9. Der Unbekannte
Ray
„Ray“ - liebevoll fuhr ich mit dem Finger die zierlichen Runen auf der Fensterbank nach. Wieder einmal hatten diese Nacht ihre Läden offen gestanden. Ich fragte mich, was den Sinneswandel wohl hervorgerufen haben mochte. „Ray, wenn du noch herkommst“ - zweifelte sie etwa daran? - „dann bitte ich dich, sei vorsichtig. Heute wären mir deine Spuren unter dem Fenster beinahe zum Verhängnis geworden. C“
Ein letztes Mal rieb ich mit der Fingerspitze leicht über das schwungvolle C, dann wischte ich die mit weißer Asche geschriebene Nachricht sorgfältig von dem dunklen Holz der Fensterbank. Ich stellte mir vor, wie ihre kleinen, schlanken Finger sorgfältig eine Rune nach der anderen gezeichnet hatten, die Augen zusammengekniffen, um im spärlichen Licht der Kerze, das für ihre Menschenaugen so dunkel erscheinen musste, überhaupt etwas zu erkennen. Mein Blick huschte kurz zu ihr hinüber. Wenigstens war sie heute im Bett eingeschlafen. Die Decke war fest um den schlanken Körper geschlungen, und ihr blonder, vom Schlaf zerzauster Haarschopf war alles, was ich von ihr erkennen konnte. Heute war ich nicht gezwungen, ihr näher zu kommen, als es gut für mich war. Leise seufzend ging ich zu meinem üblichen Platz am anderen Ende der Kammer hinüber und grübelte über die seltsame Botschaft, die sie mir hinterlassen hatte.
Spuren im Schnee? Hielt sie mich für so ungeschickt? Ich schüttelte ungläubig den Kopf.
Ich kam niemals über die Straße – und selbst wenn ich es getan hätte, wäre ich nie derart unvorsichtig gewesen, Spuren zu hinterlassen. Ich war geübt in der Kunst, mich unbemerkt zu bewegen und unerkannt zu bleiben, eine Fähigkeit, die man in meinem Clan schon von Kindesbeinen an lernte, wollte man überleben. Ich konnte es durchaus vermeiden, gesehen zu werden.
Elf Winter wachte ich nun schon über sie. In all den Jahren hatte keiner der Menschen auch nur Verdacht geschöpft. Jede Nacht huschte ich lautlos über die Dächer der Häuser und schwang mich dann geschickt über die Dachkante und durch das offene Fenster – wenn es denn offen war – in Caitlins Kammer hinein. Die Häuser standen dicht aneinander gedrängt, und so war es für mich ein Leichtes, von Dach zu Dach zu springen. Zumeist balancierte ich über die Dachfirsten – der starke Nordwind, der zu dieser Jahreszeit vorherrschte, blies sie für gewöhnlich vom Schnee frei. Waren die Firsten wider Erwarten doch schneebedeckt, schleifte ich meinen Mantel hinter mir her, und so gelang es mir stets, die wenigen Abdrücke, die ich hinterlassen hatte, zu verwischen.
Dieser Vorsichtsmaßnahmen hätte es jedoch eigentlich nicht bedurft. Die Menschen waren bei weitem nicht so aufmerksam wie der feindliche Vampirclan, zudem wäre keinem der Menschen jemals der Gedanke gekommen, auf den Dächern nach Spuren zu suchen. Doch irgendwer hatte welche vor Caitlins Fenster hinterlassen und sie damit in große Gefahr gebracht. Ich wusste, dass die Gesetze der Menschen sehr hart waren, dass sie keine Gnade kannten und die Ihren unerbittlich richteten. Ein leiser Schauer rann mir über den Rücken bei dem Gedanken daran, was hätte geschehen können. Und doch schlief sie friedlich in ihrem Bett, also war die Gefahr allem Anschein nach gebannt – zumindest für den Augenblick.
Ich war hier gewesen, verdammt! Ich hatte die ganze Nacht bei ihr gewacht, damit sie in Sicherheit war, damit ihr kein Leid geschehen konnte, und doch hatte ich etwas übersehen! In all den Jahren war es noch nie vorgekommen, dass mir etwas entgangen war!
Und so lauschte ich diese Nacht noch aufmerksamer auf alle noch so leisen Geräusche. Außer Caitlins regelmäßigem Atem drang kein Laut an mein Ohr. Das Mädchen schlief so friedlich, dort, am anderen Ende des Raumes, und ich wandte gewaltsam den Blick ab, konzentrierte mich auf die Maserung der Bodendielen zu meinen Füßen, alles, nur um nicht wieder zu ihr hinüber zu blicken. Es war eine lange Nacht, die Zeit schien sich zu dehnen wie zäher Morast, jeder Atemzug brachte ihren Duft zu mir, er umfloss mich, nahm mich gefangen. Ich biss die Zähne zusammen und zwang mich, durch den Mund zu atmen. Nach den Monden vor ihrem Fenster war ich es einfach nicht mehr gewohnt, ihr so nahe zu sein. Und doch war ein Teil von mir froh darüber, dass ich nicht mehr draußen in der Kälte stehen musste, sondern eingeladen worden war. Und auch wenn es schwer war, ihrem Geruch zu widerstehen, hatte ich ihn doch so sehr vermisst. Es war ein seltsames Gefühl, wieder bei ihr zu sein. Es erschien mir so unglaublich – richtig. Als sei ich nach langer Abwesenheit wieder nach Hause gekommen...hastig schüttelte ich den Gedanken ab. Ich gewahrte erschrocken, dass ich mich im Laufe der Nacht immer mehr von meinem gewohnten Platz an der Wand entfernt hatte und dem schlafenden Mädchen unbewusst näher gerückt war, und auch das durfte nicht sein, es war zu gefährlich. Hastig trat ich wieder einen Schritt zurück, bis ich die vertraute Struktur der Holzbalken in meinem Rücken spürte. So verharrte ich, regungslos und mit zu Boden gerichtetem Blick, die Muskeln angespannt und jederzeit bereit, beim leisesten Anzeichen einer drohenden Gefahr aufzuspringen.
Am frühen Morgen glaubte ich, leise Schritte durch den Schnee knirschen zu hören. Mit einem Satz war ich am Fenster und riss die Läden auf, doch der Unbekannte war außergewöhnlich schnell. Ich sah nur noch einen Schatten um die nächste Ecke verschwinden und glaubte, einen Blick auf einen im Wind flatternden, schwarzen Mantel erhascht zu haben. Vor dem Fenster waren Spuren, sie hoben sich deutlich im hellen Licht des Vollmondes ab. Tiefe Stiefeleindrücke, die Ränder ein wenig verwischt, da er sich so geeilt hatte, aus meinem Sichtfeld zu gelangen. Sie führten von der Hausecke zu meiner Linken bis direkt unter das Fenster und wieder zurück. Meine Finger krallten sich so fest um die Kante der Fensterbank, dass ich spürte, wie sich die Maserung des Holzes in die weiche Haut meiner Handinnenflächen bohrte und dort tiefe Abdrücke hinterließ, die sicherlich noch am nächsten Morgen sichtbar sein würden. Meine Muskeln spannten sich an, bereit zum Sprung, und der Schnee unter mir nahm eine leicht rötliche Färbung an, als der mir so bekannte Schleier drohte, sich über mein Blickfeld zu legen. Nur mit Mühe drängte ich ihn zurück und hielt mich davon ab, die Verfolgung aufzunehmen. Was, wenn er genau das erwartete? Es konnte eine Falle sein. Ich würde Caitlin auf keinen Fall ungeschützt zurücklassen. Leise fluchend schloss ich die Läden wieder, wissend, dass ich jetzt nichts weiter unternehmen konnte, als an ihrer Seite zu bleiben.
Den Rest der Nacht verbrachte ich tief in Gedanken versunken. Wer war dieser Unbekannte? Ein Vampir oder ein Mensch? Umgeben von Caitlins Geruch, war es mir nicht möglich gewesen, den seinen zu erkennen. Und weshalb war er hier gewesen? Was plante er?
Ein Mensch wäre schon gefährlich genug. Wenn er sich des Nachts aus dem Haus wagte, war er entweder sehr mutig, sehr dumm, oder er schwankte bereits am Rande des Wahnsinns. Keine der drei Möglichkeiten gefiel mir. Und wenn einer der Dorfbewohner Caitlin schaden wollte, konnte das bedeuten, dass sie selbst am Tag nicht sicher war. Ich konnte nur hoffen, dass ihr Bruder sein Versprechen halten würde.
War es jedoch ein Vampir – dann würde das bedeuten, dass er an unseren Wachen vorbei gekommen war. Unbemerkt. Und nicht nur einmal. Zumindest die letzte Nacht war er ebenfalls hier gewesen.
Mit dem ersten Morgengrauen verschwand ich wieder über die Dächer, nicht ohne zuvor kurz inne zu halten und die Spuren, die der Unbekannte in der Nacht hinterlassen hatte, zu verwischen. Warum sie mir gestern entgangen waren, war mir ein Rätsel, doch es würde nie wieder vorkommen.
Am Dorfrand traf ich auf Aiden und Rowan. Sie hatten die letzten beiden Nächte die Wache außerhalb der Palisaden übernommen, und da nun der Morgen dämmerte, machten wir uns gemeinsam auf dem Rückweg zu unserer Siedlung.
„Du siehst nachdenklich aus“, meinte Aiden, nachdem wir uns mit einem kurzen Nicken begrüßt hatten. Seine Augen schimmerten im Mondlicht leicht silbern, und ich wusste, dass sie die kleinste Regung in den meinen erkannten. Aiden war für mich wie ein Bruder, den ich niemals gehabt hatte. Nach dem Tod meines Vaters hatte ich mich noch mehr in mich selbst zurückgezogen, als ich es davor schon getan hatte, und Aiden war damals als Einzigem gelungen, zu mir durchzudringen.
„Mhm“, machte ich, noch tief in Gedanken versunken. Die ganze Nacht hatte ich mir den Kopf über diesen mysteriösen Fremden zerbrochen. Wenn der Unbekannte von außerhalb des Dorfes gekommen war, musste er an Aiden oder Rowan vorbeigeschlichen sein...
„Ist euch etwas aufgefallen, diese und letzte Nacht?“, fragte ich nach einer kleinen Weile und blickte erst in Aiden, dann in Rowans Richtung.
„Nein, nichts“, antwortete Rowan überrascht.
Auch Aiden schüttelte den Kopf. „Dir etwa?“, erkundigte er sich.
„Da waren...Spuren. Vor ihrem Fenster. Ihr wisst, dass die Dorfbewohner des Nachts nie ihre Häuser verlassen, und doch...habe ich einen Schatten unter ihrem Fenster gesehen!“
„Es könnte dennoch ein Mensch gewesen sein“, wandte Aiden ein.
„Ich weiß. Aber könntet ihr...in den nächsten Nächten die Augen offen halten? Nur für den Fall...“
Rowan war einer der älteren, erfahrenen Wächter, und ich bezweifelte, dass ihm etwas entgangen war. Auch Aiden neigte nicht dazu, etwas zu übersehen. Aber hatte ich das nicht auch von mir selbst geglaubt?
„Wir halten die Augen immer offen, Ray!“, unterbrach mich Rowan kühl. „Glaub mir, falls er von außerhalb des Dorfes gekommen wäre, hätten wir ihn gesehen. Es muss ein Mensch gewesen sein.“
Den Rest des Weges verbrachten wir schweigend.
Als sich die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont tasteten und den schneebedeckten Wald in gleißendes Licht tauchten, trat ich mit Aiden und Rowan hinaus auf die Lichtung, in der wir unsere kleine Siedlung errichtet hatten. Eiskristalle bedeckten den kniehohen Schnee und warfen das noch spärliche Licht um ein Vielfaches verstärkt zurück. An den Dachtraufen der Blockhütten hingen Eiszapfen, funkelnden Diamanten gleich glitzerten sie in der Morgensonne. Rauch stieg in kleinen Wolken aus den Kaminen in den klaren Himmel empor. Er roch nach brennenden Buchenscheiten.
Ein friedliches Bild, dachte ich bei mir. Genauso friedlich wie das Bild des schlafenden Mädchens, das ich vor meinem inneren Auge sah.
Rowan verabschiedete sich wortlos mit einem knappen Nicken, wandte sich ab und war mit wenigen Schritten zwischen den Hütten verschwunden. Ich glaubte, dass er ein wenig fester auftrat, als es notwendig gewesen wäre. Aiden warf mir einen bedeutsamen Blick zu.
„Du hast ihn beleidigt“, stellte er amüsiert fest und zog die linke Braue nach oben.
„Vielleicht hat er auch etwas übersehen. Vielleicht haben wir alle etwas übersehen. Ich habe nur...“, verzweifelt warf ich die Hände in die Luft. „Er ist zu empfindlich. Stolz ist eine gefährliche Eigenschaft. Wer zu sehr von seinen Fähigkeiten überzeugt ist, neigt dazu, Fehler zu begehen“, brummte ich.
„Nagt es nicht auch an dir, dass dir selbst etwas entgangen sein könnte, Cousin?“, stichelte Aiden, und ich sah den Schalk in seinen Augen blitzen.
„Natürlich! Aber nur, weil ihr Leben davon abhängt, dass ich keine Fehler mache!“, erwiderte ich entrüstet.
„Sicher. Nur deswegen.“ Aiden schüttelte langsam den Kopf, und das Grinsen wich nicht aus seinem Gesicht.
„Aiden!“, warnte ich.
Doch mein Cousin lachte nur laut auf, zwinkerte mir zu und rannte dann so schnell auf die Siedlung zu, dass der Schnee wolkengleich hinter ihm aufstob. Ich schüttelte seufzend den Kopf, dann rannte ich hinterher. Keuchend langten wir schließlich gleichzeitig an der Hütte an, die ich gemeinsam mit meinem Onkel Jaro und dessen Familie bewohnte.
In der großen Wohnstube herrschte hektische Betriebsamkeit. Soweit ich es überblicken konnte, waren die meisten Kämpfer des Clans hier versammelt. In aller Eile schien man sich zum Aufbruch zu rüsten. Ich war überrascht – normalerweise fanden die Übergriffe des gegnerischen Clans nur bei Nacht statt, weswegen wir für gewöhnlich auch nur des Nachts ausrückten.
„Da seid ihr ja endlich, Jungs!“, wurden wir ungeduldig von Jaro begrüßt, kaum dass wir über die Schwelle getreten waren. „Elenzar ist mit einer Jagdtruppe losgezogen. Sie sind in Richtung Manod unterwegs.“
Manod war ein kleines Dorf im Zentrum unseres Gebietes. Selten wagte sich der Schattenclan so weit in unser Territorium vor. Elenzar schien sich sehr sicher zu fühlen.
„Logan hat sie beobachtet, er kam kurz vor euch an. Wir brechen auf, sobald alle versammelt sind“, fuhr mein Onkel fort. Dann zog er die dunklen Augenbrauen zusammen und musterte mich besorgt.
„Hast du diese Nacht wenigstens ein bisschen Schlaf bekommen, Ray?“
„Nein“, antwortete ich leise. „Das kann ich mir nicht erlauben, du weißt, dass es zu gefährlich wäre.“
„Nicht für dich. Verdammt, Ray, wie oft muss ich es dir noch sagen! Du musst mehr auf dich achten. Wie wechseln die Wachen vor dem Dorf alle sieben Tage aus, du bist der Einzige, der dort jede Nacht verbringt. Sieh dich nur an! Du hast schwarze Schatten unter den Augen!“
„Es geht schon, Jaro. Du musst dir keine Sorgen um mich machen...“ setzte ich an, doch in der Wärme des nahen Feuers entspannten sich meine Muskeln, und ich konnte ein Gähnen nicht länger unterdrücken. Diese Nacht war ich angespannter gewesen als üblich. Aiden hatte Recht gehabt. Es hatte an mir genagt, dass ich nichts von diesem Unbekannten mitbekommen hatte, der in der vorvergangenen Nacht um Caitlins Haus geschlichen war. Ich war wohl zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt gewesen. Das würde von nun an nicht mehr geschehen. Ich würde auf der Hut sein, und ich würde herausfinden, was es mit diesen Spuren auf sich hatte!
„Du übertreibst es. Wie oft muss ich es dir noch sagen. Triff endlich eine Entscheidung! Wir können es uns nicht leisten, dass einer unserer Kämpfer herumläuft wie eine wandelnde Leiche. Wir brauchen jeden einzelnen Mann. Wir sind dem Schattenclan zahlenmäßig unterlegen, das waren wir schon immer.“
„Ich weiß, Jaro. Ich habe meine Entscheidung bereits getroffen“, erklärte ich mit fester Stimme.
Mein Onkel seufzte und schüttelte den Kopf. „Scheint dir ja unglaublich weitergeholfen zu haben“, murmelte er sarkastisch. „Nun ja – wir sprechen später darüber. Und ich fürchte, du wirst auch das Schlafen auf später verschieben müssen.“
„Jaro!“, rief Logan da schon ungeduldig vom anderen Ende des Raumes. Ich war überrascht, ihn hier anzutreffen – der gedrungene Mann mit dem weizenblonden Haar war der Anführer der Grenzwachen, und diese verließen nur sehr selten ihren Posten. Zumeist dann, wenn sie etwas entdeckt hatten, das von großer Wichtigkeit für unsere Verteidigung war, oder wenn mehr Kämpfer benötigt wurden, als die Siedlung alleine stellen konnte. Nur im allergrößten Notfall trat letzterer Fall ein, denn mit einem Abzug der Grenzwachen legten wir unsere Grenzen bloß.
„Entschuldige mich.“ Mein Onkel nickte mir kurz zu, wandte sich dann um und durchmaß die Stube mit schnellen Schritten. Die beiden Männer beugten sich über eine Karte der Wälder, der helle Haarschopf dicht neben dem rabenschwarzen, und begannen eine leise Diskussion über mögliche Kampfplätze und die geeignetste Vorgehensweise. Logan war früher die rechte Hand meines Onkels gewesen. In jenen ersten Monden, als Jaro die Bürde des Clanführers übernommen hatte, die von meinem Vater auf ihn übergegangen war, war er ihm nicht von der Seite gewichen. Logan blickte kurz auf, unsere Blicke trafen sich, und ich nickte ihm lächelnd zu. Ich hatte den ernsten, nachdenklichen Mann immer gemocht. Sein Mund verzog sich ebenfalls zu einem kleinen Lächeln, ehe er sich wieder der Karte zuwandte.
So, wie es aussah, blieb mir gerade noch genug Zeit, die Kleider zu wechseln und meine Waffen umzuschnallen. Ächzend ließ ich mich vor dem offenen Feuer nieder, zog mir die durchweichten Stiefel von den Füßen und stellte sie zum Trocknen vor den Kamin. Dann streifte ich mir mein zweites Paar über. Im Winter wechselten wir die schweren Lederstiefel jeden Tag, da der hohe Schnee jedes noch so gut gearbeitete Paar binnen kürzester Zeit durchnässte und das Leder einen vollen Tag benötigte, um wieder zu trocknen. Aiden setzte sich neben mich und schälte sich mit raschen Bewegungen aus seinem triefend nassen Hemd.
„Schau einer an“, spottete ich lächelnd. „Ist dir etwa warm geworden, Cousin?“
Aiden warf mir einen bösen Blick zu, und ich grinste vergnügt in mich hinein. Die Ladung Schnee, die ich ihm in den Kragen gestopft hatte, schien seinen Übermut etwas abgekühlt zu haben. Aiden liebte es, mich aufzuziehen, doch er zog immer den Kürzeren dabei.
„Jaro hat alle Kämpfer der Siedlung zusammengetrommelt“, meinte mein Cousin einen Moment später, die Augen auf die beinernen Knöpfe des trockenen Leinenhemdes gerichtet, die er nun einen nach dem anderen schloss. Mein Blick blieb nachdenklich auf dem zierlichen Symbol hängen, das jeden einzelnen Knopf schmückte: eine aufgehende Sonne, das Zeichen unseres Clans. Es war mein Vater gewesen, der den Clan gegründet hatte, und er hatte sich für die Sonne als Symbol entschieden, da sie der Gegenpart des Schattens und der Dunkelheit war, die er mit unseren Gegnern verband. Mein Vater, der seine eigenen Ideale verraten hatte. Am Ende war er zu dem geworden, das er zu bekämpfen gesucht hatte.
„Scheint ernst zu sein. Endlich! Es war so langweilig in letzter Zeit! Der Schattenclan war viel zu ruhig!“, riss mich Aidens Stimme aus meinen Gedanken. Er schien es nicht erwarten zu können, endlich in den Kampf zu ziehen, und ich erkannte besorgt das begeisterte Glitzernd in seinen Augen. Es würde sein erstes richtiges Gefecht werden, und er wollte sich als Mann beweisen. Ich bezweifelte, dass er nach dem heutigen Tag noch so erpicht darauf sein würde.
„Ich habe nichts gegen Langeweile“, murmelte ich.
„Ich weiß, du kämpfst nicht so gern. Aber hast du vergessen, dass es dein werter Onkel war, dem wir all das zu verdanken haben? Er kennt keine Skrupel, warum also sollten wir Mitleid mit ihm und den Seinen haben?“ Für Aiden war alles so einfach.
„Er war auch dein Onkel, wenn ich dich erinnern darf. Und ihn“, ich biss die Zähne zusammen, „ihn würde ich mit Freuden töten, wenn er denn noch leben würde!“
„Das klingt doch schon besser! Auf in den Kampf! Immerhin kannst du ja vielleicht einen unserer Cousins abschlachten“, schlug Aiden gut gelaunt vor. Mit diesen Worten klopfte er mir aufmunternd auf die Schulter und erhob sich dann, wohl, um seine Waffen umzulegen und sich kampfbereit zu machen.
Ich sah ihm kopfschüttelnd hinterher. Selbst der Gedanke, dass mir heute vielleicht Elenzar vor das Schwert laufen würde, bot mir nur einen schwachen Trost. Ich mochte ein passabler Kämpfer sein, und ich sah ein, dass ein Kampf manchmal unumgänglich war, doch das Töten bereitete mit kein Vergnügen.
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