Romane & Erzählungen
Bartolino oder die Sprache der Wolken

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"Bartolino oder die Sprache der Wolken"
Veröffentlicht am 12. April 2010, 30 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Mein Leben ist bisher von ständigem Wandel geprägt gewesen. Ich habe in der biologischen Landwirtschaft gearbeitet, in einer Schreinerei, habe die Berufsausbildungen zur Medizinisch-Technischen Laboratoriumsassistentin abgeschlossen und auch zur staatl. dipl. Erzieherin. Ich habe über dreissigmal den Wohnort gewechselt, die längste Zeit habe ich dabei in Bayern verbracht. Zweimal war ich verheiratet und habe drei erwachsene Kinder. Daneben hatte ...
Bartolino oder die Sprache der Wolken

Bartolino oder die Sprache der Wolken

Beschreibung

Die Kinder Milli und Tom sind in ihre eigene Welt eingeschlossen, da die Erwachsenen nicht den Mut hatten, ihre tiefen Gefühle mit ihnen zu teilen. Erst die Wahrheit und jemand, der bereit ist, sie mit ihnen zu teilen, kann ihnen und auch den Erwachsenen helfen, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen.

 

Bartolino oder die Sprache der Wolken

 

Da sind Milli und Tom, zwei Kinder.

Ich schätze, Milli ist ungefähr fünf, Tom vielleicht acht Jahre. Sie sind befreundet und spielen auf der Straße.

Auf einmal ruft Milli: "Heute ist mein Glückstag!

Mein absoluter Glücks-, Glücks-, Glückstag!"

Tom, der mit einem Spiel beschäftigt ist (er kann stundenlang mit sich selbst spielen, ist dabei sehr konzentriert und lässt sich ungern ablenken), sieht fragend auf.

Er versteht nicht, was Milli meint.

Milli ist eigentlich immer traurig und in sich gekehrt, redet nicht viel. Der Ausruf passt nicht zu ihr, auch ist ja gar nichts vorgefallen, was ihn ausgelöst haben könnte.

 

 

"Schau doch!", ruft Milli, und deutet mit ihrem kleinen Zeigefinger in den Himmel.

"Die Wolken haben meinen Geburtstag geschrieben und dann eine Zauberzahl: 11 19, 11 19, immer wieder!"

Milli kann schon Zahlen lesen, sie ist eigentlich ein sehr gescheites Kind, nur eben sehr verschlossen. Doch mit Tom versteht sie sich, obwohl der viel älter ist. Aber er ist ja auch anders, als die anderen Buben - denkt sich phantastische Sachen aus, ist gerne allein.

Andere Jungen wollen auch nicht mit Mädchen zusammen gesehen werden, schon gar nicht mit Jüngeren. Ihm macht das nichts aus.

Tom glaubt ihr nicht. Er weiß, dass sie sich Vieles ausdenkt. Aber er will nicht sagen: "Das stimmt nicht!", um sie nicht zu verletzen. 

 

Er steht auf und kommt zu ihr, um von dort über die Häuser zu schauen, wo sie hin deutet.

Und tatsächlich, sie hat recht:

Aus Wolken geformt, stehen da eine Reihe von Zahlen am Himmel. Die Einen sind schon nicht mehr so ganz deutlich, aber man kann noch erraten, was sie gewesen sind.

Aber die Anderen - weiter vorn - sind richtige Zahlen, nicht so wie Wolkengebilde, die man sonst so sieht und dann rät: Das ist ein Schaf, das ein Wal, und das hier sieht aus wie ein Drache.

Tom muss ihr recht geben, auch wenn er es sich nicht erklären kann: Wolken bilden nicht einfach Zahlen, schon gar nicht das Geburtsdatum eines kleinen Mädchens.

Er nickt und sieht sie wieder fragend an.

Nun weiß er nicht recht, was er tun soll.

 

Millis Gesicht strahlt. Nicht nur von der Abendsonne, die nun tief über den Häusern hängt und mit ihrem letzten glühendroten Schein die nun ins Grau versinkende Stadt mit Farbtupfern besprenkelt, wie ein Maler seine Leinwand.

"Es ist ein Zeichen des Himmels für mich!", flüstert Milli. Milli ist seit einem Jahr sehr unglücklich und redet mit niemand mehr, außer mit Tom.

Der versteht, dass sie auf ein Zeichen des Himmels wartet. Doch er ist trotz seiner Fantasie zu realistisch für so was. Er wartet auf nichts, erwartet auch nichts von den Erwachsenen. Dennoch muss er zugeben, dass dies tatsächlich ein Zeichen des Himmels ist: Wolken gehören zum Himmel, und Zahlen sind ein deutliches Zeichen, und wenn sie das Geburtsdatum von einem schreiben, ist das höchst ungewöhnlich.

 

Also wartet Tom, was Milli weiter vor hat.Sie scheint genau zu wissen, worum es sich handelt, und was sie zu tun hat.Tom kennt das von ihr. Sie hat eine Art magischen Bezug zu Dingen und Personen, und ihre Eingebungen stimmen oft. Tom hat gelernt, sich auf Millis Intuition fast genau so zu verlassen, wie auf seinen Verstand.Milli erklärt es ihm: "Wir müssen genau aufpassen wohin die Sonne als Letztes scheint, bevor sie untergeht. Dorthin müssen wir gehen, und da ist das Glück! Es ist ganz einfach, wir müssen nur ganz, ganz gut aufpassen!"

Und das tun sie. Lange brauchen sie nicht zu warten, die Sonne sinkt jetzt so schnell, dass man ihr dabei zusehen kann wie sie sich bewegt. Ihr letzter Schein spiegelt sich purpur-rot in einem Haus ganz in der Nähe. Ein einzelnes Fenster im dritten Stock glüht dort für Sekunden auf, wie das Signal eines Leuchtturmes, das ihnen die Richtung weist.

 

Tom und Milli sehen sich an.

"Okay, dann los!!!", ruft er und nimmt Milli bei der Hand. Gemeinsam laufen sie die Straße herunter.

Bald sind sie da, es ist ein noch im Bau befindliches Gebäude auf einem ansonsten noch freien Grundstück. Dort stehen noch eine Bauhütte, Maschinen und Gerätschaften, überall liegen Bretter, Plastikfolien, Eisenteile und Zementsäcke. Am Rand sind Sand- und Erdhügel aufgeschüttet. Ein Pfad aus Brettern führt zum Hauseingang. Die Tür des sechsstöckigen Neubaus ist noch nicht eingesetzt.

Das Haus ist aber schon fast fertig, schließlich sind auch die Fenster schon drin.

Ein bisschen mulmig ist den Beiden nun schon. Sie denken an die Schilder: "Betreten verboten, Eltern haften für ihre Kinder!"

 

Die meisten Handwerker sind schon gegangen, nur noch ein Auto steht vor dem Haus und irgendwer rumpelt noch im Gebäude herum. Deswegen sind die Bretter auch noch nicht vor den Eingang genagelt, die sonst während des Baus die Tür ersetzen.

"Das ist gut!", nickt Tom bedächtig mit dem Kopf. Er denkt nach. Tom entwirft einen Plan: Während die Handwerker drinnen noch beschäftigt sind, können sie sich ins Haus schleichen, ohne bemerkt zu werden. Passanten sind jetzt auch kaum noch unterwegs, die sie dabei beobachten könnten. Die Handwerker werden wohl bald fertig sein, bis dahin können Milli und Tom sich verstecken. Außerdem sind die vielleicht nicht in dem Stockwerk, in das die Beiden müssen.Einziges Problem ist, wie sie wieder hinaus kommen, aber das werden sie später lösen. Vielleicht ist es ja auch Millis Glück, das sie wieder hinaus führt.

 

In den unteren Stockwerken ist noch nicht so viel fertig. Der Aufzug funktioniert noch nicht und bei den Treppen gibt es Abgründe, über die einfach Bretter gelegt sind.

Zudem ist es ziemlich finster. Nur der Widerschein des Himmels, auf dem der Maler gerade tiefes Türkis mit zarten rosa Wattebäuschen verziert, wirft ein mattes Licht durch die Fenster.

Vorsichtig tasten sich die beiden Kinder vorwärts. Die Handwerker sind im zweiten Stock beschäftigt. Ein greller Lichtschein fällt aus einer der Türöffnungen und aus dem Raum dringen Geräusche: Klappern, Hämmern, Sägen, zwei tiefe Männerstimen, die sich einfache, kurze Sätze zurufen.

Milli und Tom sind zwei Abenteurer auf der Suche nach dem Schatz.

 

Wie die Indianer pirschen sie an der Tür vorbei, mit angehaltenem Atem. Obwohl die da drinnen sie bei dem Lärm sowieso nicht atmen hören könnten.

Als sie vorbei sind rennen sie los. Oben laufen sie durch die Türöffnung der ersten Wohnung, pressen sich innen an die Wand und lauschen. Ihr Atem zischt und rasselt, ihre Herzen scheinen lauter zu klopfen, als die Hammerschläge der Handwerker unter ihnen.

Sie warten und warten. Die Wand ist eiskalt, sie frösteln, Milli bekommt eine Gänsehaut an den Armen.

Sie lauschen: Der Lärm unten wird in beruhigender Monotonie fortgesetzt. Jetzt sind sie erleichtert. Sie sehen sich um. "Whow!", Tom pfeift leise zwischen den Zähnen, er hat gerade die passende Zahnlücke dazu und hofft, dass sie nicht zu wächst.

 

Diese Wohnung ist schon fast fertig, es gibt einen Teppichboden, es stehen sogar schon Umzugskartons herum und Sachen liegen auf dem Fußboden. Überall ist Verpackungsmaterial verstreut. Möbel sind noch keine da. Milli findet unter den Zeitungen Kleider und probiert sie an. Tom untersucht die Umzugskisten. Für einen Moment vergessen sie, wonach sie eigentlich suchen. Und die Handwerker.

Diese haben aufgehört zu werken, es ist ruhig unten. Aber die Kinder merken es nicht.

Auf einmal wird es blendend hell. Im Türrahmen steht ein Mann, er hat das Licht aufgedreht.

"So, jetzt hab ich Euch, ihr Einbrecher!", ruft er.

Beide erschrecken fürchterlich und laufen sofort davon.

 

Die Wohnung hat viele offene Türrahmen, hier kann man wunderbar Fangen und Verstecken spielen. So leicht wird der Mann sie nicht kriegen.

Aber das will er auch nicht. Als er sieht, dass er nur zwei kleine Kinder ertappt hat, setzt er sich erst Mal auf eine Kiste. Er ruft: "Versucht nur zu entwischen, mein Partner steht im Hauseingang, da kommt ihr nicht raus! Und ich warte hier!"

Milli und Tom verstecken sich, jeder woanders. Sie denken nicht daran, sich zu zeigen. Der Mann ruft: "Lügen kann ich nicht leiden. Die haben bei mir nichts zu suchen. Aber wenn mir jemand die Wahrheit sagt, braucht er sich nicht zu fürchten!"

Milli schleicht näher. Durch den Türrahmen kann sie den Mann auf der Kiste sitzen sehen.

Er sieht nicht böse aus.

 

Er hat einen staubigen Handwerkeranzug in weiß an und ein Käppi schräg über den graumelierten Haaren. Er ist unrasiert und hat viele Fältchen zwischen den Augenwinkeln. Seine Augen leuchten hell, wie das Meerwasser im Sommer...

Er seufzt und setzt sich auf der Kiste zurecht. Anscheinend will er wirklich warten.

Milli entdeckt etwas Beunruhigendes: Durch den gegenüberliegenden Türrahmen kann sie Tom auf dem Boden sitzen sehen. Er hat ein Briefmarkenalbum gefunden und sortiert Briefmarken. Der Mann hat es auch gesehen, aber er tut nichts. Doch jeden Moment kann er aufspringen und Tom fangen. Wenn Tom ins Spiel vertieft ist, ist er nicht schnell genug.

"Nein, nicht jetzt Tom!", ruft Milli. Da bemerkt sie der Mann auch und dreht das Gesicht in ihre Richtung. Milli steht zum Sprung bereit im Türrahmen.

 

Jetzt nimmt Tom mit seiner Pinzette eine Briefmarke aus dem Album und reicht sie dem Handwerker hoch. "Hier, die schenke ich Ihnen!" Tom hat bereits vergessen, dass sie Einbrecher sind und der Mann sie fangen wollte.

Milli erschrickt. Der Mann steht langsam auf und geht zu Tom. Jetzt ist es zu spät. Sie presst sich die Hand auf den Mund.

Aber der Mann nimmt nur die Marke aus Toms ausgestreckter Hand zwischen seine dicken, staubigen Finger, lässt sich wieder auf die Kiste fallen und besieht sie sich genau.

"Mmh, eine schöne Marke!", brummt er. Offensichtlich kennt er sich aus. Das begeistert Tom und er beginnt zu reden: Er hat gespielt, dass er mit dem unbekannten Jungen, dem das Album gehört, Briefmarken tauscht.

 

 

Einen Umschlag mit seinen eigenen Marken hat er immer dabei.

"Schauen Sie, ich habe sie gegen eine von meinen Marken eingetauscht!" Er zeigt dem Mann die Marke. Der brummt: "Na na, das ist ja schon fast Diebstahl, diese hier ist ja viel mehr wert!"

"Nein nein!", ruft Tom erschrocken. "So ist es nicht! Ich wollte bloß diese Marke unbedingt haben. Deshalb habe ich diese wertvolleren Marken gegen Billigere von Ihm eingetauscht, damit der denkt, ich kenne mich nicht aus und mache es immer so. Dann habe ich dafür diese Marke bekommen, obwohl ich keine Gleichwertige habe. Das ist wie beim Schachspiel: Man opfert ein paar von seinen Bauern um eine wichtige Figur vom Gegner zu bekommen. Das ist erlaubt!"

"Aha!", meint der Mann, nickt nachdenklich mit dem Kopf und reibt mit der Hand sein Kinn.

 

Er hat schon gemerkt, dass Tom nicht ist, wie die anderen Jungen und dass er sein Spiel sehr ernst nimmt.

Milli hat ihre Scheu verloren. Sie tritt aus dem Türrahmen hervor und reicht dem Mann auch eine kleine Marke. Sie ist schon sehr zerknittert und abgegriffen, und der Mann muss sie ins Licht der Glühbirne halten, die von der Decke baumelt, um erkennen zu können was darauf ist: Der Kopf eines Mannes mit einer Melone darauf, diesem schwarzen, runden Hut.

Tom sieht kurz von seiner Beschäftigung auf und merkt, dass der Mann die Stirn runzelt, offensichtlich kennt er die Marke nicht.

"Ach, das ist Bartolino!", meint er beiläufig, "Milli hat nur diese eine Marke. Sie trägt sie immer mit sich rum."

Der Mann hebt die Brauen.

 

Ganz klein steht da tatsächlich der Name unter dem Bild: Bartolino Irgendwas.Tom erklärt es ihm, während er weiter spielt: "Bartolino, wie Bertolino, Millis Vater - weißt Du!"

Der Partner des Handwerkers hat nun wohl genug davon gehabt, an der Haustür zu warten. Seine Aufgabe hat sich nun anscheinend erübrigt. Er hört das Gespräch der Kinder mit seinem Kollegen und fängt die letzten Worte auf.

"Ach ja, Bertolino - ich erinnere mich!", meint er, setzt sich auch auf eine Kiste und öffnet mit seinem Feuerzeug eine Bierflasche, die er mitgebracht hat. "Das ist doch der Mann, der letztes Jahr umgekommen ist, eine seltsame Geschichte..."

Milli und Tom bemerkt er gar nicht, die sind wie zu Statuen erstarrt, mit dem Halbschatten außerhalb des Lichtkreises der Glühbirne verschmolzen.

 

Er prostet seinem Kollegen zu, setzt die Flasche an, nimmt einen tiefen Zug und beginnt dann zu erzählen:

"Bertolino ist hier aus der Nachbarschaft gewesen. Du wirst ihn nicht gekannt haben, du bist ja nicht von hier... Eines Tages hatte er eine Freundin. Sie war achtzehn und Bertolino war verheiratet und hatte ein Kind. Sie wollte mit ihm zusammenziehen, aber er wohnte ja bei seiner Familie. Er konnte sie ja schlecht in den Abstellschuppen tun, in die Garage, oder die Hundehütte.

Also hat er mich gefragt, wir kannten uns von früher und ich habe Ihnen ein Zimmer gegeben. Die Miete wurde auch immer bezahlt. Das hat sie gemacht, denn er flog zu Hause raus und verlor seine Arbeit. Sie hat sich beim Friseur die Haare machen lassen, auch Dauerwellen und son Zeug und dafür hat sie Geld bekommen, als Model oder so.

 

Aber er hat sich keine neue Arbeit gesucht, ist immer nur rumgehangen und sie haben dann immer weniger gehabt. Am Anfang war es egal, die Liebe braucht nicht viel. Aber dann hat sie es gemerkt. "So geht das nicht!", hat sie gesagt, und in der nächsten Woche hat sie ihn verlassen. Die Woche drauf haben sie ihn dann gefunden, er..."

Der Andere bedeutet ihm mit einem Wink, zu schweigen. Jetzt erst bemerkt Dieser Milli, die im Schatten des Türrahmens versteckt ist. Ihre Tränen glitzern in der Dunkelheit. Er lehnt sich ein wenig vor, um sie besser sehen zu können. Da erkennt er sie wieder.

"Ach du Sch...!", murmelt er, und schlägt sich die Hand auf den Mund.

Nun weiß Milli, dass ihre Mama sie belogen hat. Ihr Vater ist nicht nach Australien ausgewandert...

Und die Wolken hatten sie auch belogen.

 

Dies war nicht ihr Glücks- , sondern ihr Unglückstag!

Der Mann will ihr die Marke zurück geben, aber sie schüttelt den Kopf, stößt seine Hand zurück. "Sie gehört Dir!", schluchzt Milli.

Die beiden Männer schämen sich auf einmal. Schämen sich für den Vater, der sein Kind verlassen hat, für ihre Unvorsichtigkeit, ihre Hilflosigkeit. Nun sind nicht mehr sie diejenigen, die die Kinder zurechtweisen, weil diese etwas angestellt haben. Nun sind es die Kinder, die Ihnen etwas zeigen: Die Wunden ihrer männlichen Schwächen, hinter großspurigem Auftreten verborgen. Ein Urteil über Jemand zu fällen ist leicht, aber ist es nicht immer ein Urteil über sich selbst?

Helfen ist schon schwieriger.

 

Sie ringen nach Worten.

Tom ist zu Milli gegangen, die im Türrahmen zusammengesunken ist, und nimmt sie in den Arm.

 

In der nun entstandenen vollkommenen Stille hört man Millis Tränen tropfen. Im Haus nebenan wird ein Radio eingeschaltet. Irgendein Schlager dudelt durch den Äther: "Lass mich nur noch einmal, einmal bei Dir sein...!"

 

"Wir müssen jetzt heim!", sagt Tom. "Dürfen wir jetzt gehen?"

"Ja ja!", der Mann erhebt sich mühsam, als wäre er in den letzten Minuten steinalt geworden. "Wartet, ich gehe mit, die Treppe ist gefährlich!"

 

Warum? - so fragt er sich - gibt es keine Schilder: "Betreten für Erwachsene verboten, denn die Kinder haften für ihre Eltern!" - an den Stellen, wo es nötig wäre.

Dort, wo wir Erwachsenen, denen die Kinder so blind vertrauen, in Gefahr laufen am Wesentlichen vorbei zu gehen und in die Abgründe der Seele zu fallen.

Oder haben wir die Schilder in unserer Selbstsucht und Ãœberheblichkeit nur nicht bemerkt?

Ohne es zu merken, völlig in seinen inneren Dialog versunken, begleitet der Mann die Kinder den ganzen Weg nach Hause.

Nun stehen sie vor dem großen Block, in dem die beiden Kinder wohnen.

 

Er zögert, die Klingel zu drücken. Irgend etwas ist noch nicht vollständig, hält ihn zurück, lässt ihn nicht gehen.

Milli und Tom sehen zu ihm auf. Unausgesprochene Fragen liegen in ihren Blicken.

"Ich wohne nicht hier in der Gegend", sagt er leise, "aber ich habe einen Schrebergarten ganz in der Nähe. Dahin dürft ihr kommen, wann immer ihr wollt!"

Tom kennt die Gartenanlage gut. Sie dürfen nicht in die Gärten, aber sie sehen sich immer gerne alles von außen an. "Welcher ist es?", will er wissen.

"Der mit dem Kirschbaum!", sagt der Mann, "da gibt es nur einen..."

 

Er beugt sich zu Milli herunter und gibt ihr einen kleinen verschnörkelten Schlüssel. "Das ist für die Briefmarke!", flüstert er, "leider habe ich nichts, was so wertvoll ist wie sie. Aber etwas Wertvolleres besitze ich leider nicht!"

 

Milli versteht. Sie ist noch ein Kind. Auch, wenn etwas in ihr drin heute Abend erwachsen geworden ist. Sie versteht mit der großartigen Begabung der Kinder, Dinge zu erfassen, die uns Erwachsenen fremd geworden sind:

Nun hat sich der große Mann ganz klein gemacht für Milli. Und gerade dadurch ist er richtig groß geworden. Er ist so groß, dass die ganze Milli in seinem Herzen Platz hat. Und Milli nimmt sein Herz an. Auch wenn es rostig und verbogen ist, wie der Schlüssel zum geheimen Garten, abgenutzt durch die vielen Jahre des Lebens.

 

Morgen wird sie Mama fragen, wo das Grab ihres Vaters liegt, ihm Blumen bringen und von dem Schlüssel erzählen, und von den Wolken.

 

Vielleicht hat er sie ja geschrieben, von dort droben, um ihr einen Wink zu geben, sie um Verzeihung zu bitten, dass er sie allein gelassen hatte?

 

"Dummer, dummer Bertolino...", murmelte sie. "Jetzt brauchen die Engel nicht mehr zu weinen!" Denn die Oma hat gesagt: "Wenn es regnet, weinen die Engel um die Menschen, die vom rechten Weg abgekommen sind!" Und Mama hat gesagt, dass Papa auf den falschen Weg gekommen ist. Und deswegen hat es wohl so viel geregnet im letzten Jahr!

 

Der Mann redet jetzt auch mit Tom: "Im Häuschen, oben über dem Tisch, im Schränkchen links, ist meine Briefmarkensammlung. Du kannst gerne tauschen, Du kennst Dich ja aus. Die Marken, die Du heute getauscht hast, musst Du aber zurück geben, weil sie anderen Leuten gehören!"

Tom nickt und hat rote Ohren. Der Mann legt ihm die Hand auf die Schulter. Zuerst klingelt er bei Millis Mama im Erdgeschoß. Eine verhärmt aussehende Frau öffnet ihnen. Ihre Stimme klingt scharf und trocken, dabei seltsam leer. "Gott sei Dank, da ist sie ja! Hat sie irgend etwas angestellt?"   "Nein, die Kinder haben sich beim Spielen verlaufen. Ich habe sie nur gefunden und nach Hause gebracht. Ich hoffe, Sie haben sich nicht all zu viel Sorgen gemacht!"

Sie will zum Schimpfen ansetzen: "Milli, wie oft..."

 

Da sagt Milli: "Mama, ich will Dir alles sagen!"

Die Frau bleibt mitten im Satz stecken.

Ihr Mund bleibt offen stehen, wie ein O.

Irgend etwas in ihrer Starre löst sich, sie sinkt vor Mlli auf die Knie und nimmt ihre Hände. "Milli...Du sprichst ja!"

"Ich bin so müde, kannst Du mich ins Bett bringen?"

Die Frau ist sprachlos, drückt Milli an sich. Dann blickt sie auf, zu dem Mann, der mit Tom vor der Tür steht und verlegen zu Boden schaut. Sie hat vor Glück ganz feuchte, schimmernde Augen bekommen.

"Ein Jahr lang hat sie kein Wort mehr gesprochen!", erklärt sie. Und sie merkt, dass der Mann ihr eine tiefere Wahrheit mitgeteilt hat, als er sagte: "Ich habe sie nach Hause gebracht!"

 

"Ich danke Ihnen!", flüstert sie heiser, "was bin ich Ihnen schuldig?"

Der Mann hebt abwehrend die Hände: "Keine Ursache, hab ich gern getan - wenn sie mich bitte entschuldigen, ich möchte noch ihren Freund heim bringen!"

Sachte schließt sich die Tür. Oben bei Tom ist niemand zu Hause. Aber er hat einen Wohnungsschlüssel. Der Mann lüftet sein Käppi. "Man sieht sich!", sagt er zum Abschied. Tom salutiert. "Aye aye, Käptn!", antwortet er, und zum ersten Mal sieht der Mann ihn lächeln.

Draussen auf der Straße merkt der Mann erst, wie spät es geworden ist. Morgen früh muss er wieder auf den Bau. Nicht mehr lange, dann wird er in Rente gehen. Wofür hat er gearbeitet? Seine Kinder sind groß, er sieht sie nur noch selten. Viele Fehler hat er gemacht, wenig Zeit gehabt, die Jahre sind so schnell vergangen.

 

Wenn er jetzt endlich die Muse hat, länger in seinem Garten zu sitzen, kann es sein, dass er das Glück hat, dass ihn hin und wieder zwei Kinder besuchen und unter seinem Kirschbaum spielen.

Zwei Kinder, die die Sprache der Wolken lesen können, der Sonne und des Herzens.

Für die Briefmarke wird er ein neues Buch kaufen. In die alten Alben passt sie nicht hinein.

Sie verdient ein eigenes Buch, ganz für sich allein. Er beschließt, eine Geschichte zu schreiben, in das Buch hinein, später wenn er viel Zeit hat. "Bartolino, oder die Sprache der Wolken", soll sie heißen.

Und jetzt schämt er sich nicht mehr. Er tanzt nur ein wenig um die Straßenlaternen, so dass die Leute denken, er sei besoffen.

Doch das macht ihm nichts aus.

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Hörbuch

Über den Autor

Iriana
Mein Leben ist bisher von ständigem Wandel geprägt gewesen. Ich habe in der biologischen Landwirtschaft gearbeitet, in einer Schreinerei, habe die Berufsausbildungen zur Medizinisch-Technischen Laboratoriumsassistentin abgeschlossen und auch zur staatl. dipl. Erzieherin. Ich habe über dreissigmal den Wohnort gewechselt, die längste Zeit habe ich dabei in Bayern verbracht. Zweimal war ich verheiratet und habe drei erwachsene Kinder. Daneben hatte ich immer auch künstlerische Ambitionen: Musik, Malen, Schreiben, Theater spielen. Ich bin ein naturverbundener Mensch und lebe gern sehr einfach mit und in der Natur.
Seit 2008 lebe ich in Leipzig, habe mich von einer langen chronischen Krankheit kuriert und bin Anfang dieses Jahres (2017) nun in Rente gegangen. Die letzten Jahre habe ich eine Schreibpause eingelegt, zumindest auf dieser Plattform hier, aber nun bin ich wieder da.
Zeit für ein neues Spiel... Mal sehen was mir so einfällt...

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UteSchuster Re: Re: Wow, -
Zitat: (Original von Iriana am 13.04.2010 - 14:53 Uhr) Das ist wahr, deshalb wird vieles von meinen Texten entweder von Kindern handeln, oder vom inneren Kind im Erwachsenen, oder für Kinder geschrieben sein.
Danke für Deinen lieben Kommentar. (es ist eine Lieblingsgeschichte von mir, die ich ursprünglich geträumt und dann aufgeschrieben habe.) Gestern wunderte ich mich, dass sie so zögerlich anlief und keine Bewertungen bekam, da ich sie jetzt im Vergleich nicht schlechter fand, als "Die Raupen und der Schmetterling. Vielleicht ist sie zu lang für den schnellen Leser. Merke ja, wie ich jetzt so im Anfangsrausch vieles nur überfliege. So, Bremse rein und Schluß

Ganz liebe Grüße,

Maria



Ja ich gebe dir recht, sie ist ein bissel lang. Aber wenn man sich erst einmal eingelesen hat, macht man weiter. Ich weiß es aber von mir, dass ich oft durchblättere und dann denk oje wie lang, mach ich morgen.Ja und morgen hab ich es vergessen.

Ganz liebe Grüße deine ute
Vor langer Zeit - Antworten
Iriana Re: Wow, - Das ist wahr, deshalb wird vieles von meinen Texten entweder von Kindern handeln, oder vom inneren Kind im Erwachsenen, oder für Kinder geschrieben sein.
Danke für Deinen lieben Kommentar. (es ist eine Lieblingsgeschichte von mir, die ich ursprünglich geträumt und dann aufgeschrieben habe.) Gestern wunderte ich mich, dass sie so zögerlich anlief und keine Bewertungen bekam, da ich sie jetzt im Vergleich nicht schlechter fand, als "Die Raupen und der Schmetterling. Vielleicht ist sie zu lang für den schnellen Leser. Merke ja, wie ich jetzt so im Anfangsrausch vieles nur überfliege. So, Bremse rein und Schluß

Ganz liebe Grüße,

Maria
Vor langer Zeit - Antworten
UteSchuster Wow, - was für eine schöne Geschichte.
Kinder können so viel Glück schenken, weil sie einfach noch unschuldige Kinder sind.

Ganz liebe Grüße Ute

Vor langer Zeit - Antworten
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