Die Sonne im Rücken stand er in Mitten der staubigen Straße von Santa Herida und blickte seinem Widersacher finster in die Augen. Nein, erwürde nicht aufgeben, nicht hier und nicht jetzt. Und wenn es ihn das Leben kosten würde. Wie ein Schatten huschten die Erinnerungen über sein kantiges Gesicht und für den Bruchteil eines Augenblickes wurde man der Tatsache gewahr, dass er kaum mehr als ein Junge war. Seine stahlgrauen Augen, die ihm normalerweise zeitlose Härte verliehen, brannten vor Schmerz, Leid und Unverständnis. So schnell er gekommen war, war der Augenblick jedoch auch schon wieder vorüber und M.L. Evans hatte sich wieder in der Gewalt.
Er legte den Kopf schief und formte die Worte „Du wirst diesen Tag nicht überleben, Buckley.“, dann wollte er den Abzug ziehen, doch etwas in ihm hielt ihn zurück, nein, er konnte nicht sterben, bevor er nicht die ganze Wahrheit erfahren hätte was damals am Mellow Creek geschehen war.
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Noch wenige Monate zuvor war Mike ein ganz normaler Junge gewesen, mit neunzehn Jahren der Jüngste von vier Söhnen eines zu gehörigem Reichtum gekommenen Farmers in Nord-West-Texas. Und sie, ja, sie war ihm das erste mal während den Vorbereitungen zum großen Thanks-Giving-Dance aufgefallen. So mickrig es war, so war es doch das größte Ereignis, das die Stadt zu bieten hatte. Die gesamte Einwohnerschaft nahm daran Teil und wenn er sich ein ganzes Jahr an anklagenden Blicken sparen wollte, durfte auch er nicht fehlen, sosehr er gesellschaftliche Ereignisse verabscheute.
„Hey, Reverend! Wo soll ich die Balken für das Gerüst hinbringen, Jones schickt mich seit Stunden im Kreis herum!“
„Ähm, die Balken?“
„Ja, für die Bühne“, Mikes Geduld war einigermaßen ausgereizt, seit drei Stunden konnte ihm nun schon niemand verraten wo die Bühne errichtet werden sollte und wann immer er seine Ladung einfach irgendwo abladen wollte, wurde er sofort mit den Worten verscheucht, dass gerade dieser Ort sehr unpassend wäre.
„Oh, ja, natürlich, ich entschuldige mich, ich bin heute selbst ein wenig zerstreut, die ganze Aufregung wegen der Planung und Organisation und zu all dem Trubel kommt auch noch die Taufe der Henderson Zwillinge, alles dieses Wochenende...“, er seufzte auf und schien sich in Gedanken zu verlieren, als Mike durch ein lautstarkes Räuspern wieder auf sich aufmerksam machte, „..oh, die Bühne, ja, die kommt diesmal...“
Der Schweiß stand ihm auf der Haut und sickerte langsam seinen braungebrannten, muskulösen Rücken hinunter, von der stundenlangen Anspannung fühlten sich seine Arme immer schwerer an, das konnte jedoch nichts an Mikes (positiver Grundeinstellung zum Leben??) seltsam guter Laune ändern. Zugegeben, mit drei Metern war das Gerüst nicht besonders hoch, dennoch konnte er von seiner erhöhten Position aus das rege Treiben und die bewundernden Blicke der Stadtbewohner genauestens beobachten. Ja, das gefiel ihm. Vor allem die Blicke der jungen Mädchen, die er mit Absicht auf sich gelenkt hatte indem er sein Hemd ausgezogen und in einer der hinteren Taschen seiner Hose eingehängt hatte...immerhin wusste er was er zu bieten hatte. Ein gefälliges Grinsen umspielte seine Lippen als er sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn wischte, einen weiteren Nagel zwischen seinen Lippen hervorzog und seine Arbeit fortsetzte.
In Gedanken ritt er einsam durch die Steppe, dem Sonnenuntergang entgegen, entweder auf der Flucht oder auf der Jagd, je nach seiner momentanen Laune. Meistens hatte er ein oder zwei Steckbriefe seiner Selbst in den Satteltaschen und genoss einen höchst zweifelhaften Grad an Bekanntheit im gesamten Westen; gerade sah er sich in eine kleine Stadt einreiten und die Türen entlang der gesamten Hauptstraße bei seinem Anblick zuschlagen. Sein Gesicht war von der Sonne gebräunt und staubig, seine Lippen aufgesprungen und der Hut war ihm tief ins Gesicht gezogen. Sein Drei-Tage-Bart verlangte abrasiert zu werden und sein gesamter Körper schrie nach einem Bad. Die Augen leicht zusammengekniffen blickte er ernsthaft in Richtung Westen wo die Sonne kaum mehr als ein roter Schatten war und nickte zufrieden. Dass kein Geräusch zu vernehmen war bis auf das sanfte Pfeifen des Windes und das dumpfe Geräusch der Hufe seines Pferdes auf der sandigen Straße war keine Überraschung. Er war es gewohnt, dass die Dörfer und Städte in die er zu kommen pflegte meistens blitzartig ihrer Einwohner entbehrten, weil diese sich nicht gemeinsam mit ihm auf offener Straße aufhalten wollten, nein, das wagte kaum einer. Er grinste. Vor dem Saloon angekommen brachte er sein Pferd zum stehen, stieg schwerfällig ab, wobei seine Stiefel sobald sie den Boden berührten ein wenig Staub aufwirbelten, die Sporen sich krächzend drehten und dabei das kaum zu vernehmende, bleiern quietschende Geräusch von rostigem Metall auf Metall erzeugten. Finster dreinblickend spuckte er den Zahnstocher aus, der bis dahin in seinem Mundwinkel gehangen hatte und klopfte sich den gröbsten Staub vom Mantel. Langsam erklomm er die wenigen Stufen zur Gastlichkeit und blieb noch bevor er endgültig eintrat inmitten der Schwingtüren stehen. Durch die Dunkelheit die im Inneren herrschte sahen die Männer, die ihre Tequilas tranken nur eine schwarze Silhouette die vom blutroten Licht der untergehenden Sonne umgeben war.
Mike sah sich kurz um, zog seinen Hut tiefer ins Gesicht, warf dem Barkeeper mit einem vielsagenden (aber was sagt es denn?) Nicken eine Münze zu. Als er sich den Weg bis an die Theke gebahnt hatte stand sein Whisky längst bereit, er lächelte. Kaum hatte er jedoch das Glas angehoben um seiner rauen Kehle ein wenig Flüssigkeit zu gönnen, als er aus den Augenwinkeln wahrnahm wie ein widerwärtiger Mann ein junges Mädchen belästigte.
„Lass sie gehen!“, hörte er seine eigene Stimme durch das verrauchte Zimmer dröhnen. Damit war die Gelegenheit für ihn geregelt und er nahm endlich einen großen Schluck der bernsteinfarbenen Flüssigkeit, als die Klagen des Mädchens immer noch nicht aufhörten und der Schurke ihn gehässig anrief: „Bleib bei deinen Kühen, Junge, wer glaubst du, dass du bist, etwa Mikey the Kid?“
Der Mann lachte spöttisch auf. Das Lachen gefror jedoch augenblicklich auf seinem bärtigen Gesicht, als Mike langsam seinen Kopf in Richtung des Mannes wandte, den bis dahin leicht gesenkten Kopf hob und den Hut einen Fingerbreit zurückschob.
Mit einem Handzeichen einen weiteren Whiskey ordernd blickte er seinem Widersacher finster in die Augen und fragte in die gespannte Stille hinein: „Kennen wir uns etwa?“.
Mit diesen Worten stand er schwerfällig auf und schob seinen Trenchcoat lässig zur Seite um freie Sicht auf seine Waffe zu gewähren. Der Mann stolperte entsetzt einige Schritte zurück, stieß das Mädchen von sich auf Mike zu und floh verängstigt und einige Sessel umstoßend aus dem Saloon. Erst jetzt schenkte Mike dem Mädchen einen gnädigen Blick und meinte verwegen lächelnd: „Keine Angst, der wird dir nichts mehr tun. Whiskey!“
Noch bevor er das letzte Wort vollends ausgesprochen hatte sah er sich schon in leidenschaftlichem Kuss mit der eben Erretteten, die sich mit den Worten “Mein Held!” in seine Arme geworfen hatte.
Mike lächelte, yup, dieser Tagtraum gefiel ihm, zumal das Mädchen keineswegs eine Traumgestalt war, nein, er seufzte, nahm einen weiteren Nagel und wollte gerade den für ihn interessant werdenden Gedanken wiederaufnehmen, als er unsanft in die Realität zurückgeholt wurde.
„Hey, Mike! Mikey, kid bro!”, Mike sah zornig zu seinem Bruder Josh auf, der grinste verschmitzt, er wusste wie sehr Mike es hasste so genannt zu werden, doch immerhin konnte er so dessen Aufmerksamkeit immer gewiss sein.
„Was!?“
„Hot chick auf halb vier.“
Mikes Blick wanderte in die angegebene Richtung und war sogleich gefesselt, um nichts in der Welt, so kam es ihm vor, hätte er sich von diesem Anblick losreißen können, er nahm nicht einmal mehr wahr, dass Josh grinsend den Kopf schüttelte und weiter arbeitend meinte: „Wusst ich’s doch, dass dir das gefällt...“
Zoe-Lynn Grey ging gerade ein Bündel Girlanden tragend am Gerüst vorbei, Mike kam es so vor, als hätte er sie niemals schöner gesehen, ihre langen dunkelblonden Haare fielen ihr in sanften Locken über die Schultern, nur zwei kleine Strähnen hatte sie aus der Stirn zu einem Zopf am Hinterkopf zusammengebunden um zu verhindern, dass ihr ständig Haare ins Gesicht fielen. Sie trug ein beigefarbenes kurzärmeliges Sommerkleid mit zartem Blumenmuster und durch die helle Farbe ihres Gewandes hob sich die braune Haut ihrer Arme und ihres Gesichtes besonders ab. Wie in Zeitlupe nahm Mike jede ihrer Bewegungen wahr, wie sie Leute grüßend grazil mit dem Kopf nickte, wie sich ihre Lippen zu Lächeln formten, als der Reverend ihr etwas zurief, das er von seiner Position aus nicht verstand, oder einfach nur ihre allgemein spürbare gute Laune. Mike wusste wie sehr sie sich auf den Dance freute, die beiden waren schon seit frühester Kindheit die besten Freunde und hatten seit jeher ihre freie Zeit miteinander verbracht. Verwundert fragte sich Mike wie es ihm so lange hatte entgehen können wie schön sie war, wie hatte er ihre wunderschönen blauen Augen nicht bemerken können, oder ihre sanften Lippen? Wäre er von ihrem Anblick nicht so gebannt gewesen, hätte er mit dem Kopf geschüttelt. Die Sonne ließ ihr Haar (das eine wieder mal, pfuiiiii) golden leuchten und Mike seufzte innerlich auf beim Gedanken an den Wunschtraum den er eben noch gehabt hatte; wie unmöglich es war, dass er jemals mehr als ein Freund für sie sein würde, dazu kannten sie sich zu gut. In diesem Moment hob sie den Kopf in seine Richtung und schenkte ihm ein strahlendes, nach ihrer Art ein wenig schalkhaftes Lächeln. Mikes Herz setzte einen Moment aus, doch zwang er sich, sich das nicht anmerken zu lassen, nickte ihr wie beiläufig zu und setzte seine Arbeit fort. Er zwang sich nicht mehr in ihre Richtung zu sehen um nicht unnötigerweise aufzufallen und so stellte er sich vor, wie sie nur wenige Meter unter ihm vorüberging. Gerade war ihm der Vergleich mit einem Engel eingefallen, als ein ratschendes Geräusch und heftiges Gefluche seine Aufmerksamkeit erregte. Als er sich umsah erblickte er Zoe, deren Kleid an einem Tisch hängen geblieben war und die nun lauthals schimpfend versuchte von diesem wieder loszukommen, das gestaltete sich jedoch seltsam schwierig und Zoe, die ihm gerade eben noch wie ein Engel vorgekommen war schnaubte wutentbrannt und schleuderte Ausdrücke um sich, die selbst hartgesottene Westmänner zum erröten gebracht hätten. Sie ließ die Girlanden fallen und zog und zerrte mit beiden Händen an ihrem Kleid um sich zu befreien. Mike konnte nicht anders als lauthals aufzulachen, als sie sich mit Schwung vom Tisch wegdrehte, dabei das Gleichgewicht verlor und mit einem weiteren „Ratsch“ zu Boden fiel. Von ihrer erdnahen Lage aus stierte sie ihn wütend an und ihre Augen loderten giftig, als sie ihm erbost „Oh, shut up, Mike!“ zurief und mit Sicherheit weitergewettert hätte, wäre ihr nicht Steven zu Hilfe gekommen.
Steven, der im gleichen Alter wie Mike und Zoe war, war ebenfalls der Sohn eines Farmers und da Mellow Creek nicht sonderlich groß war, ein guter Freund der beiden, jedoch versuchte er nicht zu verbergen, dass Zoe es ihm ganzschön angetan hatte. Engagiert half er ihr auf die Beine und sammelte mit ihr die auf dem Boden verstreuten Girlanden ein. Dabei fiel ihm auf, dass ihr Kleid einen ziemlich groben Riss davongetragen hatte und ihre Beine bis zum Knie hin freigelegt waren. Kurzerhand beschloss er die unvermutete Gelegenheit zu nutzen, unbeholfen vor ihr kniend reichte er ihr die Girlanden, die er aufgehoben hatte und sorgte dafür, dass sich dabei möglichst ihre Hände berührten, dann meinte er mit fester Stimme: „Du hast wunderschöne Augen!“.
Was er dabei nicht beachtet hatte war, dass es bei einer solchen Aussage zumeist hilfreich war der Person, der das Kompliment galt in die ebenso gelobten zu schauen. Er konnte jedoch nicht anders als mit offenem Mund auf ihre Beine zu starren. Zoe, der das nicht entgangen war, beschloss diesen Fauxpas seinerseits zu ignorieren, bedankte sich bei ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange bevor sie sich abwandte und ihren Weg fortsetzte. Nach wenigen Schritten blieb sie jedoch noch einmal stehen, blickte über ihre Schulter, schüttelte lachend den Kopf und rief: „Schleimer!“, dann ging sie endgültig fort.
Mike hatte das Geschehen missbilligend beobachtet und arbeitete verärgert weiter. Dass Josh ihn dann auch noch einmal mit den Worten: „Wow, wow, wow, da hab ich heuer die Richtige gefragt, meinst du nicht, rrrrr!“ daran erinnerte, dass er Zoe auf den Dance begleiten würde verbesserte seine Stimmung nicht gerade. Er war jetzt wirklich schlecht gelaunt, hämmerte wenig gefühlvoll weiter und strafte Josh mit mörderischen Blicken.
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Das leise Klicken des Abzugs konnte Mike nicht hören. Zu laut rauschte das Blut in seinen Ohren, zu laut pochte sein totgeglaubtes Herz, zu laut vibrierte jede Faser seines Körpers mit narkotisierendem Schmerz.
Er sah Buckley ausspucken, sah das helle Aufflackern am Lauf der Waffe, sah den Rückstoß den Arm ins Schwanken bringen. Die Sonne verschwand endgültig hinter dem Horizont und tauchte die staubige Straße in glühendes Blut.
Als die Patrone seine Brust durchschlug hörte Mike den ohrenbetäubenden Knall und sah ungläubig wie Buckley seinen Colt wieder sicher im Holster verstaute. Ein dumpfes Stöhnen entfuhr seinen Lippen und er fühlte sich fallen.
Als sein Körper in den dreckigen Untergrund einschlug weiteten sich seine jungen Augen in Angst. Wie von weit her hörte er dumpfe Schritte und das blecherne Geräusch sich drehender Sporen. Verschwommen nahm er eine dunkle Gestalt wahr, die sich über ihn beugte.
"Sie war im Weg, Kleiner. Einfach nur im Weg."
Buckley rückte seinen Hut zurecht und spuckte erneut Tabak in den Staub. Die Satteltaschen gefüllt mit der Beute des letzten Bankraubs, hob er sich schwerfällig in den Sattel und ritt der untergehenden Sonne entgegen.