Beschreibung
Ich blicke zurück auf eine zauberhafte Kindheit, so behütet und so unbeschwert. Die vielen kleinen Ereignisse hatten damals für mich enorme Bedeutung und formten mich schließlich zu dem Menschen, der ich heute bin.
Begleiten Sie mich auf eine Zeitreise in die 1960er Jahre und verfolgen Sie in den jeweiligen Fortsetzungen die Entwicklung des Stadtkindes.
Im Sommer besuchten wir oft unsere Verwandten auf dem Land. In der Altmark gibt es große Kiefernwälder, in denen wir ausgedehnte Spaziergänge unternahmen. Zur Heidelbeerzeit wählte ich immer das größte Gefäß, denn ich war ja ein fleißiges Mädchen und würde es sicher schnell füllen. Davon war ich überzeugt. Doch schon nach wenigen Minuten stachen die Mücken, kratzte das Heidelbeerkraut und überhaupt, die Sache wurde langweilig. Der Boden des Gefäßes war bedeckt und so widmete ich mich nun interessanteren Beschäftigungen. Beispielsweise schubste ich einen schillernden Mistkäfer durch den Sand oder schaute mal nach, was das benachbarte Roggenfeld für Attraktionen zu bieten hatte. Da gab es nichts Besonderes, wie sich bald herausstellte, aber der hohe Roggen bot ein ideales Versteck für ein kleines Mädchen, das ein bißchen Spannung ins Familienleben bringen wollte. Schon bald hörte ich die Stimmen meiner Verwandten. Versteckspielen war doch viel lustiger als dieses langweilige Heidelbeerenpflücken. Die Großen sollten mich ruhig noch eine Weile suchen und wenn sie mich entdeckten, müßten sie sich verstecken. Allmählich klangen ihre
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Rufe immer verzweifelter und irgendwie taten sie mir leid. Ich weiß nicht wieso, aber die Erwachsenen spielen nicht gern Verstecken; überhaupt, sie spielen nicht gern das, was mir besonders viel Spaß bereitet. Sie bilden sich ein, dafür schon zu groß zu sein. Wielange wächst man denn, bis man nicht mehr spielen darf?
Ja, ja, ich habe schon verstanden, ihr wollt nicht mit mir Versteck spielen und ich bin schließlich kein Unmensch. Schade, daß die Erwachsenen immer so schwerfällig sind.
Mit einem gewinnenden Lächeln trat ich aus dem Roggenfeld heraus. Meine Verwandten schauten erleichtert und bombardierten mich dann mit Vorwürfen. Das hätten sie sich ruhig sparen können.
Während eines anderen Ausflugs in den Wald verspürte ich ein dringendes Bedürfnis. So wie die meisten Leute auf dem Dorf, besaßen auch unsere Verwandten kein Wasserklosett, sondern nur ein primitives Plumpsklo auf dem Hof. Dieses stille Örtchen suchte ich nur so selten wie möglich und mit großem Widerwillen auf. Mitten im Wald erschien mir die Sache
noch abenteuerlicher und widerwärtiger. Aber was sein muß, muß sein, und Not macht erfinderisch. So suchte ich mir ein geeignetes Plätzchen und fand einen ausgehöhlten Baumstumpf, der mit viel Phantasie einem Toilettenbecken ähnlich sah. Der kleine, blanke Kinderpopo ließ sich also vorsichtig auf die paßgenaue, raue, natürliche Toilettenschüssel nieder, um Sekunden darauf wie von der Tarantel gestochen aufzuspringen. Es war zwar keine Giftspinne, die mich dazu veranlaßte, aber wer es schon mal mit Ameisen zu tun bekommen hat, wird nachempfinden können, wie mir zumute war. Es schien, als wollten sich die armen Tierchen für den schändlichen Mißbrauch ihres Heims mit aller Macht an mir rächen. Ich sprang wie Rumpelstilzchen brüllend mit heruntergelassener Hose durch den Wald. Überall kribbelte und piekte es und dieses Gefühl war mehr als unangenehm. Meine Mutter und meine Tante kamen herbeigeeilt, um mich aus dieser Misere zu befreien. Dabei bogen sie sich vor Lachen, was meinen Zorn und die Wut noch verstärkte. Während sie sich unter wildem Gelächter bemühten, die lästigen Tierchen von meinem Körper zu wischen, schimpfte ich schreiend nicht mehr nur auf die furchtbaren Ameisen, sondern auch auf die beiden albernen Frauen. Was gab es denn da zu lachen?
Diese blöden Viecher fraßen mich halb auf und anstatt mich gebührend zu bedauern, gackerten sie wie die Hühner. Das ist doch unfair. Aber so sind die Erwachsenen. Einerseits verlangen sie genauso vernünftig zu sein, andererseits nutzen sie die Naivität der Kinder zeitweise schamlos aus, ohne damit zu rechnen, daß ihre Sprößlinge längst nicht so dumm sind, wie sie annehmen.
Ein typisches Beispiel dafür war folgende Begebenheit:
Meine Tante hatte für Nachbarn Korn auf ihrem Speicher gelagert. Damit lockte sie aber auch ungebetene Gäste an und so machten wir eines Tages Jagd auf ein kleines graues Mäuschen. Es gelang uns, das Tier lebend zu fangen. Als Tiernarr konnte ich meine Verwandten dazu überreden, das Mäuschen zu behalten. Ich brachte es vorläufig in einer etwa 30 cm hohen Zinkschüssel unter. Da Mäuse bekanntlich gern Speck fressen, legte ich ein kleines Stück davon mit hinein. Dem guten Tier sollte es an nichts fehlen, denn ich liebte es über alles. Schon bald klebte das graue Fellchen fettig an dem winzigen Körper und mein Liebling mit den schwarzen Knopfaugen sah gar nicht mehr schön aus. Aber das störte mich nicht. Ich
beobachtete die Maus, wie sie in der Schüssel herumlief, streichelte sie und war fasziniert von diesem putzigen, flinken Wesen. Leider wurde mir nicht erlaubt, das Gefäß im Haus aufzustellen. So mußte ich mich am Abend im Geräteschuppen von meinem kleinen Schatz verabschieden. Das gefiel mir gar nicht, aber ich freute mich schon auf den nächsten Tag, wenn ich wieder mit ihm spielen konnte. Kaum erwacht, rannte ich sofort in den Schuppen. Doch was war das? Da lag die Schüssel umgestürzt und mein Mäuschen ... weg! So ein Tier wiegt nur wenige Gramm, die Schüssel dagegen mindestens ein Pfund. Ich konnte damals noch nicht mit Gewichtseinheiten umgehen, aber so viel war mir klar: Durch das Eigengewicht der Maus hätte die Schüssel nicht umgestoßen werden können. Da hatten Zweibeiner ihre Hand im Spiel gehabt. Nachdem die erste Trauer überwunden war, stürmte ich wütend in die Küche, von wo man bereits das ganze Schauspiel beobachtet hatte und stellte meine Leute zur Rede. Natürlich spielten sie die Ahnungslosen. Warum sollten sie sich an der Schüssel vergreifen? Allein die Freiheitsliebe des Tieres hätte ihm die Kraft verliehen, das schwere Gefäß umzustoßen, um das Weite zu suchen. Empört fragte ich, für wie dumm sie mich denn halten. Da wurden ihre
Unschuldsbeteuerungen immer dünner. Sie mußten schließlich eingestehen, daß schon etwas mehr Einfallsreichtum dazugehörte, um mich zu überlisten.
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Fortsetzung folgt.