Beschreibung
Joselito soll schwimmen lernen, doch er fürchtet sich, denn im See sollen Nixen hausen, die selbst die stärksten Männer unter das Wasser ziehen.
Seiten: 7
Cover: © liliya kulianionak@Fotolia.com
Nixen im See
„Ich mag aber nich.“ Joselito stand am Ufer des Sees und blickte missmutig auf die kleinen Wellen zu seinen Füßen.
„Du möchtest doch schwimmen lernen, Lito?“, fragte Serhan. Der Vater des Jungen stand im Wasser, das lediglich seine Oberschenkel umspielte, und hatte die Hände in die Hüften gestemmt. „Alle mutigen und tapferen Männer können Schwimmen. Du willst doch ein mutiger und tapferer Mann sein, oder nicht?“
Der Junge nickte, fühlte sich dabei jedoch alles andere als wohl in seiner Haut. Er war doch noch klein, erlebte eben erst seinen vierten Sommer und hatte noch so viel Zeit um ein mutiger Mann zu werden.
„Das Wasser is kalt“, fand er einen neuen Grund, obwohl das Nass kaum seine Zehenspitzen erreichte. Ganz sicher war es auch unheimlich tief. Außerdem hatte Pierre, der Trinker aus dem Dorf, erzählt, dass es sogar Nixen geben sollte, die erwachsene Männer unter Wasser ziehen. Im Allgemeinen war Joselito kein Angsthase, aber dieser Gedanke ließ ihn doch noch einen Schritt vom Wasser zurück weichen.
„Du bist ein Hasenfuß“, hörte der Junge Serhans Stimme vom See her. Er hob den Blick und sah noch, wie der große Mann ins Wasser eintauchte. Nur einen Augenblick später erschien der nasse Kopf wieder. Serhan schwamm ein paar Züge, drehte sich dann im Wasser und winkte seinem Jungen zu. „Na komm!“, rief er. „Du brauchst doch keine Angst haben! Das Wasser ist herrlich! Und ich bin bei dir!“
Joselito atmete einmal tief durch. Er bewunderte seinen Vater. Serhan war ein mutiger, großer und starker Mann. Niemals könnte irgendjemand ihm wehtun. Serhan könnte ganz sicher auch gegen die Nixen bestehen. Und ganz bestimmt würde er dabei auch noch auf ihn aufpassen. Der Bursche atmete noch einmal durch, blickte wieder auf die Wellen vor sich und watete langsam hinein.
Das Wasser war nicht ganz so kalt, wie der Junge erwartete. Ein erleichtertes Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab und er wagte sich gar noch zwei weitere Schritte hinein. Doch dann stieß er mit dem Fuß gegen etwas Weiches, Glitschiges. Es fühlte sich eklig an und Joselito blieb augenblicklich stehen. Sicher waren das die glitschigen Finger der Nixen, die schon nach ihm griffen.
„Papa!“, rief er voller Furcht: „Papa!“ Angstvoll glitten die blauen Augen des Jungen über die Wasseroberfläche, die so trügerisch glatt und glitzernd in der Sonne lag. Doch von Serhan war nichts zu sehen. Joselito spürte, wie sein Herz in der Brust immer schneller pochte. Voller Panik schrie er: „Papa!“ Die Nixen hatten ihn geholt. Aber nein, das wollte Lito nicht glauben. Sicher kämpfte Serhan noch mit den Nixen, irgendwo unter der Wasseroberfläche. Der Junge löste die Hände von seinen Ärmchen, knetete die Finger und betete, dass sein Papa ebenso stark sein würde wie immer. Jeden Augenblick musste Serhan auftauchen. Doch der See blieb ruhig. Kleine Wellen umspielten die Waden des Burschen und von den Bäumen auf der Wiese sangen die Vögel. Nichts wies auf den grausigen Kampf hin, der sich in den Tiefen abspielte. Allmählich begann Joselito zu zweifeln. Was, wenn Serhan nicht stark genug war, um die Nixen zu besiegen?
Plötzlich teilte sich das Wasser nur wenige Schritte vor dem Jungen. Eine riesige Wasserfontäne spritzte auf und ließ Joselito aufschreien. Aus dem Wasser kam ein Ungeheuer. Es war riesengroß, hatte zottelige, lange, grüne Haare und Hände, die zu Klauen geformt waren. Es war eine Nixe, die nach ihm greifen wollte und ihn ebenso wie zuvor Serhan in die Tiefen des Sees ziehen würde. Joselito schrie schrill auf, hob schützend die Hände und stolperte Rückwärts. Er landete auf dem Hintern, schloss die Augen so fest er konnte und rollte sich ganz klein zusammen.
„Lito.“
Joselito spürte, wie warme, nasse Hände nach ihm griffen und er schrie noch einmal auf. „Joselito, beruhige dich. Ich bin es doch.“
Der Junge erkannte die raue Stimme seines Vaters. Zögernd, unsicher und mit Tränen verschleiertem Gesicht öffnete er die Augen und lugte zwischen seinen Armen hindurch. Da kniete Serhan vor ihm. Eben schob er einen ganzen Haufen von langblättrigen, grünen Seetang von seinem Kopf.
„Papa!“ Erleichtert sprang der Junge auf und warf sich in die Arme seines Vaters. Mit weinerlicher Stimme fragte er nach: „Die Nixen habn dich nich geholt, ja?“
„Aber ich bin doch hier. Von was sprichst du denn?“ Serhan schob den Jungen ein wenig von sich und betrachtete ihn. Joselito zitterte am ganzen Leib und seine Lippen waren blau angelaufen. Rasch schloss er das bibbernde Kind wieder in seine Arme und trug es den Hang hinauf zur Decke, wo ihre Sachen lagen. Joselito drückte sich dicht an seinen Vater. Tränen rannen immer noch aus seinen Augen und es dauerte einen Moment, ehe er antwortete: „Die Nixen, die im See wohnen tun. Der Pierre hat gesacht, die ziehn alle unter Wasser.“
„So, das sagt der Pierre also.“ An der Decke angekommen, zog Serhan dem Burschen sein Hemd über. Er fasste Lito an den Armen und der Junge sah sich den prüfenden und ernsten Blicken des Vaters ausgesetzt. Ängstlich erwiderte das Kind den Blick. Doch als Joselito von Serhan fest in den Arm genommen und gedrückt wurde, wusste er, dass Serhan verstand, welche Furcht er ausgestanden hatte, weil der Vater so plötzlich verschwunden war.
„Weißt du was?“, sagte Serhan. „Die Nixen hätten mich gar nicht fangen können. Ich kenne nämlich ein Mittel, dass sie überhaupt nicht leiden können.“ Joselito schniefte, wischte sich mit dem Handrücken unter der Nase entlang und sah seinen Vater erwartungsvoll an. Serhan lächelte ihm geheimnisvoll zu, griff dann in den Essenskorb und zog einen Apfel heraus. Die blauen Augen des Jungen wurden skeptisch.
„Du flunkerst“, behauptete er.
„Aber nein“, Serhan schüttelte den Kopf und drückte dem Burschen den Apfel in die Hände. „Sage ich nicht immer, du wirst groß und stark, wenn du deinen Apfel auf isst?“
Joselito nickte.
„Siehst du? Das ist so, weil in jedem Apfel ein klein wenig Stärke drin ist. Und davor haben die Nixen natürlich unglaubliche Angst.“ Joselito drehte den Apfel in den Händen und betrachtete abwechselnd die Frucht und seinen Vater. Dieser nickte ihm aufmunternd zu. Schließlich biss der Junge einfach hinein. Er schloss die Augen und kaute auf der saftigen, süßen Frucht. Im Geiste schwamm er neben Serhan im See, tief unter ihm bibberten die Nixen vor Angst und keine traute sich zu ihm nach oben.