Kurzgeschichte
Ein Riss in den Wolken

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"Ein Riss in den Wolken"
Veröffentlicht am 20. Februar 2010, 6 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Es tut mir leid, dass ich \\\"Restrisiko\\\" löschen musste, aber es ist jetzt in einer Kurzgeschichtensammlung namens \"Das Unfassbare\" vom ipm-verlag veröffentlicht worden. Wer Interesse hat, kann sich bei mir melden. Unter www.bookrix.de/-schneeflocke kann "Restrisiko" nach wir vor noch lesen. LG Flocke
Ein Riss in den Wolken

Ein Riss in den Wolken

Ich legte keuchend die letzten Schritte zurück, meine Beine zitterten vor Anstrengung, denn ich war den ganzen Weg gerannt. Gerannt, weil ich nicht anders gekonnt hatte, weil mich eine unwiderstehliche Macht immer wieder an diesen Ort zu ziehen schien, weil ich nur hier den Frieden und die Stille fand, nach denen ich mich so verzweifelt sehnte.

Erschöpft blieb ich an meinem üblichen Platz stehen, um zu Atem zu kommen. In den letzten Tagen war ich immer erschöpft. Ich konnte mich kaum noch erinnern, wie es war, nicht müde zu sein, hellwach und erfrischt den Tag zu beginnen. So etwas wie einen erholsamen Schlaf hatte ich viel zu lange nicht mehr genossen, stundenlang warf ich mich immer im Bett herum, und wenn es gar nicht mehr anders ging, wenn ich glaubte, an meiner Einsamkeit zu ersticken, die mir wie ein Schraubstock die Brust umklammerte, unbarmherzig, gnadenlos, dann kam ich hierher. Hierher, zu ihr. Stundenlang konnte ich ihr erzählen, was mich bedrückte, wie es mir ergangen war, wie sehr ich sie vermisste. Und sie hörte mir zu, geduldig wie immer. Fast fühlte ich mich wieder ganz, wenn ich hier war, vollständig, so, als sei dieser schreckliche Tag vor gut einem halben Jahr (fünf Monate, vierzehn Tage und zwölf Stunden, verbesserte ich mich in Gedanken) nur ein böser Traum gewesen.

„Heute war ich laufen“, erzählte ich ihr jetzt. „Ich habe die vierzehn Kilometer geschafft, ohne eine Pause einzulegen, ich bin bis zu Maiers Hof gerannt und wieder zurück, die ganze Strecke!“ Früher hätte ich jetzt ein breites, siegreiches Grinsen auf dem Gesicht getragen, meine Augen hätten begeistert aufgeblitzt, doch heute brachte ich nur ein mattes Lächeln zustande, das meine Augen nicht erreichte. Es war mir gleich, sie konnte es ohnehin nicht sehen. Ich bekam keine Antwort von ihr, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Ich bekam nie eine Antwort, nicht eine einzige Reaktion, aber daran war ich gewöhnt. Es reichte, dass sie mir zuhörte. Und das tat sie, da war ich mir sicher.

„Im Büro hatte ich wieder Ärger mit Herr Fischer, du weißt, wie er mich immer zur Weißglut bringt mit seiner sturen, ignoranten Art!“, berichtete ich nun von meinem Arbeitstag. Doch es war einfach nicht dasselbe wie früher. Früher hatte sie mir mit einem mitfühlenden Lächeln zugehört, hatte meine Hand ergriffen, war mir über die Wange gestrichen. Was ich am meisten vermisste, waren nicht die Antworten, sondern die Berührungen. Niemals hätte ich geglaubt, dass ich mich so nach einer freundlichen Berührung sehnen würde.

„Du fehlst mir!“, flüsterte ich jetzt, und spürte dabei, wie mir eine einzelne Träne über die Wange rann. Immer noch schwieg sie. Sie schwieg, wie sie es seit jenem Tag vor fünf Monaten, vierzehn Tagen und zwölf Stunden immer getan hatte. Und heute war der Tag gekommen, an dem ich es nicht länger aushielt, an dem die Stille und der Frieden wie ein schweres Gewicht auf mir lasteten, mir zuviel wurden, mich erdrückten.

„Warum?“, rief ich aus, den Kopf in den Nacken gelegt, und starrte zum wolkenverhangenen Himmel empor, suchte nach einer Antwort, die ich nie erhalten hatte, suchte nach einem Grund, den es nicht gab. Und wenn es einen gab, dann hatte ich ihn noch nicht gefunden. Keinen, mit dem ich mich abfinden, keinen, mit dem ich leben konnte.

In diesem Moment hörte ich leise Schritte auf dem Kies hinter mir knirschen. Es war die alte Frau, deren Namen ich nicht kannte. Wie ich kam auch sie jeden Tag hierher, doch wir hatten noch nie ein Wort miteinander gewechselt, zu sehr waren wir mit uns selbst beschäftigt. Wir grüßten uns stumm mit dem üblichen Kopfnicken, und dann ging sie weiter, verschwand hinter den hohen Büschen, die den Weg säumten. Langsam drehte ich mich wieder um, richtete den Blick wieder dem schweigenden Himmel zu, suchte in den Mustern der Wolken nach einem Zeichen, nach der Antwort, die ich nie erhalten hatte.

Auf einmal öffnete sich da die dichte Wolkendecke, wie weiße Federn drifteten die vom Wind auseinandergetriebenen Wolkenfetzen am Himmel dahin, wie Schafe, die vor einem Wolf flüchten, suchten sie das Weite und gaben den Blick frei auf ein Stück blauen Himmels.

Meine Schritte, gedämpft durch das nasse, kurze Gras unter den Sohlen meiner schwarzen Turnschuhe, entfernten sich langsam von dem weißen Grabstein, auf dem sich das Licht der Sonnenstrahlen brach.

 

(c) by Schneeflocke

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schneeflocke
Es tut mir leid, dass ich \\\"Restrisiko\\\" löschen musste, aber es ist jetzt in einer Kurzgeschichtensammlung namens \"Das Unfassbare\" vom ipm-verlag veröffentlicht worden.
Wer Interesse hat, kann sich bei mir melden.
Unter www.bookrix.de/-schneeflocke kann "Restrisiko" nach wir vor noch lesen.
LG Flocke

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schneeflocke Re: Schön... -
Zitat: (Original von Schlauchen am 20.02.2010 - 11:33 Uhr) Du nimmst den Leser mit auf die Reise in die Gefühlswelt des armen Mannes, der seine Freundin verloren hat.
Toll geschrieben.
Erinnert mich an den Text den ich über meinen Vater geschrieben hab, er ist auch gestorben. Wirklich, ging mir nahe..

Liebe Grüße
Caro


Hallo Caro,
ich hoffe, er ging dir nicht zu nahe. Da weiß ich gar nicht, was ich dazu sagen soll, es sei denn "herzliches Beileid". Aber Worte sind manchmal so unzureichend...
Vielen Dank für den Kommentar und die Bewertung.

Liebe Grüße,
Tina
Vor langer Zeit - Antworten
schneeflocke Re: *ausatmet* -
Zitat: (Original von Luzifer am 20.02.2010 - 11:32 Uhr) Schön geschrieben und mit einem wahren Hintergrund.
Wahrscheinlich bin ich schon zu sehr von anderen Texten beeinflusst, dass ich da noch einen Mord oder sonst etwas in der Richtung erwartet habe, aber so gefällt es mir auch wesentlich besser.
Gerne gelesen.

LG
Luzifer


Dankeschön, freut mich, dass es dir gefallen hat!
Vielen Dank auch für die Bewertung.

Lg Tina
Vor langer Zeit - Antworten
Luzifer *ausatmet* - Schön geschrieben und mit einem wahren Hintergrund.
Wahrscheinlich bin ich schon zu sehr von anderen Texten beeinflusst, dass ich da noch einen Mord oder sonst etwas in der Richtung erwartet habe, aber so gefällt es mir auch wesentlich besser.
Gerne gelesen.

LG
Luzifer
Vor langer Zeit - Antworten
schneeflocke Re: Wow -
Zitat: (Original von Robin am 20.02.2010 - 09:57 Uhr) ein wirklich wunderschöner, trauriger Text, der mich sehr berührt hat (ach, immer die übliche Flosskel, aber ich mein das wirklich so!). Und dennoch bleiben viele Fragen offen. Wer ist "sie"? Aber es hat mir unglaublich gut gefallen und diese Kurzgeschichte finde ich sogar noch besser als deine erste. Sie ist so melancholisch und doch hört sich mit Hoffnung auf. Dieser Riss in den Wolken war sehr schön. Tolle Arbeit :-)

Liebe Grüße
Lisa


Hallo Lisa!
Danke für das Lob! Schön, dass du dir auch dieser Text gefallen hat.
Wer "sie" ist, habe ich bewusst offen gelassen, damit sich jeder Leser seine eigene Meinung dazu bilden kann.
Und es freut mich besonders, dass dir der Schluss gefällt, ich war mir nämlich ganz und gar nicht sicher, ob er passt.

Liebe Grüße,
Tina
Vor langer Zeit - Antworten
Robin Wow - ein wirklich wunderschöner, trauriger Text, der mich sehr berührt hat (ach, immer die übliche Flosskel, aber ich mein das wirklich so!). Und dennoch bleiben viele Fragen offen. Wer ist "sie"? Aber es hat mir unglaublich gut gefallen und diese Kurzgeschichte finde ich sogar noch besser als deine erste. Sie ist so melancholisch und doch hört sich mit Hoffnung auf. Dieser Riss in den Wolken war sehr schön. Tolle Arbeit :-)

Liebe Grüße
Lisa
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