Beschreibung
Der schüchterne Joan lernt in Paris die faszinierende Künstlerin Sabina kennen. Auf einem Ausflug verknüpft sich ihre junge Liebe auf magische Weise mit Ereignissen, die schon vor langer Zeit stattgefunden haben
Der Rosenroller (Fortsetzung)
Joan räkelte sich genußvoll auf dem weichen Tuch, gähnte, streckte sich und rollte sich dann wieder ein, um ein wenig weiter zu träumen. Sabina hatte ihm vor ein paar Stunden Hausarrest gegeben. Als sie ihn heute früh wachgeküsst hatte, flüsterte sie ihm etwas von einer Reise ins Ohr, die sie machen würden, und dass sie etwas vorbereiten müsse. Deswegen dürfe er ihr Appartment nicht verlassen und auch nicht aus dem Fenster nach ihr sehen.
Ihr Geheimnis fand also offensichtlich im kleinen Hinterhof des alten Häuserblockes statt, von woher schon seit einiger Zeit der Gesang Sabinas zu hören war, untermalt von allen möglichen Geräuschen, die auf ihre emsige Arbeit dort hinwiesen.
Wieder schweifte sein Blick haltlos durch das Zimmer in Rot und Schwarz. Auch Sabinas Kleidung war ausschliesslich in diesen beiden Farben gehalten. Nicht so ihr Leben. Dieses erschien Joan eher bunt wie ein Regenbogen, oder das prächtig schillernde Gefieder eines Pfaus. Tagsüber schritt Sabina mit ihrer Staffelei, Block und Farben durch die Pariser Strassen, die Bahnhöfe, Metrostationen, Parks und sogar Friedhöfe, ging in die Kirchen, Museen und Cafes, zu den Seine-Brücken, hielt sich in der Nähe der Sehenswürdigkeiten auf, die uns allen geläufig sind, aber war auch an Orten zu finden, die den meisten Pariser Bürgern unbekannt waren.
Und überall dort ging sie der Passion ihres Lebens nach: Lebendige Bilder vom Leben der Menschen in Paris zu zeichnen. Den Zauber dieser Stadt aufzuspüren, im Kleinen wie im Großen, und mittels ihres Pinsels auf ihrem Block einzufangen.
Und diese ihre Bilderwelt war eindeutig bunt. Bevor Joan Sabina kannte, war ihm nicht bewusst gewesen, wie viele verschiedene Farbtöne, Nuancen und Schattierungen des Lichtes es gab. Und dass man die alle auch malen konnte. Er kannte von daheim nur den Schulmalkasten mit seinen runden Schälchen. Diese konnte man zwar ein wenig mischen, was dann aber im Ergebnis hauptsächlich eine Farbe ergab: Schmutzigbraun. Jedenfalls bei seinen eigenen stümperhaften Versuchen.
Sabina jedoch besass eine Unmenge winziger viereckiger Töpfchen - so gross wie ein Fingerhut - welche die verschiedensten Farbtöne enthielten. Um damit zeichnen zu können musste man nicht - wie bei den Deckfarben - diese in Wasser ertränken, um dann wie wild mit dem Pinsel darin herumzurühren, nein es genügte, sie mit einem kleinen Tropfen zu benetzen und nach einer kleinen Weile lieferte dieser Tropfen eine viel intensivere Farbe, als diejenigen im Schulkasten. Diese Farben konnte man zudem auch noch vermischen, und sie bildeten dann tausende von neuen Farben und Schattierungen. Verdünnte man sie mit Wasser, blieben sie genauso schön, wurden nur zarter, pastelliger. Auf dem weichen, saugfähigen Papier konnte man sie ineinanderlaufen lassen, oder immer wieder übermalen.
Joan begleitete Sabina nun schon die gesamten letzten zwei Wochen bei ihren Streifzügen durch Paris. Wie oft war er schon hinter ihr gestanden und hatte fasziniert beobachtet, wie ihr Pinsel tanzend über das Papier geglitten und gehüpft war, um in Sekundenschnelle ein Abbild der Wirklichkeit zu schaffen. Ein Bild, in dem sie nicht nur - wie ein Fotograf - die tatsächlich sichtbare Wirklichkeit einfing, sondern auch die Unsichtbare, welche dahinter verborgen lag.
Sabina sah in der Welt ein grosses Geheimnis, welches sie entdecken, erforschen wollte. Alles, was ihr auf ihrem Weg begegnete war dafür geeignet. Ob es gross oder klein, berühmt oder unscheinbar war, für hässlich oder schön gehalten wurde - das spielte für sie keine Rolle. Sabina zeichnete eine umgefallene Mülltonne mit derselben Hingabe und Akribie, wie den Eiffelturm bei Nacht, wenn er von tausenden von Glühbirnen erleuchtet war.
Und Joan sah in Sabina ein grosses Geheimnis, welches widerum er entdecken und erforschen wollte. Ihr Leben unterschied sich so gravierend von dem aller anderen Menschen die er kannte, dass diese Forschungsreise für ihn in einem einzigen, nicht endenden Abenteuer bestand.
Bei Sabina wusste man nie, was als Nächstes kommen würde. Wahrscheinlich wusste sie es selber nicht. Der Motor ihres Lebens sass nicht im Kopf, sondern im Bauch und in ihrem Herzen. Sie schien jeden Augenblick ihres Lebens ihren Eingebungen zu folgen und auf ihr Gefühl zu hören. Ihr befreites Lachen hatte auch ihn wieder zum Lachen gebracht, und ihre Art, sich - wenn es ihrer Meinung nach sein musste - über bestehende Regeln und Normen hinwegzusetzen, ohne dabei auch nur mit der Wimper zu zucken, hatte ihn von Anfang an in gleichem Maße begeistert wie geängstigt.
Auf jeden Fall hatte sie ihm das Gefühl gegeben, zum ersten Mal in seinem Leben wirklich lebendig zu sein.
Und zum ersten Mal hatte auch er Widerstand geleistet gegen die Ketten, die ihn hielten und es gewagt zu tun, was ihm verboten war.
Anstatt mit seiner Klasse von der dreitägigen Abschlussfahrt, nach der bestandenen Abiturprüfung, nach Deutschland zurückzukehren, war er einfach hier geblieben. Hier bei Sabina. Das war das grösste Verbrechen, und die verrückteste Tat, die er je begangen hatte.
Und mit Abstand die Schönste...
"Joooooan!" Sabinas Stime klang aus dem Hof herauf durchs offene Fenster an sein Ohr. "Ich bin feeeeeertig!!! Du kannst kooooommen!"
Unsanft aus seinen Träumen gerissen, sprang Joan hoch, wie von der Tarantel gestochen und versuchte beim Anziehen, einen Feuerwehrmann an Geschwindigkeit zu übertreffen. Mit dem Ergebnis, dass er die Unterhose vergass, zwei verschiedene Socken anhatte, und das T-Shirt verkehrt herum. Aber das war ja jetzt auch egal. Kein Mensch hatte Röntgenaugen, mit denen er durch eine Jeans schauen konnte. Und nachher hatte er Zeit um...
Joan riss die Tür auf und stürzte sich die Treppe hinunter. Leider war er nicht so akrobatisch begabt wie Sabina, die freihändig mit einer schweren Umhängetasche über der Schulter und der Staffelei plus Block unter den Arm geklemmt, das Treppengeländer hinunterrutschte, so dass die alten Damen in den unteren Stockwerken bald einen Herzinfarkt bekamen, wenn sie das sahen. Worauf Sabina Ihnen im Vorbeischlittern noch lässig zuwinkte und freundlich dabei lächelte, was sie dann noch tiefer erbleichen liess.
Ausser Atem kam er unten im Hausflur an, wo er bereits ungeduldig von Sabina erwartet wurde.
"Augen zu und Hände vorstrecken!", kommandierte sie.
Fortsetzung folgt