabina, "und dann aufsitzen Cowboy!"
"Und wer macht das Tor zu?" wollte Joan wissen. Sabina sah ihm tief und ernst in die Augen.
"Mein lieber Prinz Joan!", meinte sie "das wissen wir nicht, denn wir beide, Du und ich werden jetzt da hinausfahren und alles was bisher war hinter uns lassen!"
Sie besiegelte ihre Aussage mit einem Kuss, so dass er nicht mehr zu Wort kommen konnte, zog die Fliegerbrille herunter und sprang auf den Anlasser. Knatternd und Rauchwolken von sich gebend, wie eine kleine Lokomotive, sprang der Roller an. Sabina liess ihn im Leerlauf aufheulen, dann hüpfte sie auf den Sitz und schaltete in den ersten Gang, ohne abzuwarten, dass Joan hinterherkam. Dieser kannte sie inzwischen schon und wusste, dass sie nicht anhalten würde. Flugs lief er dem anfahrenden Gefährt hinterher und sprang ganz Cowboylike im Fahren auf den Sattel. Der Helm, den er nicht befestigt hatte flog ihm dabei beinahe davon. Mit einer Hand klammerte er sich um Sabinas Taille, mit der anderen drückte er sich den Blechnapf auf den Scheitel. Sabina lachte, kurvte in die Strasse, gab Vollgas, schaltete hoch und liess den Hänger übers Pflaster tanzen.
"Kannst Du nicht ein bisschen vorsichtiger fahren?", brüllte Joan ihr durch den Lärm des Gepolteres und Geknatters zu.
"Es ist Frühling!", juchzte sie bloss und liess mit beiden Händen den Lenker kurz los und warf sie in die Höhe. "Geniess es, oder lass es bleiben!"
Joan entschied sich dafür es zu geniessen.
Erst als sie Paris und die Vororte verlassen hatten konnte er allerdings diesen Vorsatz so richtig umsetzen. Die Raserei durch die engen, vollgestopften Straßen, in denen das Recht des Stärkeren zu regieren schien, waren für ihn die Hölle. So etwas war er von daheim nicht gewohnt. Dort hielt man sich an Verkehrsregeln und benützte die Hupe nur in Notfällen. Der einzige Vorteil war: Die Stärkere war Sabina. Wie ein Wikinger auf einem Drachenschiff pflügte sie durch den Verkehr. Sie hatte eine extrem laute und vieltöndende Hupe an den Lenker ihres Rollers geschnallt, deren Signal sicher einem Wikingerdrachengebrüll hätte standhalten können. Sabina liebte diese Hupe offensichtlich ebenso wie ihren Roller, und wollte unbedingt viele andere Leute an ihrer Freude teilhaben lassen. Was sie dafür weniger benutzte war die Bremse. Vielleicht wusste sie nicht, wo die war, oder der Roller hatte gar keine. Dafür hatte er einen Gashebel mit dem man den alten Motor aufjaulen lassen konnte, wie den eines Ferrari. Damit wurden die Pausen gefüllt, in denen sie nicht hupte. Selbst die abgebrühtesten französischen Verkehrsrowdies erbleichten, wenn sie Sabinas vorzeitliches Gefährt erblickten, und drückten sich ängstlich an den Straßenrand. Vielleicht hielten sie sie auch für eine Erscheinung aus dem Jenseits oder von einem anderen Planeten, oder einfach jemand der aus der Irrenanstalt ausgebrochen ist. Hochaufgerichtet und mit den wehenden schwarzen Locken unter der Lederkappe, die Brille über den Augen, darunter ihr knallrot geschminkter Mund, so sah sie einfach majestätisch, geheimnisvoll, verführerisch und gefährlich aus. Alles gleichzeitig. Sabina eben.
Nun aber wurde die Straße zur Landstraße, gesäumt von einer Allee alter Pappeln, danach dehnte sich der Blick in die Weite. Sanfte Hügel und Wiesen, Bauernhöfe ab und zu, Felder, Gatter, hin und wieder Pferde, die beim Geknatter des Gefährts davonstoben.
Joan tat der Hintern weh. Und der Kopf vom Lärm und dem ungewohnten Druck des Helms.
"Können wir hier mal anhalten?", brüllte er nach vorne. Statt zu antworten bog Sabina in einen Feldweg ein, nahm die Geschwindigkeit zurück und liess den Roller sanft bis zu einer Obstwiese tuckern. Dort fuhr sie einfach vom Weg herunter und zwischen die blühenden Kirschbäume. Sie liess das Gespann ausrollen, dann drehte sie den Motor ab.
Oh diese herrliche Stille! In Joans Ohren dröhnte der stundenlange Lärm und die Vibrationen des Kraftrades noch nach, die sich auf seinen ganzen Körper übertragen hatten. Schwankend hievte er sich vom Sattel, doch er kam nicht zum Stehen. Sabina legte ihm einfach einen Arm um die Hüften und liess sich direkt mit ihm in das hohe Gras fallen. Im ersten Moment hatte er Angst sich beim Sturz den Kopf anzuschlagen, doch dann fiel ihm ein, dass er ja immer noch einen Sturzhelm aufhatte.
Sabina lag neben ihm, ihr behelmtes und bebrilltes Gesicht an seinem. "Wör sünd süü?", nölte sie mit geschürzten Lippen, sünd sü auch von einem fernen Planeten? So antworten sü doch!"
Joan lachte. Sie sah wirklich wie ein süsser abgestürzter Alien aus. "Ich komme von sehr weit her, meine werte Dame!", beeilte er sich nun zu antworten. "Darf ich sie trotzdem küssen?"
Selbstverständlich durfte er.
Fortsetzung folgt...