11. Heimkehr
Ray
Es war eine traurige Prozession, die sich da ihren Weg durch den Wald bahnte, allen voran Jaro, der die Leiche seines besten Freundes auf den Schultern trug. Sein Gesicht war wie aus Stein gemeiselt, keine Regung war daran abzulesen. Ich erinnerte mich, wie er sich, mit Tränen in den Augen, auf dem Schlachtfeld über den toten Körper Logans gebeugt hatte und ihm ganz sanft die himmelblauen Augen geschlossen hatte, die blicklos ins Leere gestarrt hatten. Mein Herz hatte sich bei dem Anblick zusammengekrampft, doch meine Augen waren trocken geblieben, ich hatte nur den dumpfen Schmerz des Verlustes gefühlt und gewusst, dass ich später in Ruhe um ihn trauern würde. Ja, wir hatten einen Preis für unseren Sieg gezahlt. Das taten wir immer. Jaro wusste das, und deswegen zog er auch nicht gern in den Kampf. Und das war der Grund, warum er unser Anführer war.
Es war ein langer, beschwerlicher Marsch zurück zur Siedlung. Die meiste Zeit stapfte ich schweigend neben Aiden durch den stellenweise kniehohen Schnee, der in der Mittagssonne angetaut war, was dazu führte, dass wir mit jedem Schritt auch bis zu den Knien darin versanken und uns mühsam wieder herauswinden mussten. Je näher wir der Siedlung kamen, desto mehr fühlte ich meine Kräfte schwinden. Einmal strauchelte ich und musste von Aiden aufgefangen werden, der mich mit einem besorgten Blick musterte.
Das Blut hatte mich zwar soweit gestärkt, dass ich mich wenigstens auf den Beinen hielt, doch es hatte mir auch nicht meine vollständige Kraft zurückgegeben. Der Schweiß stand mir in Perlen auf der Stirn, den eisigen Wind spürte ich selbst durch meinen dicken Mantel hindurch, meine Haare troffen von Schweiß und Blut, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als mich einfach hinlegen zu können und ewig zu schlafen. Ich wusste aus Erzählungen Logans, dass ein Mann, der sich einmal im Schnee schlafen legte, in der Regel nie wieder erwachte. Ich war immer der Meinung gewesen, dass das wohl ein sehr friedlicher Tod sein musste, umgeben von weichem Schnee und der Stille der Wälder friedlich einzuschlummern und niemals wieder aufzuwachen – ich konnte mir Schlimmeres vorstellen, weit Schlimmeres.
Logan – der Gedanke an ihn schmerzte. Ich erinnerte mich an glückliche Tage in meiner Kindheit, als er mich auf seinen Schoß gesetzt und mit mir Reiter gespielt hatte. Und wie er mir damals, als ich elf Sommer zählte, mit einem freundlichen, auffordernden Lächeln das Schwert meines Vaters gereicht hatte. Damals, als ich verstummt war, meine Gesichtszüge in einer ewigen, gleichgültigen Maske erstarrt, und doch hatte ich nicht anders gekonnt, als diese aufrichtige Lächeln zaghaft zu erwidern, selbst ein wenig überrascht, dass ich dazu überhaupt noch fähig war. Und dann hatte sich meine Faust fest um den ledernen Griff geschlossen, und ich hatte das erste Mal das Gefühl gehabt, dass es vielleicht doch etwas gab, wofür es sich zu leben lohnte.
Es war Logan gewesen, der meinen Onkel überzeugt hatte, dass es nun an der Zeit war, dass ich lernte, zu kämpfen, und er war mein erster Lehrer gewesen. Später, als er die Wache an der Grenze übernahm, hatten Jaro und Cyril, der Schmied und Waffenmeister zugleich war, diese Aufgabe übernommen, doch Logan hatte mich die wichtigsten Grundzüge des Kampfes gelehrt.
Der Mann vor mir blieb plötzlich stehen, und ich bemerkte es gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass ich gegen ihn prallte. Ich sah ein Licht in der Dämmerung aufleuchten, die flackernde Flamme einer Fackel in der gespenstischen, beinahe lautlosen Stille, die uns umgab, und vernahm leises Stimmengemurmel. Wir hatten den äußersten Posten der Wachen erreicht, die rund um die Siedlung positioniert waren. Nach einem kurzen Wortwechsel verlosch die Flamme, der Wachposten verschmolz wieder mit den Schatten des Waldes und wir setzten unseren Weg fort.
Als wir schließlich auf die Lichtung hinaustraten, erwartete man uns schon. Die Hütten waren hell erleuchtet, die Kunde von unserer Rückkehr schien sich wie ein Lauffeuer verbreitet zu haben. Männer eilten herbei, um die Toten von den Schultern der Krieger zu nehmen, die sie bis hierher getragen hatten. Sie würden die Nacht über aufgebahrt werden, um dann mit dem Morgengrauen der Erde übergeben zu werden.
Dann waren wir vor unserer Hütte angelangt. Meine Tante, die vor der Tür auf uns wartete, verschwand in Jaros fester Umarmung, und ich sah, wie die beiden ein kurzes, leises Gespräch führten. Selbst im spärlichen Licht des Kaminfeuers, das durch die offene Tür drang, sah ich, wie ein Schatten über Elaines Züge huschte, und sie drückte Jaro noch ein wenig fester an sich und barg für einen Augenblick den Kopf an seiner Schulter. Dann tauschten sie einen letzten, innigen Blick, und mit einem Nicken wandte sich Jaro wieder um und ging denselben Weg zurück, den wir gekommen waren, schweigend, das Gesicht von uns abgewandt, die Schultern hochgezogen und den Rücken entschlossen aufgerichtet, so, als wappne er sich innerlich.
Elaines Arme schlossen sich nun um Aiden und mich, und in der Wärme dieser Umarmung schien ein wenig von der Last der Schuld, die ich mir heute aufgeladen hatte, von mir abzufallen.
„Meine beiden großen Jungs! Aiden, ich habe mir solche Sorgen gemacht!“ Mit einem zitternden Finger strich Elaine über den Schnitt an seiner Kehle. Aiden, dem die mütterliche Zuneigung offensichtlich etwas unangenehm war, wand sich vorsichtig wieder aus der Umarmung.
„Es ist nicht so schlimm, Mutter. Nur ein Kratzer – dank Ray“, fügte er leise hinzu.
Elaine nahm jetzt mich genauer in Augenschein.
„Oh, Ray, du siehst schrecklich aus!“ Sanft fuhr sie mir über das Haar, das im Wind zu einer starren Masse getrocknet war.
Ich grinste schwach. „Dann sehe ich so aus, wie ich mich fühle. Danke für das Kompliment, Tante.“
Ich nickte ihr und Aiden noch einmal zu, wandte mich dann um und ging ohne ein weiteres Wort in den Wald hinein. Ich glaubte, die besorgten Blicke in meinem Rücken förmlich spüren zu können. Doch ich wusste auch, dass mich niemand aufhalten würde, denn sie kannten mich gut genug, um zu wissen, was ich jetzt vorhatte. Ganz egal, wie erschöpft ich nach einem Kampf war, ich brauchte diese wenigen, stillen Minuten, um meine Seele zu reinigen. Nur so gelang es mir, zu vergessen, und damit zu leben, dass ich getötet hatte und es wohl auch wieder tun würde. Ich würde immer kämpfen um meine Familie zu beschützen. Und ich würde auch kämpfen, um Sie zu beschützen, ohne nur einmal mit der Wimper zu zucken.
Leise seufzend ließ ich mich neben dem großen Felsbrocken nieder, der einem steinernen Wächter gleich über der kleinen Lichtung zu wachen schien. Das weiche Gras schmiegte sich raschend an mich, als ich mich mit ineinander verkreuzten Beinen auf dem Boden niederließ. Über mir huschte ein Kleiber den glatten, grauen Stamm einer alten Buche hinab, das kleine Köpfen nickte mit jeder Bewegung leise auf und ab. Ansonsten herrschte eine fast friedliche Stille in dem Wald, über den sich allmählich die nächtliche Dunkelheit senkte, ein starker Kontrast zu den Kampfgeräuschen, die noch immer in meinen Ohren zu klingen schienen, und dem grellen Licht des vom Schnee reflektierten Sonnenscheins des Schlachtfeldes. Dieser Platz war nur den wenigsten bekannt, versteckt in den Tiefen des Unterholzes, das diesen Teil des Waldes dominierte, und außer mir kannte meines Wissens nur Aiden den schmalen Pfad, der hierher führte. Wir hatten ihn vor vielen Jahren beim Spielen entdeckt, und er war zu meinem geheimen Rückzugsort geworden. Er vermittelte mir ein seltsames Gefühl des Friedens, hierher kam ich immer, wenn ich ungestört über etwas nachdenken wollte. Und ich kam hierher, um zu trauern, ein Ritual, das ich an dem Tag begonnen hatte, an dem ich meinen ersten Mann in der Schlacht getötet hatte.
Als sei es gestern gewesen konnte ich mich noch daran erinnern, wie schrecklich das Gefühl der Schuld gewesen war, als ich gesehen hatte, wie das Licht in den grauen Augen erloschen war und ich mir bewusst wurde, dass ich soeben einen Mann ermordet hatte, ihm das Leben genommen hatte. Meinetwegen würde er nie all die Dinge tun können, von denen er vielleicht geträumt hatte, er würde seine Kinder nicht aufwachsen sehen, so wie meine Eltern mich nicht hatten aufwachsen sehen. Ich fragte mich, ob ich wohl dafür verantwortlich sein würde, dass es einem anderen Jungen ähnlich erging, wie es mir selbst ergangen war, und da hatte ich gespürt, wie die Übelkeit sich brennend einen Weg meine Speiseröhre hinauf bahnte, und ich hatte mich abgewandt und mich auf das blutverschmierte Gras zu meinen Füßen übergeben.
Als ich aufgeblickt hatte, hatte ich in Logans verständnisvolle himmelblaue Augen gesehen, und er hatte mich nicht ausgelacht oder mich abschätzend betrachtet, sondern er hatte nur genickt und gesagt, dass ich erst jetzt wirklich zum Mann geworden sei, und dass er auch so reagiert habe, als er das erste Mal getötet habe.
„Wie kann das richtig sein?“, hatte ich verstört gefragt und auf den leblosen Körper zu meinen Füßen geblickt. „Wie kann es richtig sein? Warum lebe ich noch und er nicht?“
„Es ist nicht richtig, Junge“, hatte Logan ernst gemeint, und ich hatte ihn erstaunt angesehen. Er war einer unserer besten Kämpfer, ich hatte nicht erwartet, dass gerade er meiner Meinung sein würde. Logan hatte ein wenig über meine erstaunte Miene gelächelt, doch dann hatten seine Augen einen beinahe traurigen Ausdruck angenommen, das helle Blau hatte sich verdunkelt.
„Es ist niemals richtig, zu töten. Wir tun es nur, um die zu beschützen, die uns am Wichtigsten sind, wir kämpfen, um uns und unsere Familien zu verteidigen. Und wenn wir sie nicht töten, dann töten sie uns. Aber das macht es nicht besser. Es ist niemals recht, zu töten, denk immer daran, Ray, jedes Mal, wenn du dein Schwert gegen jemanden erhebst! Denn das ist es, was uns von ihnen unterscheidet, und wenn wir zulassen, dass uns das Töten zur Gewohnheit wird, dann sind wir nicht besser als sie, dann bräuchten wir sie nicht länger zu bekämpfen, denn es würde keinen Unterschied mehr machen, wer gewinnt.“
Ich hatte nur erstaunt genickt, eigentlich hätte es mich nicht überraschen sollen, Logan war ein guter Freund meines Onkels, und ich wusste, das auch Jaro das Kämpfen nicht guthieß, es nie getan hatte. Im Gegensatz zu meinem Vater waren diese beiden Männer ihren Grundsätzen stets treu geblieben.
Später an diesem Tag hatte Logan mir dann gezeigt, was ihm half, mit der Schuld zurecht zu kommen, er hatte mir gezeigt, wie er um die Männer trauerte, die er getötet hatte.
Und so schickte ich mich auch jetzt wieder an, zu tun, was er mich vor so vielen Jahren geheißen hatte.
„Ich bereue“, begann ich mit leise, jedoch fester Stimme. „Ich bereue, dass ich Leben nehmen musste, Leben, die nun auf immer verloren sind...“
Die so bekannten Worte hallten laut in der Stille des Waldes wieder. Ich schloss die Augen und dachte an die Gesichter der drei Männer, die ich heute von meiner Hand gestorben waren. Ich hatte mir ihre Züge genau eingeprägt, sah sie so deutlich vor mir wie die Gesichter all der anderen Männer, deren Tod auf meinen Schultern lastete.
„Warum trauerst du um diese Männer?“, hatte ich Logan damals gefragt. „Es macht sie nicht wieder lebendig, es nützt ihnen nichts mehr. Es ist zu spät, sie sind doch schon tot.“
„Es mag ihnen nichts mehr nützen, aber es wird dir helfen“, hatte er mir erklärt. „Und so wird auch um all diejenigen getrauert, die niemanden mehr haben, den sie zurücklassen. Denn es sollte keiner in das Schattenreich gehen, ohne dass jemand seinen Fortgang betrauert.“
Und er hatte recht gehabt, denn jedes Mal, nachdem ich die Worte gesprochen hatte, war mir ein wenig leichter ums Herz gewesen, und die Last auf meinen Schultern schien weniger schwer zu wiegen als zuvor, wenngleich sie nie ganz verschwand.
Doch heute trauerte ich nicht nur um die Männer, die ich getötet hatte, ich trauerte auch um den Mann, der mich das Kämpfen gelehrt hatte. Und das erste Mal seit dem Tod meiner Mutter spürte ich, wie heiße Tränen meine Wangen hinunter rannen, denn ich wusste, dass Logan nie wieder diese Worte würde sprechen können, die er mich einst gelehrt hatte, denn auch er war mir genommen worden. Sie starben alle. Alle, die mir etwas bedeuteten, wurden mir früher oder später genommen, es war nur eine Frage der Zeit. Wie ein Fluch schien das auf mir zu lasten, und ich wurde einmal mehr in meinem Entschluss bestärkt, mich von Caitlin fernzuhalten. Ich konnte nicht verantworten, dass auch ihr Leben meinetwegen in Gefahr geriet.
„...und so bitte ich um Vergebung und hoffe, das dereinst auch jemand um mich trauern wird, wenn meine Zeit gekommen ist und ich im Kampf falle.“ Wie eine düstere Vorahnung schienen die Worte in der Stille nachzuhallen.
***
Meine Tante hatte das Feuer geschürt, denn es war angenehm warm in der Stube, als ich schließlich zurückkam. Ich zog den verschmutzten Mantel aus, in der Hoffnung, dass ihn eine gute Wäsche retten würde, und legte ihn über das Trockengestell. Dann schälte ich mich aus dem blutverschmierten, schweißgetränkten Hemd, das eigentlich nur noch aus Fetzen bestand, und warf es in den Kamin. Die Flammen fauchten leise, und ein paar Funken stoben auf, verglommen und fielen dann als Ascheflocken zu Boden.
„Wo ist Jaro?“, fragte ich, denn außer mir waren nur Elaine und Aiden in der Stube zu sehen.
„Den Familien ihr Beileid aussprechen, du weißt schon...“, murmelte Elaine bedrückt, und ich zuckte unwillkürlich zusammen. Natürlich war es Jaros Pflicht als Clanführer, den Familien der gefallenen Männer einen Besuch abzustatten, ihnen sein Beileid auszusprechen und mit ihnen das letzte Gebet zu sprechen.
Nur dass Logan keine Familie gehabt hatte, die er zurücklassen konnte. Vielleicht hatte ich mich ihm deswegen von Anfang an so verbunden gefühlt, weil ich wusste, dass er auch alles verloren hatte, dass er nachempfinden konnte, wie ich mich fühlte. Und doch wusste ich auch, dass man um ihn trauern würde, am Meisten wohl in diesem Haus, denn bevor er zu den Grenzwachen gestoßen war, war er hier ein und aus gegangen. Jaros Familie hatte ihn in ihren Kreis aufgenommen, ganz ähnlich, wie sie es auch mit mir getan hatten. Ich wusste, dass Elaine Logan sehr gemocht hatte und dass sie sein Verlust schwer getroffen haben musste, doch ich wusste nicht, was ich dazu hätte sagen sollen. Worte waren manchmal so unzureichend, das wusste ich aus bitterer Erfahrung. Und so schwieg ich.
Ich hörte das leise Gluckern, als sie heißes Wasser aus dem Kessel über dem Feuer in eine kleine Schüssel füllte. Sie reichte sie mir wortlos, zusammen mit einem weichen Lappen, und wandte sich dann wieder Aiden zu, um dessen Verletzungen zu versorgen. Ich seufzte erleichtert, als das warme Wasser das verkrustete Blut und den Schmutz von meiner Haut löste.
Eben wollte ich mir ein frisches Hemd aus der Kleidertruhe holen, da stand Elaine auch schon wieder vor mir und drückte mich mit sanfter Gewalt auf die Bank zurück, auf der ich gesessen hatte.
„Nicht so schnell, Ray“, meinte sie bestimmt. „Zuerst will ich mir noch diese Wunde da ansehen.“
„Jaro hat sie bereits verbunden, es ist halb so schlimm, wie es aussieht“, wehrte ich ab.
„Das will ich schon selbst beurteilen“, widersprach Elaine. Sie drehte meinen Oberkörper, so dass der Feuerschein den Verband an meiner rechten Schulter beleuchtete, und nickte grimmig. „Wie ich es mir dachte – die Binde ist durchgeblutet. Und ich bin mir sicher, dass ihr keinen Alkohol dabei hattet, habe ich recht?“
Ich nickte nur und ergab mich meinem Schicksal. Meine Tante war die Heilerin unserer kleinen Siedlung. Sie verstand ihr Handwerk, auch wenn ihre Behandlungen meist schmerzhaft waren.
„Beiß die Zähne zusammen, Junge“, warnte sie mich jetzt. Mit einem Ruck riss sie mir den Verband, der durch das geronnene Blut an meiner Wunde klebte, von der Schulter. Dann goss sie Alkohol aus einer kleinen Flasche über die nun wieder offene Schnittverletzung.
Ich spannte den Kiefer an und konnte doch nicht verhindern, dass mir ein leises Stöhnen über die Lippen drang. Glühendheiße Flammenzungen loderten in meiner Schulter auf, als sich die bräunliche Flüssigkeit in die Wunde brannte. Bunte Sternchen tanzten vor meinen Augen, und die Ränder meines Blickfeldes verschwammen. Übelkeit verkrampfte meinen Magen zu einem harten Ball.
„Tut mir leid, Ray, aber das musste sein“, entschuldigte sich meine Tante. „Du solltest jetzt ausatmen“, fügte sie mit einem leichten Lächeln hinzu, und ich stieß keuchend die Luft aus, die ich angehalten hatte. Dann legte sich ein kühlender Schleier über die schmerzende Stelle und linderte das flammende Feuer zu einem sanften Glühen. Ein straffer Verband fixierte die Kräuterpaste, die Elaine soeben aufgetragen hatte, auf der Wunde. Die Wärme des Kaminfeuers entspannte meine verkrampften Muskeln, und gegen meinen Willen schlossen sich meine Lider.
„Er schläft schon im Sitzen. Bring ihn nach oben...“, waren die letzten Worte, die ich noch hörte, und dann ergab ich mich endgültig der sanften Umarmung des Schlafes.
***
„Ray“, flüsterte eine helle Stimme direkt neben meinem Ohr. Mit einem leisen Aufschrei schrak ich aus dem Schlaf, der so tief gewesen war, dass er fast einer Ohnmacht gleichgekommen war.
Jemand kicherte. Ich schlug die Augen auf – und blickte direkt in ein anderes Paar von der Farbe dunklen Mooses im Sonnenlicht. Der kleine Junge, der mit untergeschlagenen Beinen neben mir auf dem Bett saß, strahlte mich fröhlich an.
„Vater hat gesagt, ich darf dich wecken. Es ist immer so langweilig, wenn Aiden nicht da ist. Spielst du mit mir?“
„Ray ist noch ein wenig erschöpft, Marlon“, antwortete eine tiefe Stimme, ehe ich auch nur ein Wort über meine Lippen brachte. Jaro lehnte am Türrahmen. Er sah alt aus – tiefe Sorgenfalten standen auf seiner Stirn, und diesmal lagen Schatten unter seinen Augen.
„Na, weilst du wieder unter den Lebenden, Ray?“, fragte er mich mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen. „Wie geht es deiner Schulter?“
„Ganz gut, denke ich.“ Ich streckte versuchsweise den rechten Arm – und zuckte ein wenig zusammen.
Jaro nickte wissend. „So etwas braucht länger als eine Nacht, um zu heilen, Junge.“
Verwirrt blinzelte ich in das Licht, das durch das Fenster fiel. „Wie lange habe ich geschlafen?“
„Die ganze Nacht und den halben Morgen“, meldete sich Marlon jetzt wieder zu Wort. „Und ich wollt doch unbedingt wissen, wo Aiden ist und was mit dir los ist, und keiner hat mir was gesagt.“
„WAS?“, rief ich so laut, dass der Junge an meiner Seite erschrocken zusammenfuhr.
„Ganz ruhig!“ Jaro hatte seinen Platz an der Tür verlassen und sich neben Marlon auf meine Bettkante gesetzt. Der kleine Junge blickte mich erstaunt an.
„Tut mir leid, Marlon, ich wollte dich nicht erschrecken“, murmelte ich und zauste dem Jungen mit der linken Hand ungeschickt durch das lockige Haar. „Aber Caiti... Ich war nicht da! Sie war ohne Schutz! Ich muss wissen, ob es ihr gut geht!“, wandte ich mich an meinen Onkel.
„Keine Sorge – wir lassen das Dorf nicht aus den Augen. Und wenn er zurückkommt, kannst du Aiden fragen, wie es Caitlin geht – er war die letzte Nacht in Gwenara“, erwiderte dieser.
„Aiden! Aber...er ist doch auch verletzt. Warum habt ihr nicht jemanden geschickt, der ausgeruht ist?“
„Nicht so schlimm wie du. Und er hat darauf bestanden, deinen Platz einzunehmen. Hat irgendetwas von verdächtigen Spuren gefaselt, und davon, dass du dir Sorgen machen würdest. Keiner konnte ihn davon abbringen, im Dorf zu wachen. Ich habe es versucht, glaub mir.“ Mein Onkel fuhr sich leise seufzend mit der Hand durch das ohnehin schon leicht zerzauste Haar.
„Im Dorf?“, fragte ich erstaunt.
„Ich sagte doch, er wollte deinen Platz einnehmen. Er meinte, das wäre er dir schuldig.“
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Ihr hättet mich wecken sollen. Zwei Nächte hintereinander ohne Schlaf? Er ist erst sechzehn Sommer alt, Jaro. Und nach diesem Kampf...“
Mein Onkel lächelte. „Du warst sogar noch jünger“, erinnerte er mich und erhob sich.
„Und jetzt lasse ich dich mit deinem Gast alleine, ich muss den Rat zusammenrufen. Elaine ist unterwegs und versorgt die Verwundeten, könntest du ein wenig auf den kleinen Frechdachs hier aufpassen?“, fragte er mich.
Ich nickte. „Natürlich.“
„Und du, mein Junge“, wandte sich Jaro mit erhobenem Zeigefinger an seinen Sprössling, „strengst den armen Ray nicht zu sehr an.“
***
Noch immer ein wenig unsicher auf den Beinen, aber so wach wie schon lange nicht mehr, ging ich schließlich die Treppen hinunter in die Stube. Marlon, den ich mir wie einen Sack über die linke Schulter geworfen hatte, kreischte vor Vergnügen und strampelte so wild mit den Beinen, dass ich ihn schließlich an den Fersen packte und kopfüber hinunter trug. Der Junge stieß daraufhin ein begeistertes Quieken aus, das so komisch klang, dass ich nicht anders konnte als leise zu lachen.
Das Lachen verstummte jedoch abrupt in meiner Kehle, als ich am Ende der Treppe anlangte und eine erschöpfte Gestalt gewahrte, die sich über den Kamin beugte. Aiden saß dort vor dem Feuer und wärmte sich zitternd die klammen Finger. Die Schneeflocken, die sich in seinem dichten, lockigen Haar verfangen hatten, schmolzen zu kleinen, im Schein der Flammen glitzernden Wassertropfen. Er trug noch immer den durchweichten, mit Blut und Schlamm verschmierten Mantel vom Vortag.
„Hallo, Aiden!“ Ich setzte mich neben ihn auf die Bank und ließ Marlon langsam zu Boden gleiten. „Hallo, Ray! Na, von den Toten wieder auferstanden?“, grüßte Aiden mich mich mit einem leichten Grinsen. Er sah müde aus, dunkle Schatten lagen auch unter seinen Augen, und die Erschöpfung und die Kälte hatten tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben. Sein Arm war nach wie vor von einem Verband umhüllt, und auf der blassen Haut seines Halses zeichnete sich dunkel der schmale Schnitt ab, den das Schwert des feindlichen Vampirs dort hinterlassen hatte. Ich fragte mich, ob er wohl eine Narbe behalten würde, doch ich wusste zugleich, dass das Aiden nicht stören würde. So, wie ich ihn kannte, würde er sie mit Stolz tragen, vielleicht gar versuchen, das ein oder andere Mädchen damit zu beeindrucken. Der Gedanke ließ mich leise schmunzeln.
Kaum hatte ich den Jungen abgesetzt, warf sich dieser auch schon in Aidens Arme und unterband damit jeden Versuch einer weiteren Unterhaltung.
„Hallo, kleiner Mann!“ Liebevoll fuhr mein Cousin seinem Bruder durchs Haar.
„Aiden! Du bist wieder da! Machst du den Trick mit der Münze? Bitte?“ Große Augen blickten bettelnd zu ihm auf, und ich wusste, dass Aiden ihnen nicht widerstehen konnte. Leise seufzend langte er in seine Tasche, dann zog er mit geheimnisvoller Geste eine kleine Münze hinter Marlons Ohr hervor.
„Aiden, du solltest dich ausruhen“, warf ich ernst ein. Er war schon viel zu lange auf den Beinen.
„Das hatte ich vor...sobald ich meine Finger wieder spüre“, erwiderte Aiden.
„Du hättest das nicht tun müssen, Cousin“, fuhr ich fort. Ich fühlte mich schuldig, dass er meinetwegen so viel auf sich genommen hatte, und dennoch war ich unendlich froh, dass er es getan hatte, dass Caitlin in Sicherheit war. Die widerstreitenden Gefühle mussten sich in meinen Gesichtszügen widerspiegeln, denn Aiden grinste schwach, als er zu mir hinüber sah. Er wusste sofort, wovon ich sprach.
„Ich weiß. Aber du warst nicht in der Lage, da raus zu gehen, und ich schon...und sie bedeutet dir sehr viel, oder? Und ich wusste, dass du dir Sorgen machen würdest – wegen der Spuren – also...
Ich habe es gern getan.“
„Danke, Aiden.“
Er nickte nur.
„Es waren keine da, weißt du“, meinte er nach einer Weile nachdenklich und legte die Stirn leicht in Falten.
„Keine Spuren“, fügte er hinzu, als er meinen fragenden Blick sah. „Und ich habe auch niemanden ums Haus schleichen sehen. In der Nacht war alles ruhig.“
(c) by Schneeflocke