Beschreibung
Ich blicke zurück auf eine zauberhafte Kindheit, so behütet und so unbeschwert. Die vielen kleinen Ereignisse hatten damals für mich enorme Bedeutung und formten mich schließlich zu dem Menschen, der ich heute bin.
Begleiten Sie mich auf eine Zeitreise in die 1960er Jahre und verfolgen Sie in den jeweiligen Fortsetzungen die Entwicklung des Stadtkindes.
Zum Titelbild: Conny (rechts) und ich
In dem alten Mietshaus, in dem wir damals wohnten, gab es auch viele Kinder. Cornelia, von allen Conny genannt, war meine beste Freundin. Sie wuchs bei einem älteren Ehepaar auf, das sich wie eigene Eltern um das Mädchen bemühten. Die eigentlich fremden Leute sprach sie mit “Mutti” und “Vati” an. Daß es ein ungewolltes, ungeliebtes Kind war, welches sozusagen der Esel im Galopp verloren hatte, als die leibliche Mutter während ihrer stürmischen Jugend wiedermal auf Abwege mit einem Ausländer geriet, sollte das Mädchen nicht wissen. So wurde es von den alten Leuten erzogen, die ihm die nötige Zuneigung aber auch Strenge gaben. Zwischen überschwänglichen Streicheleinheiten und manchmal schon lächerlich wirkenden Verhätschelungen setzte es ab und zu auch mal eine schallende Ohrfeige. Das passierte immer dann, wenn die temperamentvolle alte Dame bei dem etwas skurrilen Kind am Ende ihrer pädagogischen Weisheiten angelangt war. Conny hatte sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt. Schließlich wußte sie genau, daß sie abgöttisch geliebt wurde, eine Liebe, die ihr die leibliche Mutter niemals entgegenbringen könnte.
Conny steckte mich ständig mit ihren verrückten Ideen an. Beispielsweise stand sie einmal
mit toupierten Haaren vor unserer Tür. Sie war 5 und ihre Frisur glich einem ausgefransten Mop. Unter ihrem engen Pullover hatte sie 2 Paar dicke, zusammengerollte Socken gestopft, und nun erwartete sie, daß vorallem meine Mutter die “frauliche” Erscheinung gebührend lobte. Das tat sie natürlich auch in aller Ernsthaftigkeit, und ich hatte nichts Eiligeres zu tun, als mir ebenfalls Socken unter den Pullover zu schieben. Oh Gott, was waren wir schön! Wir führten “intelligente, erwachsene” Gespräche von ungeheurer Wichtigkeit und bewegten uns hüftschwingend durch die Wohnung. Die Welt gehörte uns, den schönsten und vollkommensten Frauen der Maybachstraße 1.
Beatleszeit! Daß die Pilzköpfe aus Liverpool unanständig lange Haare trugen und irgendwelche Musik machten, drang sogar bis zu mir. In vielen jugendlichen Knaben erwachte nun der Wunsch, die Umsätze der Friseure ein wenig zu reduzieren. Das gelang jedoch nur sehr zögerlich, denn die Eltern der Sprößlinge duldeten solche Kinkerlitzchen nicht. Bedeckten also die Haare bereits das halbe Ohr, hieß es:
“Du siehst ja aus wie ein Beatle!”
Der rebellische Range bekam 1,50 M in die Hand gedrückt, dazu einen herzhaften Klaps, und dann mußte er sich wohl oder übel seiner stolzen Haarpracht entledigen lassen. Es sollten noch einige Jahre vergehen, bis Eltern sich voll innerer Überzeugung zu folgendem Satz durchrangen:
“Lang dürfen die Haare sein, aber gepflegt müssen sie aussehen.”
Jedoch zurück zur Pilzkopfrevolution. Unmittelbar neben unserem Haus befand sich ein kleiner Spielplatz mit einer Parkanlage. Beides mußte jedoch Mitte der sechziger Jahre einem betonierten Busbahnhof weichen. Wir bedauerten das sehr, konnten aber nichts dagegen tun. Bevor das Areal endgültig seiner neuen Nutzung übergeben wurde, bot es trotzdem noch Spielraum für uns Kinder. Lediglich ein einziges Wartehäuschen zierte die Fläche. Conny und ich konnten Fangen spielen oder mit unseren Rollern umherjagen (heute undenkbar).
Eines Tages saß ein Mensch in dem Wartehäuschen. Neugierig musterten wir die schwarzgekleidete Erscheinung. Die ungewöhnliche Kleidung ließ nicht
erkennen, ob es sich bei dem Träger um einen Mann oder eine Frau handelte. In wessen Kleiderschrank hing zu dieser Zeit schon ein Hosenanzug, mit einer taillierten, längeren, doppelreihig geknöpften Jacke und einer Hose mit leicht ausgestellten Hosenbeinen? Sowas gabs doch nur im Fernsehen, seinerzeit unsere neuste Errungenschaft. Ja, und die Haare! Zu lang für einen Mann, zu kurz für eine Frau. Was war das nun? Dieser Sache mußten wir auf den Grund gehen. Aber wie? Man hätte ja einfach nach der Uhrzeit fragen können. Die Stimme hätte das Geschlecht sicher verraten, aber auf diese Idee kamen wir nicht. Conny, die es nie erwarten konnte erwachsen zu werden, hatte schließlich einen absurden aber unserer Meinung nach goldrichtigen Einfall.
“Wir gucken mal, ob die Hose einen Hosenstall hat. Dann wissen wirs.”
Ja, das war logisch. Frauen brauchten schließlich keinen Hosenstall. Nun saß aber die Person auf einer Bank und lächelte uns freundlich zu. Sie dachte gar nicht daran aufzustehen und uns damit die Beobachtungen zu erleichtern. Ich schlug vor, so zu tun, als spielten wir Fangen. Dabei laufen wir
möglichst dicht an diesem Menschen vorbei und gucken ganz genau hin. Alles klar! Lachend und schreiend liefen wir also herum, ohne das geheimnisvolle Wesen und vorallem das, was es zwischen den Beinen hatte, aus den Augen zu lassen.
Was muß dieser Mensch von uns gedacht haben? Er rührte sich nicht von der Stelle, sondern lächelte uns vergnügt zu. Ob er wohl ahnte, was der Grund für unser Treiben war? Ich weiß es nicht. Aber wenn ich es gewußt hätte, wäre es mir furchtbar peinlich gewesen.
Irgendwann waren wir so außer Atem, daß wir beschlossen, einen Hosenstall gesehen zu haben. Nun stand es eindeutig fest: Das ist ein englischer Beatle. Toll! Und so eine berühmte Persönlichkeit wartet ausgerechnet bei uns auf den Bus! Eine Sensation! Presse! Rundfunk! Fernsehen! Alle sollen es erfahren, aber wenigstens die Leute aus unserem Haus. Aufgeregt begannen wir, die Mieter der Parterrewohnungen herauszuklingeln.
“Wir haben einen englischen Beatle gesehen. Der sitzt da draußen auf der Bank.”
Wir erwarteten, daß diese Neuigkeit eine so weltbewegende Wirkung hinterließ, daß die Leute sofort alles stehen und liegen ließen, um das Wunder mit eigenen Augen zu betrachten. Doch wie enttäuschend! Nichts geschah. Ein müdes, ungläubiges
“Ach ja? Tatsächlich?
war schon die ganze Reaktion.
Warum sind Erwachsene immer so desinteressiert und mißtrauisch?!
***
Fortsetzung folgt.