„Ganz ruhig!“, versuchte ich mir zum wiederholten Mal Mut zuzusprechen. „Ganz ruhig, du schaffst es!“ Mein Freund auf dem Beifahrersitz war verdächtig still. Nichts Ungewöhnliches, er hätte müde sein können, es war spät in der Nacht. Aber ich wusste, dass das nicht der Grund dafür war, hellwach waren auch seine Augen auf die verräterische Straße geheftet. Verdächtig war die Stille nur, weil er in einer Situation wie dieser viel zu sagen gehabt hätte. Ich wusste, dass er mir am Liebsten unablässig Verhaltensvorschläge gegeben hätte, „fahr vorsichtig“, „geh nicht vom Gas, behalte die Kontrolle über das Auto“ und so weiter. Doch jetzt schwieg er. Er wollte mich nicht ablenken. Ich musste mich darauf konzentrieren, uns heil nach Hause zu bringen. Ein Fahrerwechsel kam nicht in Frage, weil es unter diesen Bedingungen unmöglich war, zu bremsen.
Warum hatte ich nur unbedingt heimfahren wollen?, fragte ich mich zum sicherlich tausendsten Mal. Wir hatten einen schönen Abend mit Freunden verbracht, das neue Jahr eingeläutet, gemeinsam gefeiert. In den Armen meines Freundes hatte ich dem Silvesterfeuerwerk zugesehen, hatte mich auf das kommende gemeinsame Jahr gefreut. Da hatte ich auch noch nicht gewusst, wie es mich nur wenige Stunden später begrüßen würde.
Oben hatte es noch geschneit. Nicht viel Schnee, gerade genug, um die Straße zu bedecken. Kein Problem, hatte ich gedacht, so lange es nur Schnee ist. Wir waren den Serpentinen der Straße gefolgt, schon dort sehr langsam, ich wollte kein Risiko eingehen. Und dann, hinter der letzten Kurve, hatte der Schnee nachgelassen. Hier hatte es geregnet. Im selben Augenblick war das Lenkrad in meinen Händen auf einmal frei beweglich gewesen, es gab nicht den geringsten Widerstand. Wie denn auch, wenn sich die Straße urplötzlich in eine Eisplatte verwandelt hatte.
Von diesem Moment an war die Bremse nutzlos geworden. Ich fuhr inzwischen im Schneckentempo, doch es ging immer noch leicht bergab. Bremsen war nur möglich, hatte ich herausgefunden, wenn ich in einen niedrigeren Gang schaltete. Warum nur hatte ich heimfahren wollen, warum hatten wir nicht einfach bei meiner Freundin übernachtet, warf ich mir wieder einmal vor. Warum hatte ich nicht den Wetterbericht gehört?
Allmählich tauchten hinter der letzten Hügelkuppe die Lichter unseres Dorfes auf, wie kleine, helle Stecknadelpunkte in der Dunkelheit der Nacht. Ich entspannte mich ein wenig, atmete erleichtert aus. Nur noch ein Kilometer, bald sind wir daheim, und ich kann diesen Tag für immer aus meinem Gedächtnis streichen.
Doch ich hatte nicht bedacht, dass genau vor dem Ortsschild der letzte Abhang auf mich wartete. Der alte Golf gewann immer mehr an Geschwindigkeit. Und dann sah ich etwas, das mir das Blut in den Adern gefrieren lies: eine Kurve! Eine gottverdammte Kurve! Zaghaft versuchte ich zu lenken, doch das Auto fuhr einfach geradeaus, und ich war eigentlich auch zu schnell. Verdammte Scheiße!
„Nicht lenken! Nicht bremsen!“, brüllte mein Freund vom Beifahrersitz, doch ich konnte nicht anders. Ich sah nur diesen Graben auf mich zurollen, ein schwarzer Abgrund, und meine Hände drehten das Lenkrad verzweifelt nach links, während mein Fuß automatisch auf die Bremse trat. Fest.
Zunächst geschah nichts. Der Golf fuhr stur geradeaus. Doch dann gehorchte der Wagen, er fuhr jetzt tatsächlich nach links, wie ich es haben wollte – mit der Ausnahme, dass er in einem viel zu steilen Winkel kam. Nun raste der Graben der anderen Straßenseite auf uns zu! Wieder riss ich, trotz der protestierenden Schreie vom Nebensitz, instinktiv das Lenkrad herum. Der Wagen schlingerte bedrohlich, und dann brach das Heck aus. Wie in Zeitlupe begannen wir, uns zu drehen, immer schneller und schneller. Bitte, Gott, lass uns das überleben!, betete ich verzweifelt, ich wusste, dass ich nun nichts mehr tun konnte, der Golf hatte auf der spiegelglatten Straße ein Eigenleben entwickelt. Und der rechte Graben kam wieder auf uns zu.
Das protestierende Stöhnen von Metall, das verformt wird, das Ratschen von Zweigen über lackiertem Blech, ein Rumpeln, ein Zittern, dann Stillstand. Beinahe überlaute Stille, nur das Klopfen meines Herzens. Ich lebe noch!, stellte ich überrascht fest. Ein hastiger Blick zur Seite – auch mein Freund schien unverletzt. Ich fragte nach, ich musste sichergehen, und meine Stimme klang erschreckend zittrig, kaum brachte ich einen Ton über die Lippen.
„Es tut mir leid!“, flüsterte ich, immer und immer wieder, und dann verlor ich mich in einer nachträglichen Panikattacke. Keuchend sank ich über dem Lenkrad zusammen, mit rasendem Herzen, immer wieder malte ich mir aus, was alles hätte passieren können, warum nur war ich so blöd gewesen, warum hatte ich heimfahren wollen. Wir hätten beide sterben können. Wir hätten beide hier sterben können!
„Steig aus“, drang seine Stimme durch den Nebel meiner Angst zu mir durch, und mit zitternden Fingern gehorchte ich, löste den Sicherheitsgurt, stieg aus dem Wagen. Die Tür lies sich so leicht öffnen wie sonst auch, und zum ersten Mal fragte ich mich, wie schwer ich das Auto beschädigt hatte. Ich kämpfte mich durch das Gestrüpp, glitschige, regennasse Äste unter meinen Füßen. Dann die Straße, die von einer zentimeterdicken Eisschicht überzogen war und mich an eine Eislaufbahn erinnerte. Bei dem Versuch, sie zu überqueren, verlor ich den Halt, rutschte zwei Mal aus und fing hart auf die ausgestreckten Handflächen. Ich spürte jedoch keinen Schmerz, ich war noch immer ein wenig außerhalb meines eigenen Körpers. Endlich hatte ich den sicheren Gehweg erreicht, wandte mich um, vorsichtig, um nicht erneut den Halt zu verlieren.
Erst da bemerkte ich, dass ich alleine war. Er war mir nicht gefolgt! Ich hatte gedacht, wir würden nun den letzten Teil des Weges zu Fuß zurücklegen, und dann den Wagen morgen abholen oder abschleppen lassen. Mein Freund schien jedoch anderer Ansicht zu sein. Ich vernahm das vertraute Schnauben, mit dem der alte Motor wieder ansprang, die Scheinwerfer waren immer noch teilweise verborgen von Gestrüpp und Unterholz, drangen nur als schwache Lichtfinger zu mir durch. Langsam fuhr der Golf aus dem Graben heraus, immer wieder drehten die Reifen auf der Eisfläche durch, doch nach einer mir endlos erscheinenden Zeit hatte er das Wunder vollbracht. Das Auto stand wieder auf der Straße, und es schien nicht beschädigt zu sein. Ich konnte es nicht fassen!
Den Rest der Fahrt nach Hause verbrachte ich wie vor Angst erstarrt auf dem Beifahrersitz.
Ich weiß nicht, welcher Schutzengel über uns wachte, aber in dieser Nacht muss er unseretwegen Überstunden geschoben haben.
(c) by Schneeflocke