Beschreibung
Dazu lässt sich ganz gut Herbert Grönemeyers »Mensch« anhören. Für mich trägt das Lied die Stimmung, die ich meiner Geschichte anhaften lassen wollte - auch wenn beides thematisch unterschiedliche Richtungen einschlägt.
(Cover: © sigrid rossmann / PIXELIO; www.pixelio.de)
Seine Füße, von feinem Zuckersand und brüchiger Hoffnung kalkweiß geworden, bahnten sich ihren Weg durch das sperrige Vorland zum Stand. Er rannte nicht, lief nicht, schritt nicht. Er schlurfte, als hätte er tausende und abertausende Meilen weit eine durstfördernde Wüste durchkämmt. In der Hoffnung, sie wiederzufinden. Sie, die ihre Fußspuren im Sand hinterlassen hatte. Und in seinem Herzen. Spuren, die einfach keine Form annehmen wollten. Ihnen folgte er nun, hoffend und darbend zugleich, ahnend, sie nicht mehr erreichen zu können. Was war in ihr vorgegangen? War sie geflohen? Vor ihm? Und über allen Fragen prangte das große »Warum«.
Dabei war doch alles so schön gewesen: Er, zusammen mit ihr, unweit vom schönen Strand des Lebens, auf sonnengewärmten Stühlen sitzend, der Tisch, weiß wie eine Taube zwischen ihnen, sie verbindend. Und es hatte Blicke gegeben. Blicke, geschaffen, einander zu treffen, sich danach sehnend, auseinander trinken zu dürfen. Oder etwa nicht? »Ich komme gleich wieder«, hatte sie so abrupt gesagt und war gegangen. Zurückgekommen war sie nicht, als hätte sie sich entschieden, Zigaretten kaufen zu gehen, den klassischen Weg einzuschlagen: weg von ihm, hinaus aus seinem Leben, hinfortgefegt aus seiner Welt. Wo war sie nur hingegangen? Hatte sie je vorgehabt, wiederzukommen? Und wieder stand über allem ehrfurchtsvoll das »Warum«.
Er stöhnte hinter spröden Lippen, war erschöpft. Das Fleisch war schwach, der Geist war es auch. Doch das Herz, ja, das Herz war sein kraftvoller Motor. Kilometer um Kilometer musste er doch inzwischen nach ihr gefahndet haben. Ihren Fußspuren im unbändigen Sand folgend. Diesen Spuren, die auf diesem Boden einfach keine Form annehmen wollten.
Doch er würde sie finden, musste sie finden. Und sei es nur, um ihr die finalen Fragen zu stellen, ihr das große »Warum« zuzuspielen. Dabei hatte er sie doch gekannt. Hatte geglaubt, sie zu kennen. Ihrem Blick hatte er schließlich das Leuchten angesehen, oder etwa nicht? Suchten auch leuchtende Augen etwa manchmal die Ferne? Weitere bohrende Fragen unter dem Dach des »Warum«. Er würde sie ihr alle stellen, würde die Antwort schon finden.
Vielleicht hinter der Düne, vielleicht hinter der nächsten. Der übernächsten. Und spätestens am Meer gab es kein Entrinnen mehr. Schweiß lief ihm übers Gesicht. Oder waren es Tränen? Er wusste es nicht, hatten Fragen und Desillusionierung doch die Trauer vertrieben. Im Wirrwarr seines Verstandes schien nur dieser eine gerade Gang zu existieren, der türenlos unabänderlich zu ihr führen musste. Er hatte sie doch geliebt, sich nach ihrer Umarmung gesehnt, nach ihrem Kuss. Er hatte all das auch in ihr erkannt. Zu erkennen geglaubt. Und jetzt das! »Ich komme gleich wieder.«
Seine zitternden Beine überquerten eine weitere Düne, als der kühle Meerwind ihn peitschend erwischte, ihn ins Straucheln brachte, ihn ins Leben holte. Für einen winzigen Moment schloss er die brennenden Augen, sog die frische Luft in seine Lungen. Nur kurz wollte er die Leichtigkeit der Welt genießen und spürte doch augenblicklich den tiefen Schmerz seines Verlustes. Nun wusste er, dass es eine Träne war, die gerade seine stoppelige Wange hinabkullerte, in den Sand fiel und erstarb, als hätte sie niemals existiert.
Die Schönheit abrupt unterbrechend, öffnete er die Augen wieder und wischte sogleich das Tränenwasser hinfort. Er senkte seinen Blick auf den Boden vor sich und glaubte noch immer, ihre Spuren zu erkennen. Diese Spuren, die keine Form annehmen wollten. »Ich komme gleich wieder«, hatte sie gesagt, um niemals wieder zurückzukehren. Vielleicht hatte sie niemals vorgehabt, zu bleiben? Ja, vielleicht war er ihr immer schon egal gewesen? Sie war Teil seines Plans zum Glück gewesen, doch war er etwa auf ihrem nicht verzeichnet gewesen? Weitere Fragmente des allumfassenden »Warum« türmten sich zu bitter anmutenden Bergen auf, die geradezu drohten, ihn unter ihren endlosen Lawinen zu begraben.
Sehnsüchtig starrte er in die Ferne. Nun endlich breitete sich das Meer vor ihm aus, bot sich ihm wartend dar. Hier würde sein Weg enden, hier musste sie doch sein. Sein Herz begann, heftig zu schlagen, lechzte nach den Antworten, die es zum Leben brauchte. Jetzt rannte er, lief die letzte Düne hinab. Ungelenk arbeiteten seine schwer gewordenen Beine sich über den Strand, dessen weicher Boden unter den trampelnden Füßen nachgab, immer und immer voran, hinab zum großen Wasser. Hier musste sie zu finden sein. Und sie würde ihm Antworten geben, gute oder schlechte, ihn herzlich in Empfang nehmen oder ihn von sich weisen. Doch antworten musste sie. Wie sollte sein einsam schlagendes Herz ohne eine Antwort auf das bedeutungsschwangere »Warum« existieren können?
Die hektischen Schritte wurden langsamer, dann stoppte er, als das kalte Wasser bereits seine bleichen Füße umspielte. Seine Augen folgten noch einmal dem Pfad der Spuren, die sie auf ihrem Fortgang hinterlassen hatte. Den Spuren, die nun ins Meer führten. Spuren, die noch immer keine Form annehmen wollten. Waren dies vielleicht sogar Spuren, die niemals da gewesen waren? Seine Lippen bebten, während er die Augen schloss, um der Tränenflut durch zusammengepresste Lider ihren verdienten Lauf zu lassen.
»Ich komme gleich wieder«, hatte sie gesagt und war gegangen. Hinaus in die Weite, hinaus aufs Meer also. Hatte sie nach der großen Freiheit gesucht und sie hier gefunden? Eine Freiheit, dessen Teil er nicht sein konnte? Nicht sein sollte? Das Rauschen des Meeres drang so schmerzlich wie endgültig an sein Ohr, gab jedoch keine Antwort. Auf keine der Fragen und schon gar nicht auf das »Warum«.
Durch die Nase ließ er nun die frische Meeresluft in seinen geschwächten Körper fluten, ließ sie durch zaghaft geöffnete Tore in sein Bewusstsein hinein. Er zählte leise bis drei und öffnete die Augen. Vor ihm Wasser, so weit das Auge reichte, am Horizont mit einem wolkenbehangenen Himmel vernäht. So viel Wasser, so viele Geheimnisse, so salzig wie seine Tränen. Ob das Meer ihm in all seiner Unendlichkeit letztlich doch Antworten geben würde? Wenn er schon einmal hier war, dachte er, könnte er auch hinausschwimmen. Er würde sie nicht finden (»Ich komme gleich wieder.«), doch wenn das Salz der Trauer auf das Salz des Lebens traf, vielleicht würde es dann eine Antwort geben, eine finale, eine Begründung, mit der er leben konnte, über die sein Herz weiterhin zu schlagen bereit sein würde.
Entkleidet stürzte er sich in die Fluten. Der Wind stand gut, spielte ihm Wellen entgegen, die ihn weiter und weiter hinaus lockten. Salzwasser drang in seinen Mund. Es schmeckte nicht, doch schmeckte es immerhin nach Leben.
Auch die höher wogenden Wellen, die über seinem Kopf zusammenbrachen, ihn in ihre ewig nasse Obhut nahmen, konnten ihn nicht aufhalten. Immer wieder schwappte das salzige Wasser in seinen Mund, ließ ihn husten, trug jedoch zugleich seine Tränen für immer hinfort.
Und war es nun die Kälte des Wassers, war es der peitschende Wind, oder war es das Tränen- und Lebenssalz des Meeres, das ihn endgültig erkennen ließ, dass er die große Antwort längst gefunden hatte? Es gab nicht immer Antworten, selbst auf so einfache Sätze wie »Ich komme gleich wieder«. So funktionierte die Welt nicht, so funktionierte das Leben nicht und die Liebe schon gar nicht. Ja, er war den falschen Spuren gefolgt, den Spuren, die keine Form annehmen wollten, weil sie nie eine besessen hatten. Manchmal, so erkannte er nun, hektisch schwimmend im ungestümen Meer, war das große »Warum« Frage und Antwort zugleich. Und suchte man dennoch nach einer vollkommenen Antwort, so konnte es eben passieren, dass aus der Frage selbst ein Meer wurde, ein Meer mit gefährlichem Wellengang. Ja, endlich hatte er verstanden, hatte seine Antwort inmitten des Meeres gefunden. Und ja, es war zu spät, doch er lächelte wissend. Und ertrank.