Eine chinesische Weisheit, die ich irgendwo aufgeschnappt habe, besagt: »Der Mensch streicht seine Erinnerungen mit einem goldenen Pinsel.« In diesem Satz steckt sehr viel Wahrheit, denn wie oft kommt es schließlich vor, dass man über Erinnerungen an Geschehenes lacht, das einem einstmals so viele Sorgenfalten auf die Stirn trieb? Und werden die schönsten aller Erlebnisse, in die wir während unseres Daseins hineinstolpern, in der Erinnerung nicht meistens zu wahren Gedankengemälden? Auch heute denke ich oft darüber nach, ob mir meine eigene Erinnerung nicht vielleicht doch nur einen Streich spielt, den goldenen Pinsel zu tief in den
Farbtopf taucht und den Bildern in meinem Kopf zu sehr schmeichelt. Wahrscheinlich ist das tatsächlich so, und doch bin ich ganz sicher, dass zumindest dieser eine Abend, an den ich so gern und ebenso oft zurückdenke, auf seine Art für mich der schönste meines Lebens war. Das weiß ich heute, und irgendwie wusste ich es auch damals schon.
Ich kann mich nicht mehr an das genaue Datum erinnern, und ich weiß auch nicht, ob ich nun neun, zehn oder vielleicht sogar elf Jahre alt war, doch ich weiß noch genau, wie ich staunend und zugleich zweifelnd auf meinem
harten Holzstuhl hin und her rutschte, um dem Zauberer auf der Bühne in die Karten spähen zu können. Ich wusste, dass er nicht wirklich zaubern konnte, glaubte es zumindest zu wissen. Und doch staunte ich jedes Mal Bauklötze, wenn er meterlange Tuchschlangen aus einem schwarzen Zylinder zog, der doch vorher leer gewesen war. Oder wenn er seine ständig um ihn herumtanzende Assistentin plötzlich verschwinden und am anderen Ende der Bühne aus einer Kiste springen ließ. Und dann war da das Finale, als immer größere Kanarienvögel aus den verschlossenen Händen des Magiers kletterten, um auf seine Schulter zu steigen und von dort aus zum
Rundflug über das Publikum anzusetzen. Himmel, am Ende zauberte dieser Mann einen riesigen Papagei aus dem Nichts hervor! Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Mit offenem Mund saß ich da, während ich mich zugleich beeindruckt und irgendwie um die Wahrheit betrogen fühlte. Meinem Großvater, der mit mir zu der Vorstellung gegangen war, schien es da ganz anders zu gehen. Nach jedem Trick lachte er laut auf, klatsche in die Hände und pfiff dem Zauberer begeistert zu. Ich glaube, meinen Großvater in diesem Moment zu beobachten, beeindruckte mich noch viel
mehr.
Ja, es war eine tolle Show gewesen. Eine Show, wie man ihr auf einem Dorf nur selten begegnet – damals wie heute. Ich selbst war ein Stadtkind, gewöhnt an Lärm, Gestank und jede Menge verrückte Leute. Und vielleicht ließ ich mich gerade deswegen so gern an den Wochenenden von meinen Eltern aufs Land zu meinen Großeltern bringen. Denn außer einem kleinen Lebensmittelgeschäft auf der Ecke am Dorfeingang und krähenden Hähnen am Morgen, gab es eigentlich nichts, wofür es sich gelohnt hätte, seine Zeit auf dem Land zu vertun. Selbst die Zaubershow
fand noch nicht einmal in dem Ort statt, in dem meine Großeltern in ihrem alten Backsteinhaus lebten, sondern im wenige Kilometer entfernten Nachbardorf.
»Sollen wir auf den Bus warten, oder hast du Lust, nach Hause zu laufen? Ist ja eigentlich ein schöner Abend«, fragte mein Großvater mich, als wir aus dem großen Zelt kamen, das sie auf dem alten Marktplatz aufgestellt hatten. Der schöne Abend war maßlos untertrieben! Das Jahr machte gerade seinen goldenen Herbst durch, und so schien an diesem lauen Abend wirklich alles, jedes Gebäude, jede Straße und jeder Baum, in einen verheißungsvollen Orangeton
getaucht zu sein. Von den goldgelben Stoppelfeldern her wehte ein angenehmer Wind, den ich mir als kleiner Junge nur allzu gern um die Ohren wehen ließ.
»Zu Fuß«, entschloss ich mich daher rasch. Und so gingen wir los, Großvater und ich, spazierten gemütlich am Ortsschild vorbei und bogen in den Feldweg ein, der links und rechts von hochstehenden Kornfeldern flankiert wurde und dem man einfach nur geradeaus folgen musste, um zum Haus meiner Großeltern zu kommen.
Ich weiß noch, dass ich auf den ersten Metern sehr schweigsam war. Ich hing
meinen Gedanken nach, den Gedanken eines Kindes. Wie hatte dieser Zauberer nur all die Tricks bewerkstelligt? Ja klar, er hatte mich zum Staunen gebracht, hatte gezaubert. Und doch wollte ich hinter die Kulissen blicken, wollte wissen, wie er es geschafft hatte, all die Menschen so sehr hinters Licht zu führen und sich so den tosenden Applaus zu verdienen. Mein Großvater bemerkte schnell, dass wohl etwas mit mir nicht stimmte und fragte nach: »Alles in Ordnung, Thomas?«
Ich schwieg für einen Moment, wusste nicht, ob ich ihm die Wahrheit sagen sollte, denn irgendwie schämte ich mich
für das, was mir durch den Kopf ging. Doch dann hielt es meine Gedanken nicht länger auf ihrem Posten. Sie konnten es kaum erwarten, aus mir hervorzubrechen. »Ach, dieser Zauberer«, begann ich und seufzte. »Ich frag mich nur, wie er das gemacht hat!«
»Die Zauberkunststücken meinst du?«, fragte mein Großvater interessiert und schaute auf mich herab. Ich schätze, ich muss eine amüsante Figur abgegeben haben, wie ich so schmollend den Feldweg entlanglief.
»Ja, die
Tricks.«
»Nun, er hat eben einfach gezaubert, denke ich.«
»Aber das sind doch alles Tricks. Nur Tricks! Ich würde gern wissen, wie die funktionieren.« Ich hielt meinen Mund, dachte nach, ob ich fragen sollte und fragte tatsächlich, bevor ich überhaupt zu Ende gedacht hatte: »Großvater? Weißt du, wie er das alles gemacht hat? Das mit den Tüchern? Und wo er die Vögel versteckt hatte?«
Mein Großvater antwortete nicht. Er blickte kurz zum Himmel auf, ganz so,
als würde er dort nach der Antwort suchen, dann stellte er stattdessen eine Gegenfrage: »Hat dir denn gefallen, was du gesehen hast?«
»Ja, na klar, das war toll!«, platzte es aus mir heraus.
»Warum willst du denn dann wissen, wie er das gemacht hat? Vielleicht fändest du seine Kunststücke dann gar nicht mehr toll«, antwortete mein Großvater, der selbstverständlich wie immer Recht hatte. Er war mein Vorbild, mein Idol. Wohl vor allem, weil ich in ihm immer eine Art Mentor sah. Großvater war ein ruhiger Mann, der immer eine kluge
Antwort parat hatte und gleichwohl immer lachen konnte. Falls er jemals schlecht gelaunt gewesen sein sollte, so hatte ich es niemals bemerkt.
»Ich weiß nicht«, antwortete ich und klang dabei sicher ziemlich resigniert. »Ich würde es eben einfach gern wissen. Ich bin neugierig.«
Großvater schwieg. Wieder blickte er in den roten Abendhimmel. Auf seinem Gesicht lag ein nachdenkliches Lächeln, welches mir verriet, dass er wohl an etwas sehr Schönes denken musste. »Soll ich dir eine Geschichte erzählen? Vielleicht verstehst du dann, weshalb es
nicht immer gut ist, alles zu wissen«, murmelte er, ohne mich anzusehen.
»Hmm, na gut«, entgegnete ich. Liebend gern hätte ich einen Luftsprung gemacht, denn ich liebte Großvaters Geschichten. Doch die Sache mit dem Zauberer wurmte mich, und so tat ich absichtlich ein wenig beleidigt.
»Dann hör gut zu!«, begann Großvater und räusperte sich. »Als ich ein junger Mann war, Anfang zwanzig etwa, da lernte ich in der Stadt auf einem Fest eine wunderschöne Frau kennen. Sie war noch ein wenig jünger als ich und eine wirkliche Augenweide.«
»Was ist eine Augenweide?«, fragte ich dazwischen.
»Etwas sehr, sehr Schönes«, sagte mein Großvater und fuhr fort: »Ich redete den ganzen Abend über mit ihr, bis es schließlich dunkel wurde. Anschließend saßen wir bestimmt noch einmal so lange am See auf einer Bank und schauten uns die Sterne an. Meine Güte, ich hatte mich an diesem Abend so sehr in sie verliebt. Und sie sich in mich. Warst du schon einmal verliebt, Thomas?«
Ich kicherte. »Das sag ich nicht«, antwortete ich und schaute verlegen auf
meine eigenen Füße, die kleine Steine vor sich her kickten.
»Ich deute das mal als ein Ja«, sagte Großvater und kicherte ebenfalls. Ich sagte nichts dazu. Dann erzählte er seine Geschichte weiter: »Weißt du, es hätte alles so schön sein können. Zwei junge, verliebte Menschen, die einfach nur ihre ihnen gegebene Zeit genießen. Doch so leicht wollte es uns das Schicksal nicht machen. Denn wie sich schnell herausstellte, kam die junge Frau – Mathilde hieß sie übrigens –, von weit, weit her. Als ich mich am Abend von ihr verabschiedete, tauschten wir unsere Adressen aus, damit wir uns wenigstens
Briefe schreiben konnten. Und ach, was schrieben wir uns halbe Romane.« Großvater begann zu lachen.
»Großvater? Hat das irgendwas mit dem Zauberer zu tun?«, schoss es aus mir hervor, ohne dass ich es wollte. Am liebsten hätte ich mir eine Hand vor den Mund geschlagen, denn ich erwartete, dass mein Großvater nun nicht mehr weiter erzählen würde, weil ich so dumm dazwischen geredet hatte. Doch seine Antwort war eine gänzlich andere: »Oh ja, Thomas. Hab noch ein bisschen Geduld, okay?«
»Okay«, sagte ich.
»Eines Tages also, nachdem einige Briefe hin- und hergeflogen waren, beschlossen wir, uns endlich wieder zu treffen. Ich würde sie besuchen, hatte ich ihr in einem meiner Briefe versprochen, und ich hielt dieses Versprechen. Also stieg ich in den Zug, der mich zu ihr bringen sollte. Stundenlang saß ich in meinem Abteil, während die Bahn über die Schienen ratterte, hatte eine rote Rose in neben mir liegen und starrte aus dem Fenster, das mir die vorbeiziehende Landschaft zeigte. Ich war so aufgeregt! Dann, endlich, kam ich ans Ziel und fand sie sofort: Mathilde. Auf dem Bahnsteig wartete sie und winkte mir lächelnd zu.
Als würden meine Beine mir nicht mehr gehorchen, setzten sie sich von ganz allein in Bewegung. Wie ein Wettkampfläufer stürmte ich auf sie zu, schloss sie fest in die Arme, schaute in ihr wunderschönes Gesicht, in ihre tiefgrünen Augen und auf diese kleinen spitzen Eckzähnchen, die man sehen konnte, wenn sie lachte, und in die ich mich so verliebt hatte.«
»Wie kann man sich denn in Zähne verlieben?«, redete ich abermals dazwischen, worauf Großvater laut auflachte. Ich erinnere mich, dass er dabei wie ein junger Mann aussah. Überhaupt war mein Großvater kein Opa,
wie man ihn sich vielleicht vorstellen möchte. Nein, Großvater war ein adretter Mann, hochgewachsen, mit nur leicht grauem aber vollem Haar, einem kantigen Gesicht und dunklen, wissenden Augen. Er ging nie ohne Mantel, Melone und Gehstock aus dem Haus, und viele hätten ihn deshalb wohl für altmodisch gehalten, doch ich fand ihn immer sehr elegant. Ich wusste, wenn ich einmal groß war, dann würde ich mich so kleiden wie Großvater. Noch viele Jahre behielt sein Äußeres diese Jugend, und erst, als der Krebs ihn eines Tages aufzuzehren begann, verlor er sein ewig junges Aussehen, wurde mürrisch und ging gebeugt.
Doch an diesem Abend lag all das noch in weiter, weiter Ferne. An diesem Abend antwortete Großvater auf meine dumme Frage nach den Zähnen: »Weißt du Junge, manchmal beginnen die großen Dinge eben im Kleinen.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte ich enttäuscht.
»Glaub mir, du wirst es verstehen. Merk dir einfach, was ich gesagt habe. Eines Tages wirst du zu mir kommen und mir erzählen, dass du es verstehst. Und dann trinken wir ein Bier zusammen. Merk dir einfach nur die Worte. Weißt du, diese
Worte sind eine ewige Rose.«
»Eine ewige Rose?«, fragte ich. Ich verstand abermals nichts. Seit wann redete Großvater denn so sehr in Rätseln?
»Eine Rose, die nie verblüht. Man kann Rosen mit einem Mittel bestreichen, das sie niemals verblühen lässt. Solche Rosen blühen dann einfach immer fort. Und so ist es mit dem, was ich dir eben gesagt habe: Es behält seine Gültigkeit. Es ist eine ewige Rose. Verstehst du das?«
Für einen Moment ließ ich meinen Blick
über die wunderschönen Kornfelder huschen, die von der Abendsonne so herrlich beschienen wurden, als hätte ein großer Künstler sie gemalt. Ich glaubte, dass ich Großvater verstand, und nickte ihm aufrichtig zu. Er nickte zurück und erzählte weiter.
»Ich verbrachte ein wunderbares Wochenende mit Mathilde und flüsterte ihr am Ende dieser viel zu kurzen Zeit zu, dass dies die schönsten Tage meines Lebens gewesen seien. Und das stimmte damals auch. Sie lächelte mich an, ich lächelte zurück, und dann fingen wir beide gleichzeitig an zu
weinen.«
»Warum das?«, protestierte ich. Mein Großvater weinte doch nicht. Völlig unmöglich!
»Weil ich wieder nach Hause zurückfahren musste, deswegen. Ich konnte Mathilde nicht mitnehmen. Ich versprach ihr, wiederzukommen, während ich ihre Hände fest in meinen hielt. Dann stieg in den Zug, winkte ihr durch die geschlossene Tür zu und musste mit ansehen, wie sie sich wieder von mir entfernte. Meine Güte, ich heulte wirklich Rotz und Wasser. Zwar hatte ich ihr versprochen, dass ich
wiederkommen würde, doch niemals in meinem ganzen Leben hatte ich einen solchen Schmerz in meiner Brust verspürt. Niemals war ich so traurig gewesen, und ich wusste nicht, ob ich all das lange ertragen könnte. Ich wollte Mathilde nicht wieder verlieren, doch ich wollte auch nicht so sehr leiden müssen.« Großvater seufzte. Nun sah er wirklich traurig aus. Ich sagte nichts, war irgendwie eingeschüchtert. Doch dann lächelte er plötzlich wieder, blinzelte mir zu, dass alles okay sei und erzählte weiter: »Damit ich allein traurig sein konnte, setzte ich mich in ein geschlossenes Abteil und zog die Vorhänge zu. Ich wollte niemanden um
mich haben, wollte nicht, dass jemand sieht, wie ich weine. Doch es sollte wohl nicht sein. Denn kurze Zeit später ging die Tür auf. Eine junge Frau kam herein und fragte, ob sie sich zu mir setzen könnte.«
»Mathilde?«, fragte ich laut, worauf Großvater wieder lachen musste.
»Nein«, sagte er. »Wir sind doch hier nicht im Märchen. Dies war eine andere Frau. Ein wenig älter als ich und so ganz anders als Mathilde. Mathilde war blond, diese Frau jedoch war ganz dunkelhaarig und hatte ebenso dunkle Augen. Wie sie so in ihrem weißen Mäntelchen vor mir
stand, beschloss ich aus irgendeinem Grund, dass ich doch nicht mehr allein sein wollte und sagte, sie könne sich gern setzen. Das tat sie, und so schwiegen wir uns erst einmal an. Bis sie dann meine Tränen bemerkte. Sie fragte, warum ich denn weine, und dann brach alles aus mir heraus. Ich erzählte ihr von Mathilde, wie sehr ich in sie verliebt war, und wie schwer nun alles für mich und wohl auch für sie war. Und dann begann diese Frau zu reden. Sie erzählte mir, dass es ihr ganz genauso ging, dass ihre große Liebe weit weg wohnte. Sie erzählte davon, wie sehr sie diesen Mann vermisste, wie sie mit dem Schmerz umging und wie sie doch immer
wieder zu ihm zurückkehrte, weil sie sich dazu entschlossen hatte, sich auf diese Liebe einzulassen. Thomas, ich sag dir, noch nie in meinem Leben hatte mir jemand so viel Mut gemacht und so viel Hoffnung gegeben. Wir redeten die ganze Fahrt über, und als wir am Bahnhof ankamen – sie stieg aus, ich stieg um – da war ich gar nicht mehr traurig. Ich wusste, auch ich würde mich auf dieses Abenteuer einlassen wollen.«
»Großvater?«, redete ich wieder einmal
dazwischen.
»Ja?«
»Das hat aber immer noch nichts mit dem Zauberer zu tun.«
»Lass mich nur ausreden«, sagte Großvater und lachte. »Die Frau mit dem dunklen Haar stieg kurz vor mir aus, weil ich noch ein wenig mit meinem Gepäck zu tun hatte. Mir fiel ein, dass ich sie nicht einmal nach ihrem Namen gefragt und dass ich mich auch nicht für ihre tröstenden Worte bedankt hatte. Ich sah, wie sie einige Meter von mir entfernt, aus dem Waggon ausstieg und
lief ihr sofort nach. Doch als ich selbst aus dem Zug stieg, da war sie verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Ich blickte in alle Richtungen, doch ich konnte sie einfach nicht finden. Und niemals sah ich sie wieder.«
Ich weiß noch, dass wir beide eine Weile schwiegen. Ich, weil ich nicht so recht wusste, was ich mit der Geschichte anfangen sollte und Großvater wahrscheinlich, weil er mir Zeit geben wollte, darüber nachzudenken. Doch dann kam mir eine fixe Idee in den Kopf, und so brach ich das Schweigen. »War sie ein Geist?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Großvater in einem irgendwie nachdenklich klingenden Tonfall. »Das glaube ich nicht. Sie war ein Engel. Ein Engel, der mir den Weg zeigen wollte.«
»Wirklich ein Engel?«, staunte ich, worauf Großvater wieder einmal laut auflachte.
»Vielleicht war sie auch einfach nur die Treppe am selben Bahnsteig hinab gegangen, so dass ich sie übersehen hatte.«
»Warum bist du ihr denn nicht
nachgelaufen?«
»Jetzt hast du die richtige Frage gestellt, Thomas«, sagte mein Großvater und klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Er lächelte mir zu, dann hielt er an und ging in die Hocke. Er sah mir tief in die Augen und sagte: »Vielleicht wollte ich ja gar nicht herausfinden, ob sie wirklich ein Engel war oder doch nur eine ganz gewöhnliche Frau, die mir einfach nur Mut mit auf den Weg geben wollte. Vielleicht wollte ich einfach glauben, dass sie ein Engel war, der geschickte wurde, um mir zu zeigen, was richtig für mich ist. Hätte ich die Frau wiedergefunden, so hätten ihre
Worte den Zauber eventuell verloren und ich hätte Mathilde nie wiedergesehen. Doch so beschloss ich eben, diesen Zauber auf mich wirken zu lassen. Genauso ist es mit dem Magier: Wenn du weißt, wie seine Tricks funktionieren, dann verlieren sie ihren Zauber. Verstehst du jetzt?«
Ich dachte gar nicht lange darüber nach. Ich hatte verstanden. Wenn Großvater etwas erklärte, dann verstand ich am Ende immer oder glaubte zu verstehen. Und selbst, wenn ich ihn falsch verstand, so zog ich für mich selbst doch immer eine Lehre aus seinen Worten.
»Ja, das verstehe ich«, sagte ich wahrheitsgemäß, worauf Großvater zufrieden nickte. Er erhob sich, so dass seine Knie laut knackten, dann ging er weiter mit mir den Feldweg entlang.
»Großvater?«, fragte ich irgendwann, als mir eine Frage in den Kopf kam, die ich in dem Augenblick irgendwie wichtig fand.
»Ja bitte?«
»Ist Mathilde meine Großmutter?«
Mein Großvater begann wieder laut zu
lachen. Er lachte, dass sein Gesicht sich rot verfärbte, und selbst, als sich ein krächzender Husten in sein Lachen mischte, hörte er nicht auf. Es kam mir vor, als würde er ewig lachen, und ich dachte schon fast, dass er sich über mich lustig machte. Großvater musste das an meinem Gesichtsausdruck bemerkt haben, denn plötzlich beruhigte er sich wieder.
»Heißt deine Großmutter denn Mathilde?«
»Nein«, sagte ich und schmollte ein wenig.
»Na dann wird sie es wohl nicht sein.«
»Hmm«, murmelte ich. »Was ist denn aus der Mathilde geworden?«
Großvater seufzte. Seine Augen wirkten ein wenig traurig, und nun kam es mir so vor, als wäre sein Lachanfall Jahre her gewesen. »Sie verließ mich nach einigen Jahren und ging zu einem anderen Mann.«
Ein enttäuschtes »Oh« entfuhr mir, und ich blickte traurig nach unten. Diese Geschichte gefiel mir nicht. Ich mochte keine traurigen Erzählungen, schon gar nicht, wenn Großvater sie berichtete. Dennoch hakte ich weiter nach, wie
neugierige Kinder es eben tun: »Warum ging sie denn weg?«
»Weil sie mich nicht mehr liebte. Weißt du, Thomas, Liebe währt nicht unbedingt ewig. Wenn ich Mathilde an unserem Jahrestag besuchte, dann brachte ich immer eine rote Rose mit, so wie ich es getan hatte, als ich das erste Mal bei ihr gewesen war. Doch diese Rosen verblühten. Sie wurden schwarz. Sie starben. Und so starb auch unsere Liebe.«
»Eure Liebe war keine ewige Rose, oder?«, fragte ich und kam mir dabei ungeheuer schlau vor. Großvater
schmunzelte und stimmte meinem Stolz auf mich selbst damit stumm zu.
»Richtig«, sagte er nur und ging schweigend weiter den Feldweg entlang.
Doch ich wollte jetzt nicht schweigen. Ich wollte mehr wissen. Großvater hatte mich doch neugierig gemacht. »Dann war die Frau, die vielleicht ein Engel war, eine Lügnerin!«, sagte ich und stampfte dabei wahrscheinlich sogar ein wenig mit dem Fuß auf.
»Nein, das war sie nicht«, sagte Großvater.
»Aber wenn doch Mathilde wieder wegging?«
»Das ist gar nicht von Bedeutung. Wichtig ist, dass wir eine schöne Zeit hatten. Du hast schon richtig erkannt, dass diese Liebe keine ewige Rose war, doch die Zeit, die war es. Ich denke gern an die gemeinsamen Tage mit Mathilde zurück. Sie bringen mich zum Lächeln, und ich vergesse nichts von alledem. Niemals! Deswegen sind diese Erinnerungen an sie und an die gemeinsame Zeit mit ihr eine ewige Rose. Und würde ich dem Engel wieder
begegnen, so würde ich mich für dieses Geschenk bedanken.«
Ich schwieg in einem Anflug von Ehrfurcht. Großvater hatte wieder einmal Recht. Doch irgendwann überkamen mich weitere Fragen. »Hasst du Mathilde jetzt?«
»Ob ich sie hasse? Nein!«
»Warum nicht?«, fragte ich erstaunt. »Sie hatte dich doch verlassen.« Ich verstand irgendwie schon damals, dass verlassen zu werden etwas war, das Hass auslösen konnte. Vielleicht eine Art Vorahnung, die sich später noch viele
Male bewahrheiten würde.
»Ich hasste sie lange Zeit, das stimmt schon. Doch dann hörte das auf, und ich war nur noch dankbar. Dankbar für die schöne Zeit. So dankbar, wie ich dem Engel war. Dankbar für die ewige Rose. Ich habe auch Mathilde nie wiedergesehen, weiß nicht, was aus ihr geworden ist, ob sie einen Mann fürs Leben gefunden oder sich einfach nur einen Hund zugelegt hat. Doch würde ich sie heute sehen und sie wiedererkennen, dann würde ich sie lachend in die Arme schließen. Verstehst du das?«
»Ich glaube schon«, sagte ich. »Aber
wäre Oma dann nicht sauer?«
Großvater prustete laut und strich mir dann sanft mit der Hand über den Kopf. »Du verstehst, wie der Hase läuft, was?«
»Wie meinst du das?«, fragte ich verwundert.
»Ach, schon gut. Wir sind jetzt auch gleich da. Hast du schon Hunger?«
»Oh ja!«, rief ich laut und klopfte mir auf den leeren Bauch.
»Na dann freu dich schon mal. Die Großmutter hat dir dein Lieblingsessen
gemacht, glaub ich. Ich möchte meinen, ich rieche es bis hier.«
»Echt?«, staunte ich über Großvaters gute Nase.
»Nein«, sagte Großvater und kicherte. »Glaub nicht alles, was ich sage. Aber merk dir, was ich dir eben erzählt habe, ja?«
»Ja, mach ich«, antwortete ich und meinte es auch so. Ich wollte mir immer alles merken, was Großvater erzählte, in der Hoffnung, eines Tages so unheimlich klug zu werden wie
er.
»Was hab ich denn erzählt?«, fragte Großvater plötzlich und lächelte verschmitzt.
Ich überlegte kurz, sammelte, was ich mir gemerkt hatte und zählte dann alles auf: »Dass die großen Dinge im Kleinen beginnen. Aber das versteh ich erst, wenn ich ein Bier mit dir trinke, obwohl mir das ja gar nicht schmeckt. Dass man nicht immer alles wissen muss, wenn man nicht aufhören will, an etwas Schönes zu glauben. Und dass schöne Dinge manchmal eine ewige Rose
sind.«
»Das hast du dir gut behalten«, sagte mein Großvater, und ich war mir sicher, ein Staunen aus seiner Stimme herauszuhören.
Und ja, ich hatte mir das wirklich gut gemerkt. Habe es immer bei mir behalten, so wie man das Foto seiner ersten Freundin in seiner Brieftasche mit sich trägt, um es in ruhigen Momenten anschauen zu können. Es gab noch viele andere Dinge, die mein Großvater mir beibrachte, und tatsächlich verbrachten wir so manchen Abend bei einem Bier, bevor er eines Tages so schwer krank
wurde und schließlich starb. Doch kein Abend, keine Erzählung, war so prägend wie jene Geschichte, die Großvater mir anvertraut hatte, als wir auf dem Rückweg von der Zaubervorstellung gewesen waren. Es waren seine Worte, seine Lehren, aber ebenso waren es die goldgelben Kornfelder, die uns an diesem Abend umgeben hatten, die wundervoll schimmernde Abendsonne, die allmählich hinter dem Horizont versunken war und der frische Wind, der uns auf dem unebenen Feldweg immer wieder umweht hatte. All das hatte ein perfektes Bild ergeben, eingefasst in einen Rahmen der Erinnerung, in dem es niemals verblassen würde. Ich trug ihn immer bei mir,
diesen wunderbaren Abend, tue es noch heute. Tatsächlich ist er eine ewige Rose für mich geworden.