Freiheit
Tamaril verstummte.
Wie hatte er das nur alles vergessen können? Wieviele Jahre waren vergangen, wieviele Generationen waren gekommen und gegangen, während er langsam vergaß, was er gewesen war?
In seinem Kopf verschwammen wiederaufgetauchte Bilder mit dem Geschehen der Gegenwart zu einem unerträglichen Tosen, doch eines blieb konstant: Die grauen Augen des Mannes, der alles zerstört hatte. Der den Prinzen von Illian dazu gebracht hatte, das Einhorn zu töten und die Mencun zum Untergang verdammt hatte. Der seinen eigenen Herrn verraten und ermordet hatte und ganz Illian in einen furchtbaren Krieg geführt hatte, der es auf ewig spalten sollte. Der den Falamar in vielen Schlachten elend zugesetzt hatte und sich die Zuneigung des Mädchens erschlichen hatte, das Tamaril gehören hätte sollen.
Es war ihm gleich ob der Name dieses Mannes Cayoun oder Jorcan sein mochte, seine Augen verrieten, dass er letztlich ein und derselbe war.
Er würde seinen Lohn bekommen für das Leid das er angerichtet hatte, früher oder später. Tamaril wusste, dass ein Frontalangriff alles nur schlimmer machen würde, das hatte ihn das Desaster mit dem Skorpion gelehrt. Doch bevor er seine Rache nehmen konnte, musste er dafür sorgen, dass Ayala endlich erkannte, wer das Monster an ihrer Seite war. Sie hatte bereits für ihre Verblendung mit einem Arm bezahlt. Auch dafür würde er den Grauäugigen zur Rechenschaft ziehen.
Aber so schwer es ihm auch fiel, er musste Geduld haben und auf die passende Gelegenheit warten, dann würde er seinen Todfeind zur Strecke bringen.
Tamaril trat zurück zu seinem Pult und griff wieder nach der Feder.
****
Ayala hielt die Knie umklammert und presste ihr Gesicht auf den Arm. Während die seltsame Stimme die Geschichte über den beginnenden Krieg und den Tod des Einhorns erzählte, war sie langsam in sich zusammengesunken und hatte den Kopf nicht wieder gehoben.
In der plötzliche Stille nachdem die letzten Worte verhallt waren, klang ihr Atmen unnatürlich laut.
Warum weinte sie nicht? Ihr war so danach, doch auf unerklärliche Weise fehlte ihr einfach die Kraft. Ein schrecklicher Kloß in ihrer Magengrube ließ sie sich schwindelig fühlen. Sie krallte die Finger ihrer Hand noch stärker in ihr Knie und seltsamerweise tat das gut.
Ein Rascheln ließ sie zusammenfahren und aufsehen. Jorcan hatte sich ohne ein Wort in Bewegung gesetzt und schritt den Gang entlang, fort von ihr und dem Einhornwald. Es dauerte einen Moment, bevor sie sich bewusst wurde, dass sie ohne ihn an diesem Ort gefangen sein würde und diese Erkenntnis ließ sie panisch aufspringen und ihm nacheilen.
Sie erreichte die Tür zur Versammlungshalle gerade bevor diese begann sich zu schließen und huschte hindurch. Jorcan hatte seinen Schritt noch mehr beschleunigt und lief durch die Halle, ohne nach rechts oder links zu sehen und Ayala tat es ihm gleich.
Vor dem Tor hielt er kurz inne, dann lief er geradeaus weiter, eine Straße entlang die etwas breiter schien als die anderen Wege und die doch nur in nackter Felswand endete. Doch kaum dass er bis auf wenige Schritte an die Wand herangekommen war, ging ein Ruck hindurch und mit kaum hörbarem Kratzen von Stein auf Stein schwangen zwei Torflügel auf.
Jorcan wurde langsamer und blieb dann kurz hinter dem gewaltigen Tor stehen. Ayala trat zu ihm hinaus und schmeckte herrliche Nachtluft, klar und sauber wie nach einem großen Regen.
Der Berg hatte sie freigegeben.
Ayala hätte laut jubeln können, doch die Traurigkeit der Stadt der Mencun lag noch auf ihr wie ein schweres Tuch und dämpfte ihre Freude zu einem Lächeln. Doch als sie Jorcan ansah, wurden ihre Züge wieder ernst. Seine Fäuste waren geballt und er wirkte, als bebe er innerlich vor Zorn. „Was für ein Narr ich bin!“, zischte er.
Das Mädchen wollte zu einer Frage ansetzen, schwieg dann aber.
„Ich hätte nur richtig suchen müssen! Die ganze Stadt habe ich erkundet, alle Häuser nach einer Karte, nach irgendeinem Hinweis durchsucht! Und wofür? All die Wochen, verlorene Zeit für nichts und wieder nichts!“
„Es sah doch wie eine Sackgasse aus.“
Er starrte sie an, als habe sie den Verstand verloren, dann wandte er sich ohne eine Antwort kopfschüttelnd wieder ab. In gewisser Weise konnte sie seine Frustration verstehen, doch wünschte sie sich nichts sehnlicher als ein Ende der brodelnden Wut, die immer in ihm zu toben schien.
Sie legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den Sternenhimmel über sich. Die Dunkelheit um sie herum ließ die Sterne besonders hell funkeln, wie glitzernde Edelsteine von unterschiedlicher Größe und Schleier von zartem Silber oder Blau zwischen und hinter ihnen. Sie hatten schon über dieser Welt geleuchtet, als Falamar und Shakarie noch ein Volk gewesen waren und würden es noch tun, lange nachdem dieser Krieg in Vergessenheit geraten war. Dieser Gedanke ließ sie in die Gegenwart zurückkehren, doch als sie Jorcan ansprechen wollte, sah sie, dass auch er des Nachthimmels gewahr geworden war.
Ayala näherte sich ihm und er schien ihre Bewegung zu spüren und flüsterte tonlos: „Was ist das?“
Sie blickte wieder nach oben, konnte aber nichts ungewöhnliches entdecken. „Was meinst du?“
„Diese Lichtflecken...“ er verstummte wieder.
Ayala starrte ihn fassungslos an. „Willst du mir weismachen, dass du noch nie Sterne gesehen hast?“
Er schwieg einen Moment, dann antwortete er leise: „Da waren immer Wolken. Trübes Grau bei Tag und Dunkelheit bei Nacht. Aber so etwas wie das hier habe ich noch nie gesehen.“
Sie wusste darauf keine Antwort, fühlte nur kaltes Entsetzen bei dem Gedanken an das Leben, das er gelebt hatte, und erkannte doch, dass ihre Vorstellungskraft nur an der Oberfläche von dem kratzte, was seine Wirklichkeit gewesen war. Und auf einmal konnte sie wieder weinen.
Ein kalter Wind strich über die Tränen auf ihrem Gesicht und in hilfloser Frustration bemerkte sie wie sich dunkle Wolken vor die Sterne schoben, dann spürte sie die ersten Regentropfen, die bald zu einem gewaltigen Wolkenbruch anschwollen, und sah wie sich Jorcan wortlos umwandte und wieder in die Stadt der Mencun hineinging. Sie folgte ihm und für einen Moment schien ihr als sei das Wasser, das seine Maske durchnässt hatte, nicht nur der Regen gewesen.
Er schlug beinahe automatisch den Weg zu einem der Häuser nahe dem, in dem Ayala ihr Krankenlager gehabt hatte, ein und sie vermutete, dass er die letzten Wochen dort gelebt hatte. Sie sah ihm nach, doch ehe sie sich versah, hatte sie ihre Tränen fortgewischt, sich in Bewegung gesetzt und zu ihm aufgeholt. Ohne recht darüber nachzudenken, packte sie sein Handgelenk und brachte ihn zum Stehen.
Er warf ihr einen wütenden Blick zu, doch ehe sie weit genug über ihr Tun nachdenken konnte, um sich vor ihm zu fürchten, übernahm ihr eigener Ärger die Kontrolle.
„Was soll das? Wir haben gerade Dinge gehört, die... die einfach alles ändern. Aber du läufst einfach weg! Was soll denn nun geschehen?“
Jorcans Augen blitzten. Alle Traurigkeit war daraus verschwunden und hatte nur Wut hinterlassen. „Nichts hat sich geändert, Falamar!“, zischte er. „Ihr seid nach wie vor ein Volk von Parasiten, das im Wohlstand lebt, während wir im Schlamm ertrinken. Das einzige, was ich jetzt weiß, ist dass es keine Hoffnung für mein Volk gibt. Und dein entsetzliches, naives Getue hilft mir kaum dabei, mich damit abzufinden.“
Mit einer schnellen Bewegung riss er seine Hand los und machte seinerseits einen drohenden Schritt auf sie zu, doch dieses Mal wich sie nicht zurück. „Dann finde dich nicht damit ab!“
„Was soll das heißen? Du hast die Geschichte doch auch gehört. Wir leben nicht nur in einem Sumpf, weil wir zufällig das falsche Territorium gewählt haben. Der Sumpf wird uns folgen, wohin wir auch gehen. Selbst wenn wir es schaffen, den gesamten Süden zu erobern, wird das nichts ändern. Wir werden weniger und weniger werden und uns trotzdem nicht ernähren können.“
„Dann müssen wir den Fluch brechen.“
Er erstarrte. „Das ist unmöglich.“
„Woher weißt du das?“
„Woher weißt du, dass es möglich ist?“
Sie zögerte einen Moment. „Das weiß ich nicht“, sagte sie leise. „Aber einfach aufzugeben und zuzusehen, wie dein Volk untergeht und dabei meines mitreißt... Das kann ich nicht.“
„Du klammerst dich doch nur an eine falsche Hoffnung.“
„Vielleicht. Aber vielleicht ist sie nicht falsch.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Was haben wir denn zu verlieren?“
Er schnaubte. „Das hängt davon ab, was du vorhast.“
Ayala senkte den Kopf. Sie hatte keinen Plan, hatte ja kaum Zeit gehabt, das zu verdauen, was sie erfahren hatten. Sie hatte nur ein dummes Gefühl, für das Jorcan wahrscheinlich kein Verständnis haben würde. „Der Fluch wurde hervorgerufen, weil Shakar das Einhorn der Mencun getötet hat, richtig?“, murmelte sie und blickte gar nicht erst auf um zu sehen ob Jorcan nickte. „Wie wäre es denn wenn sich die Shakarie bei den Mencun entschuldigen würden?“
Sie hatte mit Wut gerechnet, mit vernichtenden Worten oder sogar Schlägen, doch statt dessen erklang nach einem Moment der Stille schrilles, lautes Gelächter. Jorcan lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf. „Was für eine Lösung! Und so einfach! Das einzige Problem ist: Die Mencun sind tot! Wie willst du dich denn bei denen entschuldigen?“
„Alle?“, fragte Ayala leise. „Was ist mit--“
Jorcan schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. Plötzlich war er wieder toternst. „Sprich nicht weiter, Falamar. Nicht hier, nicht jetzt.“
Damit drehte er sich um und ging davon. Ayala sah ihm fassungslos und frustriert nach, doch dieses Mal ließ sie ihn gehen. Nach einer Weile seufzte sie resigniert und ging zu dem Haus, in dem sie die letzten Wochen gelebt hatte und ließ sich dort auf ihr Lager nieder. Doch dauerte es trotz ihrer Erschöpfung noch eine Weile bis sie in den Schlaf finden konnte.
*****
Auch Jorcan lag in dieser Nacht wach. Er hatte sofort begriffen, von wem das Mädchen gesprochen hatte. Auch er hatte die Verbindung zwischen der Stimme, die ihnen die Geschichte erzählt hatte und dem Prinzen, der in eben diesem unterirdischen Einhornwald eingeschlossen war, gezogen. Aber er wollte nicht von ihm sprechen. Ganz besonders nicht in dieser Stadt, wo die Macht der Mencun und damit die Macht des Einhorns am größten gewesen war.
Er griff nach dem Amulett um seinen Hals strich über den Splitter in Form eines Dolchs und dachte daran wie sein Vater ihm dieses Familienerbstück gegeben hatte. Ja, was er alles von dieser Familie geerbt hatte. Einen Thron und einen Fluch.
Aber was wäre er bereit zu opfern um diesen Fluch zu brechen? All seine Pläne, sogar seinen Thron? Sein Leben?
Jorcan biss sich auf die Lippen. Eine zweifelhafte Chance mit dem Risiko alles zu verlieren, zum Gespött seines Volkes zu werden, verstoßen oder hingerichtet, auf der einen Seite und auf der anderen Seite ein Leben im Dreck – er war nicht gerade erfreut über die Auswahl, die sich ihm bot. Und doch hatte die Falamar mit einem Recht gehabt: Er durfte nicht einfach aufgeben, nicht einfach hinnehmen, was man ihm angetan hatte.
Sicher, ihre Idee war recht einfältig, aber sie mochte einen Kern haben, der ihn weiterbrachte. Wenn es eine Lösung gab, dann lag sie warhscheinlich dort, wo sich die Macht des Einhorns konzentriert hatte: in seinem Wald. Doch der Weg dorthin öffnete sich nicht mit dem Splitter, der sie in die Vorratskammern gelassen und sie das Osget passieren lassen hatte. Dann brauchte er das eigentliche Horn, das Shakar vom Einhorn abgetrennt hatte. Wenn er es schaffte dieses zurückzubringen, fand er vielleicht einen Weg die Macht des Einhorns über sein Volk zu brechen.
Aber wie sollte er das seinem Vater klarmachen? Wie ihn dazu bringen das Horn herauszugeben oder selbst die Reise anzutreten? Jorcan seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Augen.
Es lag bestimmt an den verfluchten Sternen, dass er so unentschlossen war. Nie hatte er sich so klein gefühlt wie in dem Moment, als er dort draußen in den Himmel sah und diese uralten Lichter seinen Blick erwiderten. Und gleichzeitig war da eine Sehnsucht, die ihn fast in den Wahnsinn trieb, als die Wolken seines Fluchs kamen und ihm alles wieder nahmen. Er ballte eine Faust. Sie hatte recht. Er würde das nicht einfach hinnehmen.
Selbst wenn es ihn umbrachte.
****
Ayala wachte auf und erblickte zwei in graue, geschmeidige Stiefel gekleidete Füße direkt vor ihrer Nase. Sie setzte sich auf und verfluchte sich innerlich dafür, dass sie keinen leichteren Schlaf hatte und ihn dafür, dass er so leise schleichen konnte.
Schlaftrunken wischte sie sich das Haar aus dem Gesicht und versuchte die losen Strähnen wieder in ihrem Zopf zu befestigen.
„Du bist frei.“
Ayala blinzelte noch einmal und versuchte sicherzugehen, dass sie wirklich wach war. „Was?“, krächzte sie.
„Du kannst gehen, wohin du willst. Du bist frei“, wiederholte er.
Mühsam kam die Falamar auf die Beine. In ihrem Kopf taumelten alle Gedanken durcheinander und wollten sie keine Antwort finden lassen. Schließlich entschied sie sich für ein simples: „Danke.“
Er zog eine Augenbraue hoch, nickte aber nur und wandte sich zum Gehen.
„Und was wirst du tun?“
Die Frage ließ ihn innehalten. „Ich werde nach Hause gehen“, sagte er leise.
„Und dann geht alles so weiter wie bisher?“
Er drehte sich wieder zu ihr und betrachtete sie einen Moment schweigend. „Nein“, erwiderte er dann. „Es gibt noch etwas, das ich versuchen will.“ Er sah stumm ins Leere, dann fügte er tonlos hinzu: „Ich glaube, Isha hätte das auch gewollt.“
Ayala konnte sich ein Lächeln kaum verkneifen. „Ich wusste es! Du gibst nicht einfach auf, nicht wahr? Du willst den Fluch brechen!“
Jorcan schien über ihren Enthusiasmus eher verblüfft als verärgert zu sein und sie nahm das als gutes Zeichen auf und machte einen Schritt auf ihn zu. „Aber du weißt doch gar nicht genau, wo wir sind“, überlegte sie laut. „Was machst du, wenn es noch weit bis zur Grenze ist?“
Seine Augen wurden etwas schmaler. „Mach dir nur keine Sorgen um meine Fähigkeiten, Falamar“, sagte er grollend.
„Ich meine ja nur, dass etwas Hilfe von einem Einheimischen keine schlechte Idee wäre. Außerdem müssen wir, wenn wir das Gebirge verlassen wollen, wahrscheinlich erst einmal in die gleiche Richtung reisen.“
Sein Blick war undeutbar als er mit den Schultern zuckte und auf ihr spärliches Bündel deutete. „Denk nur nicht, ich würde alle deine Sachen tragen. Wir brechen in einer Stunde auf, mach dich bis dahin fertig.“ Er nickte zu einem kleinen Beutel, der neben ihr auf dem Boden lag und anscheinend ihr Frühstück beinhaltete, dann ging er wortlos davon.
Ayala machte es sich so bequem wie sie konnte und begann die Früchte, die er ihr aus dem Einhornwald gebracht hatte, zu essen. Sie konnte es kaum fassen, doch zum ersten Mal seit Jahren, nein zum ersten Mal seit sie denken konnte, stellte sie sich vor, wie die Welt wohl ohne diesen Krieg sein würde.