Prolog und 1. Kapitel
Prolog:
Die Glocken waren verstummt. Stille lag über der Ebene zwischen dem Strom Armasin und der Feste Pherdon, doch es war kein Frieden darin.
Der Atem des Soldaten ging stoßweise, als er durch das feuchte Gras stapfte und verzweifelt versuchte, in dem Nebel etwas zu erkennen. Ein eisiger Klumpen der Furcht hatte sich in seinem Innern gebildet, als er den Befehl erhielt, herauszufinden, was bei Pherdon geschehen war, doch er hatte pflichtbewusst gehorcht. Nun lief er mit einer Handvoll Männern in einen möglichen Hinterhalt und kalter Schweiß rann ihm den Rücken hinab.
Dass Pherdon fallen könnte, hatte er nie glauben können. Zu oft hatte er selbst die stolzen Mauern gesehen und von der Uneinnehmbarkeit der Festung gehört, davon, dass ihre Geschütze die schwach gepanzerten Shakariesoldaten zermalmen würden. In den zwei Jahren seit er zur Armee gegangen war, hatte der junge Mann mehr als einmal erlebt, dass die grausamen Eroberer aus dem Norden nicht zu unterschätzen waren, doch an Pherdons Überlegenheit hatte er nie gezweifelt.
Doch als am Morgen schwarze Wolken über der Ebene aufgetaucht waren, war die Wachmannschaft von Karn nervös geworden. Sie erkannten die Wolken als Vorboten eines Angriffs der Shakarie und bald gaben ihnen die Sturmglocken von Pherdon recht. Als aber die Glocken abrupt verstummten, ohne dass Hörner von einem Sieg der falamischen Verteidiger zeugten, war aus der Nervosität Angst geworden. Schließlich hatte man einen kleinen Trupp losgeschickt, um auszukundschaften was geschehen war.
Der Soldat zuckte zusammen, als der Wind die Nebelschwaden einen Moment aufreißen ließ und er eine Gestalt zu erkennen glaubte.
Neben ihm sog einer seiner Männer erschrocken die Luft ein, doch dann lachte er erleichtert auf und drehte sich zu dem Soldaten um. „Nur ein Baum.“
Der Soldat wollte gerade das Lachen erwidern, als sein Gegenüber die Augen aufriss und leblos zusammenbrach. Ein Shakariesoldat stieg über die Leiche hinweg und schlug auf ihn ein, doch die verbliebenen Männer setzten sich erfolgreicher zu Wehr.
Mit gezücktem Schwert drängte er einige der Angreifer zurück, doch er glaubte nicht daran, dass sie sich bis zur Feste durchschlagen könnten. Zumindest nicht, wenn sie hinterher noch in der Lage sein wollten, Bericht zu erstatten. Wenn doch nur die Verteidiger der Festung ihnen zu Hilfe kämen.
Einer seiner Männer sank getroffen zu Boden und der Soldat traf eine Entscheidung.
„Rückzug!“, rief er, doch seine Stimme war heiser und brüchig.
Hastig zogen sich die Angreifer enger um sie, doch seine Männer folgten ihm, als er an einer Stelle durch den Ring brach und in den Nebel davonstürzte.
Er konnte nicht sagen, was ihn getroffen hatte, doch plötzlich durchzuckte ein heißer Schmerz sein Bein. Er ging schwer zu Boden und einen Moment später beugte sich jemand über ihn. Durch den Schleier, der sich um seine Gedanken legte, hörte er die Stimme eines seiner Kameraden. „Korporal Sanwa! Ihr müsst durchhalten! Macht die Augen wieder auf! Marilo!“
Kapitel 1 – Friedliche Tage
Tamaril hob den Kopf und fuhr sich mit der Hand durch das dichte weiße Haar. Er legte die Feder neben das Buch, in dem er bis eben noch geschrieben hatte und erhob sich.
Es war selten geworden, dass er beim Schreiben innehielt. Er hatte vor langer Zeit aufgehört, das Bedürfnis nach Schlaf oder Nahrung zu empfinden. Es war etwa zu der Zeit gewesen, da er aufgehört hatte, das zu sein, als das er geboren worden war.
Seine Erinnerungen an damals waren nur noch bruchstückhaft, bestenfalls Bilder, Gefühle, die nun auch nur noch selten in sein Bewusstsein zurückkehrten, wenn er die Schreibfeder zur Seite legte und in den Wald ging. Der Wald, seltsam verzaubert durch die Macht eines Einhorns. Dieser Ort hatte ihn zu dem gemacht, was er war.
Was er war... Er wusste selbst nicht, als was er sich bezeichnen sollte. Seine Züge glichen immer noch denen des Jungen von sechzehn Jahren, der er gewesen war, als er hier eintraf. Aber mit der Zeit schien er selbst unwirklich zu werden.
Er glaubte sich daran zu erinnern, dass sein Haar einmal dunkel gewesen war. Nun war es silberweiß, wie fast alles hier, außer seinen hellblauen Augen, in denen aber das Silber auch schon schimmerte. Silberweiß wie die Bäume, ihre Blätter, der Waldboden, silberweiß... wie das Einhorn.
Er wusste, dass in diesem Wald einmal ein Einhorn gewesen war. Es hatte mit ihm geredet... oder war das nur ein Traum gewesen? Nun war es jedenfalls nicht mehr da und er hatte längst aufgehört nach einem Weg fort von hier zu suchen.
Er hatte einen neuen Sinn für sein Leben gefunden, als er begann zu schreiben. Er schrieb vom Krieg, Schlachtenglück und Untergang. Wenn er schrieb, vergaß er sich selbst, doch waren es nicht einmal seine eigenen Gedanken, die er niederschrieb, sondern vielmehr die Geschichte der Welt dort draußen, weit weg von ihm. Irgendwo kämpften andere um ihr Leben, aber ihre Geschichten aufzuschreiben hatte schon vor langer Zeit aufgehört ihn zu berühren.
Doch aufhören konnte er nicht. Krampfhaft klammerte er sich an diesen letzten Bezug zu einer Welt, der er einmal selbst angehört haben mochte.
Manchmal fragte er sich, ob dort draußen die Zeit weiterlief, wenn er aufhörte zu schreiben oder ob der Lauf der Geschichte darauf wartete, dass er die Feder wieder aufnahm. Zumindest schien es ihm, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen, als hätte die ganze Welt mit ihm innegehalten.
Mit einem Seufzen kehrte er zurück an das schwarze Pult, das einzige, das hier nicht von diesem strahlenden Weiß war, und nahm die Feder wieder zur Hand.
„Wer weiß,” sagte er leise, „vielleicht bin ich sogar der Herr der Zeit.”
*****
Der Tau sammelte sich auf dem zarten Blatt des Maranfa-Strauchs und fiel zu Boden, als Ayala mit dem Finger dagegen klopfte. Ihr langes, dunkles Haar fiel ihr ein wenig in die haselnussbraunen Augen, als sie sich bückte, um einige Blätter abzupflücken, und sie schob sie mit einer ungeduldigen Geste hinter die spitzen Ohren.
Jara würde ungehalten sein, dass sie noch nicht zurück war.
Sie war sofort bei Sonnenaufgang aufgebrochen um die begehrten Pflanzen zu sammeln, aber dieses Jahr schien es kaum welche zu geben und sie hatte fast den gesamten Morgen vergeblich danach gesucht.
Dass sie das Tal noch nicht in und auswendig kannte, wie es auf dem Hof, wo sie aufgewachsen war, der Fall gewesen wäre, half ihr auch nicht gerade. Sie war jetzt gerade einmal ein halbes Jahr hier. Sie erinnerte sich noch daran wie sie von neugierigen Kindern umringt das Dorf betreten hatte, in dem Jara lebte.
Ihre Mutter kannte die alte Heilerin flüchtig und so war Ayala schließlich hierher gekommen, um die Kunst des Heilens zu erlernen. Das Dorf war ein Zufluchtsort, eines von vielen Bergdörfern, in die die Frauen und Kinder aus den umkämpften Nordregionen Falamars geschickt wurden und Heiler wurden stets gebraucht.
Das war es wohl, wozu sie bestimmt war. Dennoch war sie nicht sicher, ob sie wirklich glücklich über die Entscheidung ihrer Eltern, sie fortzuschicken, sein sollte. Zu sehr vermisste sie ihr Zuhause, ihre Freunde, besonders Marilo, den Jungen, mit dem sie aufgewachsen war und den sie ihren Sako, ihren Bruder, nannte. Die Erinnerung ließ Ayala lächeln.
Sie hatte seitdem vieles gelernt, manches davon auf schmerzhafte Weise. Jara war nicht die geduldigste Frau und Ayala, die bis jetzt nur die Fürsorglichkeit ihrer Eltern gekannt hatte, musste plötzlich weitgehend für sich selbst sorgen.
Na, wenn es sein muss, komme ich auch so zurecht, versprach sie sich selbst. Sie würde vor der strengen Jara nicht klein beigeben. Und irgendwo musste es doch auch noch diese verflixten Maranfas geben.
Ayala ließ ihren Blick über die bewaldeten Hänge schweifen und er blieb schließlich an einer kleinen, grünen Mulde hängen. Dort standen keine Bäume mehr, da sie sich dichter an dem baumlosen, steinigen Gipfel des Berges befand, an dessen Hang sie hinaufgeklettert war.
Sie konnte sich noch daran erinnern, vor einigen Wochen dort gewesen zu sein, als sie und Jara gewandert waren. Die ältere Frau hatte versucht, ihr den Großteil des Tals um das Dorf herum zu zeigen und sie hatten nahe des Gipfels eine Rast eingelegt.
Ayala erinnerte sich dunkel daran, in der Nähe eine Menge Pflanzen gesehen zu haben.
Der Aufstieg würde noch etwas Zeit beanspruchen, aber es war besser, als Jara mit ihrer jetzigen mageren Ausbeute unter die Augen zu treten. Sie seufzte wieder. Jara konnte wirklich eine gutherzige Frau und großartige Geschichtenerzählerin sein, aber oft stieß sie andere mit ihrer rauen Art vor den Kopf.
Um sich trotz des Aufstiegs zu sputen, begann sie zu klettern und sich nicht weiter ihren Gedanken hinzugeben. Je höher sie stieg, desto freier fühlte sich das Mädchen. Schließlich erreichte sie eine Anhöhe und sah sich neugierig um.
Vor sich konnte sie erkennen, wie das Tal nach Osten hin weiter wurde und schließlich in der Ferne in der großen Ebene von Falamar mündete, die ihrem Volk seinen Namen verliehen hatte. Sanft erstreckte sich das Land über grüne Hügel in denen eingebettet wie leuchtende Saphire die zahlreichen Seen oder Suliane, wie sie in der alten Sprache der Falamar hießen, lagen.
Die Ebene reichte weiter, unterbrochen von kleinen Hügelländern und lichten Wäldern, nach Osten bis zu den Küsten des Alten Meeres, Lanoar. Ayala hatte das Meer, das im Süden und Osten die Grenzen ihres Heimatlandes bildete, nie gesehen, aber sie hatte schon so viele Geschichten von den Stränden und Steilküsten am Rande der Ebene Falamar gehört, dass sie nur die Augen schließen musste, um das Rauschen der Wellen zu hören, die Nachrichten in einer Sprache brachten, die nur diejenigen verstehen konnten, die mit dem Herzen zuhörten.
Eigentlich war sie noch nicht an vielen Orten ihres eigenen Landes gewesen, wie Ayala feststellte. Sie hatte weder die stolzen Zinnen von Triannar, der Hauptstadt Falamars, die von drei Seen umgeben im Süden des Landes lag, noch den mächtigen Strom Armasin, der im Norden kaltes Wasser aus den Bergen zum Meer trug, jemals zu Gesicht bekommen. Und im Falle Armasins war das vielleicht auch besser. Denn jenseits des Stroms begann bald das Territorium der Shakarie.
Die Falamar scheuten sich davon zu sprechen, nannten es das Namenlose Land, von dem nur Böses kommen konnte. Doch wurde im Flüsterton erzählt, dass das Land tot zu sein schien. Es war ein Sumpf mit verrottenden Bäumen, durch die ewiger Nebel trieb, der jeden Wanderer seinen Weg verlieren und ihn unweigerlich in die Arme der Shakarie treiben würde... oder in das gnädigere Schicksal eines kalten Todes in einem Schlammloch. Ein Land, das so todbringend wie seine Bewohner war.
Ayala fröstelte bei dem Gedanken an das, was an den Grenzen vor sich ging. Sie hatte von den Kämpfen nur von dritten gehört und konnte und wollte sich nicht vorstellen, was dort geschah. Doch seit vor zwei Jahren Marilo zur Armee gegangen war, wanderten ihre Gedanken immer öfter zu dem Schrecken, den sie sonst so gut verdrängt hatte.
Marilo war einige Jahren älter als sie und hatte stets auf sie aufgepasst, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Nun war er weit fort und würde vielleicht nie wieder zurückkehren.
Ayala wies sich in Gedanken zurecht. Natürlich würde er zurückkehren. Sie sah wieder zum Gipfel hinauf und beeilte sich, die letzten Meter zurückzulegen. Schließlich erreichte sie die Mulde, die sie von unten gesehen hatte. Aus der Nähe betrachtet war sie bei weitem nicht so grün und einladend, wie es von unten ausgesehen hatte.
Die Pflanzen, an die sie sich erinnert hatte, kämpften sich recht spärlich zwischen den scharfkantigen Steinen und karger Erde nach oben. Aber sie waren noch da. Ayala lief gebückt zwischen den Felsen umher und raffte zusammen, was sie an Maranfas finden konnte.
Wenige Augenblicke später war sie mit ihrem Bündel Maranfas auf dem Weg hinunter ins Tal. Mochte Jara schimpfen, sie würde schon ihren Weg finden, dachte sie mit einem kleinen Lächeln.
*****
Tamaril lächelte. Er war sich dessen nicht bewusst, denn es war in Wahrheit schon lange her, dass seine Züge einen anderen Ausdruck gezeigt hatten, als die immerwährende Traurigkeit in seinen Augen.
Dieses seltsame Mädchen hatte sich vor einigen Wochen in seine Geschichte gedrängt, worüber er überrascht gewesen war. Hatte er doch bis jetzt nur über die Schicksale der großen Herrscher und Feldherrn des Krieges zwischen Falamar und Shakarie geschrieben. Was also tat ein junges Mädchen in seinen Aufzeichnungen des großen Krieges?
Tamaril merkte, dass es ihm eigentlich gleich war, solange er weiter über sie schreiben konnte, mit ihr noch einmal diese Unbeschwertheit erleben und vielleicht sogar mit ihr ein wenig glücklich sein durfte.
Tamaril lächelte.