5. Der Besucher
Caitlin
Ruhelos warf ich mich im Bett herum. Immer wieder hörte ich das leise Fauchen Elenzars, sah seine roten Augen blitzen, ein bedrohliches Glühen in der Dunkelheit, das mir einen Schauer über den Rücken jagte... Und dann war da dieser seltsame, fremde Vampir, der mir einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte. Sanfte, dunkle Augen, die in die meinen sahen, eine zarte Berührung, die ich noch immer einem flammenden Mal gleich auf meiner Wange zu spüren glaubte...
Ein leises Klopfen an meinem Fenster riss mich abrupt aus meinen Gedanken. Ich zuckte erschrocken zusammen. Das war ganz und gar unmöglich! Es war zu hoch, kein Mensch konnte so weit hinauf reichen, zwischen meinem Fensterbrett und dem Erdboden lagen mehr als zwei Mannslängen! Und doch – da war es wieder. Es war jemand vor meinem Fenster! Mein gesunder Menschenverstand gebot mir, mich nicht von der Stelle zu rühren, oder, noch besser, um Hilfe zu rufen und Kian oder Großvater nachsehen zu lassen...aber vielleicht war Er es ja! Er hatte schließlich gesagt, dass ich ihn wiedersehen würde, wenngleich ich es nicht für möglich gehalten hätte, dass es so schnell geschehen würde. Unschlüssig starrte ich zum dunklen Schatten des Fensters hinüber. Durch die Ritzen drang ganz schwach das bleiche Licht des Mondes. Sollte ich es wagen? Kian würde es nicht gutheißen – er hatte mich gewarnt. Und doch konnte ich nicht anders. Zögernd setzte ich mich auf und schlug die Bettdecke zurück. Das Klopfen wurde lauter, drängender. Was, wenn ihn jemand dort draußen sah, schoss es mir auf einmal durch den Kopf. Es wäre mein Tod – und der meiner Familie wohl noch dazu - sollte ihn jemand an meinem Fenster entdecken. Dieser Gedanke, gepaart mit einer unglaublichen Neugierde, gab den Ausschlag. Rasch huschte ich zum Fenster hinüber, entriegelte den Fensterladen und stieß die aus schwerem Holz gefertigten Flügel weit nach außen auf.
Nichts! Tiefe Stille lag über dem Dorf. Da war niemand! Ich starrte in die dunkle Nacht hinaus und kam mir dabei unglaublich töricht vor.
Natürlich war er nicht gekommen! Er hatte mich gerettet – vielleicht hatte er Mitleid mit mir gehabt, vielleicht hatte er meine verzweifelten Schreie vernommen, und ich hatte ihn gedauert. Welchen Grund hatte er, mich erneut aufzusuchen, nun, da ich in Sicherheit war? Vielleicht hatte er mich bereits wieder vergessen. Was auch nicht sonderlich verwunderlich wäre. Ich war schließlich nichts Besonderes. Doch wer hatte dann an das Fenster geklopft? Ich war mir so sicher gewesen, etwas gehört zu haben. Wahrscheinlich waren meine Nerven einfach überreizt, sagte ich mir nach einer kleinen Weile. Ich hörte schon Gespenster! Vielleicht sollte ich doch ein wenig schlafen.
Seufzend beugte ich mich aus dem Fenster, um die Läden wieder zu schließen, als ich einen lautlosen Schatten zu sehen glaubte, der blitzschnell über mich hinweg huschte. Erschrocken fuhr ich herum, die Hand auf den Mund gepresst, um den überraschten Aufschrei zu ersticken.
Er hatte sich auf der Bettkante niedergelassen, dort, wo noch kurze Zeit zuvor mein Bruder gesessen hatte. Sein Blick ruhte auf mir, unergründlich, umgeben von dunklen Schatten, die ich nicht zu durchdringen vermochte. Ich fragte mich, ob mir meine Augen einen Streich spielten oder ob es tatsächlich so war, dass das schwache Licht, das zum Fenster herein drang, um ihn herum heller erschien, ihn schmeichelnd umspielte, seine Augen jedoch in tieferen Schatten lagen, als es eigentlich möglich sein sollte.
Mit einem Ruck zog ich die Fensterläden zu – offene Läden gehörten zu jenen Dingen, die verboten waren, und ich wollte mein Glück nicht überstrapazieren. Dann tastete ich nach dem Zunder und entfachte erneut die Kerze, die auf der Truhe neben dem Bett stand.
Langsam und vorsichtig näherte ich mich dann meinem Besucher und setzte mich schließlich neben ihn auf die Bettkante. Ich zitterte wieder, in der Stille hörte ich deutlich das leise Klappern, mit dem meine Zähne aufeinander trafen. Die Nachtluft war eisig kalt, eine schneidende Kälte, die vom Nahen des Winters kündigte, und ich hatte zu lange am offenen Fenster gestanden. Wortlos langte der Fremde nach der gewebten, bunt gemusterten Decke, die auf meinem Bett lag, und hüllte mich darin ein. Ich glaubte, die Wärme seiner Haut selbst durch den dicken Stoff hindurch zu spüren, als seine Hände einen winzigen Augenblick länger auf meinen Schultern verweilten, als es notwendig gewesen wäre. Seine Augen schimmerten jetzt, da er sich mir zugewandt hatte, im flackernden Schein der Kerze in einem so intensiven, dunklen Braunton, dass sie beinahe schwarz wirkten.
„Wer bist du?“, flüsterte ich.
„Mein Name ist Ray, Sohn des Cedric. Und du bist Caitlin, ein Kind der Menschen“, erwiderte er leise. Er musterte mich aufmerksam, während er sprach, als erwarte er, dass ich spätestens jetzt vor ihm zurückschrecken würde. Wahrscheinlich sollte ich auch Angst empfinden. Er war ein Vampir – und damit ein Todfeind der Menschen. Wir waren nur ihre Beute, die Nahrung für seine Rasse. Und dennoch hatte er mir heute das Leben gerettet. Ich fühlte mich sicher in seiner Nähe. Noch nie zuvor hatte ich mich so sicher gefühlt.
„Woher kennst du meinen Namen?“, fragte ich.
„Ich beobachte dich schon eine ganze Weile“, antwortete er leise und wandte den Blick ab. „Ich beobachte dich seit jenem Tag, da du meinem Cousin das erste Mal entkamst.“
„Dieser rotäugige Vampir, der mich töten wollte, ist dein Cousin?“ keuchte ich. Und noch eine andere Frage brannte mir auf der Zunge – er hatte mich beobachtet? Mir lief ein eisiger Schauer den Rücken hinab. War das der Grund, hatte er deswegen so genau gewusst, wo ich wohnte – weil er schon öfter hier gewesen war?
„Elenzar ist der Sohn von Carum, der ein Bruder meines Vaters war, und somit mein Cousin, ja“, antwortete Ray düster. „Man kann sich seine Verwandtschaft nicht aussuchen, und ich würde nichts lieber tun, als ihn vom Angesicht dieser Erde zu tilgen. Doch so leicht lässt er sich nicht umbringen – der Dreckskerl ist wendig wie ein Wiesel, und er begibt sich nie in eine Situation, die er nicht beherrschen kann. Ich hätte heute versucht, ihn zu erledigen, aber er war niemals allein. Dir ist es vielleicht nicht aufgefallen, aber es waren zwei Vampire, die uns verfolgten – Elenzar wagt sich nie alleine auf die Jagd. Und ich konnte dich nicht verlassen, das wusste er. Ihm drohte keine Gefahr.“ Selbst im schwachen Schein der Kerze konnte ich deutlich sehen, wie sich sein ganzer Körper anspannte und versteifte. Seine rechte Hand, die zuvor entspannt auf seinem Schenkel geruht hatte, ballte sich zur Faust. Ich fragte mich, welche Ereignisse in der Vergangenheit wohl zu diesem Hass geführt haben mochten, der in ihm zu lodern schien wie eine heiße Flamme, die sich selbst verzehrt, wenn sie keine Nahrung mehr findet.
„Und weshalb trachtet er mir nach dem Leben und du nicht? Was bist du, Ray? Du bist nicht wie die anderen Vampire“, stellte ich vorsichtig fest. Seltsamerweise empfand ich immer noch keine Angst vor ihm, obwohl der Zorn, den er ausstrahlte, beinahe greifbar schien.
„Weshalb bist du dir da so sicher?“ Mit einem Ruck fuhr sein Kopf zu mir herum, und sein Blick schien sich regelrecht in den meinen zu brennen.
„Du hast mich gerettet. Du hast nicht einmal versucht, nach meiner Kehle zu schnappen. Warum?“
„Nicht alle Vampire töten Menschen, Caitlin. Mein Clan erachtet es als Unrecht, menschliches Leben zu nehmen.“ Er schien sich langsam zu entspannen, seine Schultern sanken herab, und die Falten zwischen seinen Augen glätteten sich. Er hielt leise seufzend inne, und dann sprudelten die Worte auf einmal nur so aus ihm heraus. „Wie kann es recht sein, Menschen zu töten? Sie sind uns nicht unähnlich, unsere Rassen sind sehr nah verwandt – wie nah, das wollen sich die meisten von uns nicht eingestehen! Ihr seid fühlende, lebende Wesen, und ihr besitzt eine Seele. Wie kann es recht sein, euch zu töten, wenn es nicht notwendig ist? Wir brauchen kein menschliches Blut, wir können uns anders ernähren! Nur weil menschliches Blut uns mehr Kraft verleiht, weil es besser schmeckt... !“ Seine Stimme brach. Tiefe Verzweiflung glomm nun in seinen Augen, der Zorn war vollständig gewichen. Er saß nicht mehr hier in meiner Kammer auf meiner Bettkante. Ray war an einem anderen, dunklen Ort, in einer anderen Zeit. Ich fragte mich, welche Erinnerungen es wohl waren, die ihn peinigten, und ob diese Erinnerungen der Grund jener seltsamen Traurigkeit waren, die ich in seinen Augen zu erkennen geglaubt hatte. Seine Augen – hier, im weichen Schein der Kerze, hatte sich mir ihre Farbe offenbart, ein dunkler, warmer Braunton, ähnlich der Farbe von Buchenrinde im Regen, der mir seltsam bekannt erschien.
Wie gebannt starrte ich ihn an. Ich wusste wieder, wo ich diese Augen schon einmal gesehen hatte. Wann. Weshalb ich mich so unerklärlich sicher in seiner Nähe fühlte. Wie ein Blitzschlag durchfuhr mich die Erkenntnis.
„Ich kenne dich! Du hast mir bereits das zweite Mal das Leben gerettet!“, entfuhr es mir.
Der starre, verzweifelte Ausdruck wich aus seinen Augen, und sein Blick wurde sanft, als er mich ansah. Dann nickte er wortlos. Ein leises Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Wärme durchströmte mich, und mein Herz begann aus irgendeinem unerfindlichen Grund ein wenig schneller zu schlagen. Er sah so viel jünger und sorgloser aus, wenn er lächelte. Es bezauberte mich, und ich spürte, wie sich meine Lippen ebenfalls zu einem Lächeln verzogen. Einen unmessbaren Augenblick saßen wir so schweigend nebeneinander und lächelten. Die Welt hätte in Flammen aufgehen können, und ich hätte es nicht bemerkt.
Ray war es, der irgendwann den Bann brach. Er wandte den Blick ab und atmete tief ein. Ich schüttelte leicht den Kopf, um meine Gedanken zu klären.
„Warum?“, brachte ich schließlich heraus.
„Warum was?“, gab er die Frage zurück.
„Warum hast du mich gerettet?“, führte ich aus. „Bitte versteh mich nicht falsch, ich bin dir sehr dankbar, ich begreife es nur nicht so ganz, glaube ich. Warum hast du mich gerettet, damals und heute?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete er so leise, dass ich ihn gerade noch verstehen konnte. „Ich...konnte einfach nicht anders. Ich weiß es nicht!“ War das Furcht, die ich in seiner Stimme vernahm?
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollten. Ich beobachtete ihn schweigend, wie sich seine Schultern mit jedem Atemzug sanft anhoben und wieder heruntersanken, wie das rabenschwarze Haar im Licht der Kerze schimmerte. Eine ganze Weile verharrte er so, halb von mir abgewandt, den Blick in die Ferne gerichtet.
Als er sich schließlich wieder zu mir umwandte, war sein Blick sehr ernst.
„Was auch immer meine Beweggründe gewesen sein mögen, ich möchte dich nicht umsonst gerettet haben. Wenn du das nächste Mal, aus welchem Grund auch immer, den Wald betreten musst, lass es mich vorher wissen. Ich werde da sein und auf dich Acht geben.“
„Werden Vampire nicht vom Sonnenlicht getötet? Ich bin doch Tags vor ihnen sicher, nicht wahr?“
Ray zog die Augenbrauen hoch und schenkte mir einen mitleidigen Blick. „Glaubt ihr Menschen das wirklich?“ Seufzend schüttelte er den Kopf. „Die meisten Raubtiere jagen des Nachts, so auch die Vampire, doch das bedeutet nicht, dass wir nicht auch tagsüber auf die Jagd gehen können, wenn uns danach ist. Du bist niemals vor ihnen sicher!“
Ich musste schlucken.
„Und was soll ich dann tun?“, fragte ich. „Soll ich nur noch in Begleitung den Wald betreten? Das tue ich für gewöhnlich auch, nur heute konnte ich niemanden finden, und ich hatte auch nicht vor, mich zu verlaufen...“
„Ja, von nun an gehst du nur noch in Begleitung in den Wald. Meide ihn so gut es geht, doch wenn du ihn betreten musst, lass es mich wissen, und ich werde da sein oder jemanden schicken, der Wache hält“, bestimmte Ray. „Jaro sollte die Wachen ohnehin verstärken“, murmelte er leise vor sich hin. „Wir werden das Dorf von nun an nicht mehr aus den Augen lassen. Das hier ist unser Gebiet, und das wissen sie!“
„Und wie soll ich es dich wissen lassen, dass ich in den Wald gehe?“ fragte ich verwundert und überging bewusst seine letzte Bemerkung, die nur zu meiner Verwirrung beigetragen hatte und die ganz offensichtlich auch nicht für mich bestimmt gewesen war.
„Schreib mit Kreide eine Nachricht auf das Fensterbrett, bevor du schlafen gehst. Die Rune des Schutzes“, schlug Ray vor.
Mit offenem Mund starrte ich ihn an. „Woher weißt du, dass ich schreiben kann?“, hauchte ich erschrocken. Schreiben war eigentlich eine Fähigkeit, die den Männern vorbehalten war. Es hieß, die Runen seien uns von den Magiern überliefert worden, und ihnen wohne eine Magie inne, die durch die Hand einer Frau entweiht würde.
Großvater war jedoch immer anderer Meinung gewesen, erinnerte ich mich.
*****
„Albernes Gewäsch!“, hatte er nur gemeint, als ich eines Tages völlig aufgelöst nach Hause gerannt war und mich in seine Arme geflüchtet hatte. Ich hatte damals sieben oder acht Sommer gezählt. Mein Freund Duncan hatte mich dabei erwischt, wie ich gedankenverloren bedeutungslose Zeichen in den Schlamm am Fluss geritzt hatte, und hatte mir erklärt, es zöge das Böse an, wenn eine Frau Zeichen ritzte, und ich solle es nie wieder tun.
„Der Rat weiß sehr genau, dass das alles Unfug und Aberglaube ist. Zumindest der Teil des Rates, der lesen kann. Aber es kommt ihnen durchaus gelegen, deswegen haben sie es den Frauen tatsächlich bei Strafe verboten, die Kunst des Schreibens zu erlernen. Frauen sollten möglichst nicht in die Geschäfte ihrer Männer Einblick erhalten können, das ist der wahre Grund. Je weniger sie von der Welt da draußen wissen, desto weniger werden sie die Worte ihrer Männer in Zweifel ziehen, desto weniger werden sie ihren Entscheidungen widersprechen.“ Großvater hatte grimmig genickt.
„Machtversessene Bande!“, hatte er dann wie so oft vor sich hin geschimpft. „So viel verlorenes Wissen, das in den Kellern des Ratshauses verborgen schlummert! Wie sollen wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, wenn kaum einer noch die Geschichtsbücher liest? Und niemand wagt es mehr, das Wort dieses versoffenen Priesters in Frage zu stellen, weil niemand mehr die heiligen Bücher lesen kann!“ Dann hatte er mich angesehen und verschmitzt gegrinst.
„Ich werde dir die Zeichen beibringen, Kind, wenn du reif dafür bist“, hatte er mir verschwörerisch zugeflüstert. „Wie deiner Mutter auch, vor so langer Zeit. Du darfst es nur niemandem erzählen!“
„Es mag einmal der Tag kommen, an dem es sich als ganz nützlich erweisen wird, wenn du lesen und schreiben kannst, Kind!“, hatte er gedankenverloren angefügt.
Und er hatte Wort gehalten. Als ich vierzehn Sommer zählte, war er der Ansicht, ich sei nun alt genug, das Geheimnis der Runen zu wahren, und er hatte mich in die Kunst des Lesens und auch des Schreibens eingeweiht. Natürlich besaßen wir nur wenige Bücher, doch diese wurden wie ein kostbarer Schatz gehütet, wenngleich sie gut versteckt werden mussten. Mein Großvater las nicht die Art von Büchern, die der Rat guthieß.
*****
„Du versteckst ein Buch unter deinem Bett. Wenn du lesen kannst, kannst du auch schreiben“, antwortete Ray ebenso leise und holte mich damit wieder in die Gegenwart zurück. Ich blickte ihn entsetzt an.
Woher wusste er von dem Buch? Ich hätte es besser verbergen müssen! Ich war viel zu leichtsinnig. Aber es hatte noch nie eine der Wachen Einlass in unser Haus begehrt, mein Bruder Connor hatte noch genug Einfluss, um das zu verhindern, und so hatte mich mir nicht allzu viele Gedanken darüber gemacht, dass es jemand finden könnte. Dennoch war ich mir sicher, es so weit unter das Bett geschoben zu haben, dass Ray es unmöglich sehen konnte!
„Und wie willst du diese Nachricht lesen?“ brachte ich schließlich mühsam heraus. „Wenn ich das Zeichen so groß male, dass du es von der Straße aus lesen kannst, brächte mich das in größte Gefahr – was, wenn es jemand bemerkt? Und selbst um es von der Straße aus zu lesen müsstest du ins Dorf kommen...“
Ray riss sich sichtlich zusammen, dennoch sah ich den Schalk in seinen Augen blitzen. „Du kannst das Zeichen klein und unauffällig in eine Ecke malen – wenn ich unter deinem Fenster wache, bin ich nahe genug. Vampire sehen ein klein wenig besser als Menschen.“
„Wenn du unter meinem Fenster wachst? D-du kommst hierher?“ japste ich entsetzt. „Was, wenn dich jemand sieht? Ich bin des Todes, sollten sie dich hier erwischen, bist du dir dessen bewusst?“
Der Scheiterhaufen war mir gewiss, sollte irgend jemand seine Anwesenheit bemerken. Vampirbuhlen wurden Menschen wie ich genannt, und für ihren Verrat an der Gemeinschaft wurden sie mit dem Tode bestraft. Der Scheiterhaufen war das übliche Vorgehen, natürlich konnten sie mich auch strangulieren, strecken oder vierteilen – und davor würde ich so lange gefoltert, bis ich mein Vergehen gestand - mir wurde übel. Der oberste Richter Bran hatte den Ruf, sehr hart gegen jene vorzugehen, die eine mögliche Gefahr für das Dorf darstellten. Ich hatte nur am Rande die Gespräche der Männer mitbekommen, doch wenn die Sprache auf die Keller unter dem Ratshaus kam, wich selbst Männern wie meinem Bruder Connor das Blut aus dem Gesicht. Duncan, mein Spielgefährte aus Kindertagen, der ab und an als Wache am Tor oder in jenen düsteren Kellern seinen Dienst versah, war nicht sehr mitteilsam, doch aus dem wenigen, das er sagte, und dem, was er nicht sagte, zog ich so meine Schlüsse. Und ich konnte mich nur zu gut an die eine öffentliche Hinrichtung erinnern, der ich beigewohnt hatte. Das Gesetz zwang jeden Dorfbewohner, diesem grausigen Schauspiel beizuwohnen, der abschreckenden Wirkung wegen, wie mir Kian erklärt hatte. Er hatte dicht neben mir gestanden, den Arm beruhigend um meine Schultern gelegt, und ich hatte den Kopf an seiner Brust vergraben, als ich es nicht mehr ertragen hatte, hinzusehen...
Ray wurde augenblicklich ernst. „Caitlin, ich bin mir der Gefahr, in der du meinetwegen schwebst, durchaus bewusst. Ich werde dein Leben nicht unnötig gefährden. Ich werde vorsichtig sein“, versprach er mir. „Aber die Gefahr, die von den Vampiren ausgeht, ist wesentlich größer als die, die dir von den Menschen droht, glaube mir!“, erwiderte er mit einem bitteren Unterton. „Und bis jetzt hat mich noch nie irgendwer entdeckt.“ Selbstsicher grinste er mich an und entblößte dabei weiß blitzende, scharfe Zähne. Es war jedoch ein Lächeln, dass seine Augen nicht erreichte, und es schmerzte fast, die Trauer wieder in seinen Blick zurückkehren zu sehen.
„Bis jetzt?“, fragte ich schwach. „Wie oft warst du denn schon hier?“
„Willst du das wirklich wissen?“, fragte er leise.
Ich zog die Augenbrauen hoch und warf ihm einen auffordernden Blick zu.
„Fast jede Nacht... ich sitze oft unter deinem Fenster und wache über deinen Schlaf“, gestand er mir nach einer kleinen Weile.
„Weshalb?" Meine Stimme klang unnatürlich hoch.
„Wie gesagt: es wäre sinnlos gewesen, dich zu retten, wenn ich dich anschließend dem Tod überantwortet hätte. Du wirst niemals vor Elenzar sicher sein – er wird nicht eher ruhen, als bis er sein Ziel erreicht hat.“
Ein eisiger Schauer rann meinen Rücken hinab, als er so beiläufig von meinem Tod sprach. Doch dann gewann die Wut die Überhand.
„Aber warum nur? Ich habe nichts getan!“ empörte ich mich.
„Du hast überlebt. Weil ich dich gerettet habe. Die Tatsache, dass du überlebt hast, wäre schon Grund genug gewesen. Aber dass ich es war, der dich rettete... Ich nahm Anteil an deinem Schicksal, so wusste er, dass dein Tod mich verletzen würde“, erklärte Ray leise und eindringlich. „Es ist meine Schuld.“
Ich wollte ihm widersprechen – immerhin verdankte ich ihm mein Leben, und ich verstand nicht so recht, warum er sich selbst die Schuld für die Taten anderer zu geben schien. Doch als ich den Mund öffnete, verzog der sich zu einem langen, tiefen Gähnen. Ray musterte mich wissend.
„Das war heute ein langer Tag für dich. Du solltest jetzt schlafen“, stellte er fest.
„Du passt auf mich auf?“ vergewisserte ich mich, ein erneutes Gähnen mühsam unterdrückend.
„Ich bin hier, niemand kommt an mir vorbei“, versicherte er mir ernsthaft. Und ich glaubte ihm. Ich fühlte meine Lider schwer werden, und mit großer Mühe zwang ich mich dazu, noch einmal zu ihm aufzublicken. Seine Augen schienen in der Dunkelheit regelrecht schwarz zu glühen! Mein Herz begann zu rasen, als ich in diesen ausdrucksstarken Augen ertrank. Dann wich er langsam von mir zurück, bis er schließlich an der meinem Bett gegenüberliegenden Wand angelangt war, so weit von mir entfernt, wie es in der schmalen Kammer möglich war. Dort ließ er sich nieder, die Beine ineinander verschränkt, den Kopf gegen dunklen die Holzlatten gelehnt. Ich schluckte. Die Endgültigkeit des Augenblickes senkte sich als düstere Ahnung wie eine bleierne Decke über mich. Es fühlte sich so an, als würde er sich stumm von mir verabschieden. Schmerz erfüllte mich bei dem Gedanken, ich könnte ihn nie wieder sehen. Wortlos flehten ihn meine Augen an, versuchten, den entstandenen Graben zu überbrücken.
Langsam schüttelte er den Kopf. „Du solltest jetzt schlafen“, murmelte er, doch er hatte den Blick von mir abgewandt. Als er sich mir wieder zuwandte, war jedwede Regung aus seinen Augen verschwunden. Ich seufzte und ließ mich langsam in mein Kissen zurücksinken.
„Träum süß, Caitlin“, hörte ich ihn noch leise flüstern, und dann umfing mich das dumpfe Vergessen des Schlafes.
(c) by Schneeflocke