Das nächste Kapitel.
 'Was hast du dir nur dabei gedacht, Lisanne.'' sagt meine Mutter. Sie klingt ein bisschen vorwurfsvoll, aber auch erleichtert.
''Weiß nicht.'' sage ich leise. ''Ich hab garnicht gedacht.''
Sie sieht mich liebevoll an, und streicht mir über den Kopf.
''Mach sowas nicht nochmal, okay? Wir haben uns alle solche Sorgen gemacht, wo du steckst.''
Ich nicke.
Mein Blick fliegt über all die Dinge, die sich in meinem Zimmer angesammelt haben.
Wir sind Sammler, keine Jäger, hat er immer gesagt. Wir haben doch alle einen Sammeltick.
An den Wänden hängen zahllose Bilder, Postkarten aus fernen Ländern und dazwischen kleine Post-Its, mit Zitaten, Sprüchen, Namen und Liedern. Die Regale sind vollgestopft mit Kleinkram, hübschen Dosen und Schachteln, Büchern und Zeitschriften, und jeder Menge anderer Sachen. Das meiste stammt von Flohmärkten und von unserem Dachboden. In der Ecke neben dem Bett steht ein Plattenspieler und eine alte Musikanlage, daneben türmen sich Kassetten, Schallplatten und CDs. Eine karierte Decke für Pips, die oft in meinem Zimmer schläft. Es ist ein buntes Durcheinander.
''Ich hab Jonathan gesehen, gestern.'' sage ich nach einer langen Pause.
''Oh.'' sagt sie nur. Und nach einer Weile, ''Was hat er gesagt? gehts ihm gut?''
Ich schüttele den Kopf.
''Wir haben nicht geredet. Ich hab ihn bloß gesehen.''
Sie seufzt.
''Fehlt er dir?''
Ich zucke zusammen.
''Natürlich fehlt er mir. Was denkst du denn.'' sage ich trotzig, und lehne mich zurück.
''Gib mir nicht die Schuld daran. Ich kann nichts dafür!'' sagt sie, und ich spüre, wie die Wut in ihr aufsteigt.
''Ich gebe dir keine verdammte Schuld, man. Ich weiß ja nichtmal, was passiert ist, und niemand in dieser scheiß Familie sagt es mir! Selbst Omili hast du es erzählt, der Mutter deines Ex-Mannes. Aber kein Sterbenswörtchen an deine eigene Tochter.''
Ich werde immer lauter, doch ich versuche, mich zurückzuhalten. Ich will keinen Streit mit Mama, nicht jetzt. Ich will nur ein paar Antworten.
''Halt Oma da raus, okay? Irgendwann werd ichs dir schon erzählen. Glaub mir, du willst das alles garnicht wissen.'' sagt sie leise, beinah drohend.
''Du weißt nicht, was ich will, und was nicht.'' zische ich. ''Du kennst mich nicht.''
Einen Augenblick lang sieht sie mich an, sie scheint unendlich verletzt zu sein. Dann steht sie auf, und verlässt wortlos mein Zimmer. An der Tür dreht sie sich noch einmal um.
''Vergiss ihn, ja? Er tut dir nicht gut.''
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Ich sitze im Froschkönig, diesmal allein. Vor mir auf dem Tisch steht ein großer Becher mit rotem Tee.
Ich warte.
Hoffentlich hat der die Nachricht gefunden. Ich habe keinerlei Garantie, wenn ich Pech habe, warte ich umsonst. Aber das ist es mir wert. Als ich vor hin an 'unserer' Laterne war, war mein Zettel nicht mehr da. Aber auch keine Antwort.
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Er taucht auf, wie aus dem Nichts. Urplötzlich steht er vor mir.
''Was hast du mit deinen Haaren gemacht!'' entfährt es mir, ehe ich darüber nachdenken kann.
''Abgeschnitten. Siehst du doch.'' antwortet er einsilbig.
Seine dunklen Locken waren einer Schere zum Opfer gefallen. Nur sind sie kurz und strubbelig. Ein bisschen erinnern sie mich an Pips Fell.
''Oh man, was ist denn mit dir los.'' stöhne ich.
Er setzt sich mir gegenüber.
''Bin halt nicht gut drauf.''
Ich strecke meine Hand aus, um ihm durch die Haare zu wuscheln, doch er weicht zurück.
''Willst du was trinken?'' frage ich, und ziehe die Hand zurück.
Er schüttelt den Kopf.
''Was willst du von mir? Weshalb wolltest du mich sehen?''
Er durchbohrt mich mit seinem Blick.
''Ich...''
Ich suche nach Worten.
''Ich wollte dich einfach sehen. Ist das so schwer zu verstehen?''
Er sieht mich an. Sein Blick ist kalt, eiskalt.
''Vor ein paar Tagen wolltest du das noch nicht. Stattdessen hast du dich lieber mit diesem...diesem Idioten getroffen.''
''Liam ist kein Idiot.'' sage ich. ''Du kennst ihn doch garnicht.''
''Manche Menschen muss man nicht kennen, um zu wissen, dass sie Idioten sind.'' sagt er kühl. ''Weshalb wolltest du mich noch gleich sehen? Ich habs irgendwie verpasst.''
Sein Sarkasmus kann so nervtötend sein, denke ich. Manchmal hasse ich ihn regelrecht dafür.
''Zeiten ändern sich halt. Manchmal auch innerhalb von drei Tagen, weißt du.''
Er atmet verächtlich aus.
''Und was ist der wahre Grund?''
Er erkennt alle meine Lügen. Immer.
''Ich hatte Streit mit Mama.'' gebe ich zerknirscht zu. ''Es war wegen dir und der ganzen Sache, und ich weiß nicht. Ich will, dass du mir erzählst, was passiert ist.''
Jetzt ist es heraus. Ich atme tief durch.
Er schüttelt den Kopf.
''Nein. Ich erzähls dir nicht. Frag Mama, die hat das zu verantworten.''
''Mama erzählts mir nicht. Omili auch nicht. Niemand. Und alle wissen es, ausser mir. Ihr seid so scheiße, ihr alle. Es hat mit Papa zu tun, oder? Wetten, dass es was mit ihm zu tun hat? Ich hab das Recht, das zu erfahren. Ich bin seine Tochter, man!''
Ich springe auf, ich lasse mich mitreissen von meinen verfluchten Worten. Die letzten sind hysterisches Geschrei.
Alle Augen im Café sind auf uns gerichtet.
Stille.
''Setz dich wieder hin, Lis.'' sagt er ganz ruhig. ''Komm schon.''
Doch ich tue nichts dergleichen. Ich bleibe stehen, wo ich bin, und starre ihn wütend an.
''Sags mir.'' fordere ich.
Gemurmel erhebt sich im Café.
''Sie hat Recht. Erzähls ihr, Junge.'' höre ich einen alten Mann sagen.
''...immer müssen sie so ein Drama daraus machen...''
''...das sie immer gleich so schreien muss...''
''...schreckliche Geschichte, damals. Erinnerst du dich noch? ...''
Dann verschwimmt alles zu einem Einheitsbrei aus Geräuschen, Stimmen und Farben.
Jonathan fasst mich an der Schulter, und zieht mich aus dem Café. Draussen nimmt er mich in den Arm.
''Ich werde mit ihr reden, okay?'' sagt er leise. ''Du musst es irgendwann erfahren. Aber ich denke, sie hat Angst, dass du so wirst, wie ich.''
''Glaubst du, sie wird dir zuhören?'' frage ich unsicher.
Er grinst.
''Ich werde sie schon dazu bringen, glaub mir. Ich habe meine eigenen Wege...''
Mit den Worten lässt er mich los, und verschwindet. Ich bleibe wie eingefroren stehen, und lasse all das, was eben passiert ist in meinem Kopf herumwirbeln.
Der alte Mann verlässt das Café, und klopft mir im vorübergehen auf die Schulter.
''Wird schon alles wieder.'' murmelt er.
Ich rühre mich nicht von der Stelle.
''Komm, geh nach Hause.'' sagt er, und geht dann langsam die Straße entlang. Ich sehe ihm nach, bis er um die Straßenecke verschwindet.
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Als ich nach Hause komme, ist das Haus leer. Niemand ist da, nichtmal Pips. Ich gehe zuerst in die Küche, und koche mir eine Tasse Tee. Dann gehe ich nach oben, ganz nach oben, auf den Dachboden. Die Treppenstufen knarren unter meinen Füßen, als ich eine Etage nach der anderen unter mir lasse.
Das Haus in dem wir wohnen gehört Omili. Wir sind vor einiger Zeit bei ihr eingezogen, nachdem Opa gestorben ist, und Mama nicht mehr genug Geld verdient hatte, um unsere Miete zu bezahlen. Es ist ein altes Bauernhaus, mit unendlich vielen Zimmern, groß und geräumig. Viele der Zimmer stehen leer, oder sind mit Kisten und Dingen vollgeräumt. Früher hab ich es geliebt, mich in den Zimmern zu verstecken. Ich habe mich in meinen eigenen Welten verloren, und habe Stunden damit verbracht, das Haus bis auf den letzten Winkel zu erkunden. Ich kenne jedes einzelne Zimmer, besser als alle anderen. Aber am liebsten ist mir der Dachboden.
Das staubige Licht, was durch die wenigen Dachluken fällt, der Geruch nach alten Dingen, und all die Erinnerungen an die Stunden, die ich hier verbracht habe.
Die große, dunkle Tür quietscht, als ich sie öffne.
Überall stehen Kisten, Möbel, und altes Kinderspielzeug. Ich drücke auf den Lichtschalter links neben der Tür und gehe dann zielstrebig an den ersten Kistenstapeln vorbei, unter einem schrägen Dachbalken hindurch und vorbei an zwei Schränken aus dunklem, alten Holz. Ich schlüpfe durch einen Vorhang aus zwei alten Mänteln, die ich irgendwann einmal über eine Wäscheleine zwischen zwei Dachbalken gehängt habe, und bin da, wo ich sein will. Mein Ort, mein Geheimnis. Niemand ausser mir ist je hier.
Ein Sessel, bezogen mit dunkelgrünem Samt und verziert mit runden Kupfernieten steht inmitten einer Ansammlung von Lampen. Drumherum habe ich Wände aus Regalen und Schränken errichtet, gefüllt mit Büchern und anderen Fundstücken. Ein kleiner Tisch steht neben dem Sessel, darauf liegt das Buch, was ich momentan lese. Die vielen Lampen geben ein gelbliches, gemütliches Licht, und wärmen nebenbei ein wenig. Ich stelle meine Teetasse neben das Buch, und nehme eine Blechdose aus dem Regal. Ich schließe die Augen, und nehme ihren Deckel ab. Der himmlische Duft nach Keksen steigt in meine Nase. Ich nehme ein kleines Porzellantellerchen aus dem Regal, und lege drei Kekse darauf. Auf dem Teller ist ein feines Muster aus roten und blauen Blumen zu sehen. Ich habe ihn irgendwann einmal im Keller in einer Kiste gefunden, zusammen mit einigen anderen Tellern und Tassen. Nichts davon passte zusammen. Ich habe sie alle mit nach oben in mein kleines Reich genommen, und ihnen einen Platz gegeben. Ich stelle den Teller auf den Tisch, und lasse mich in den Sessel fallen. Dann nehme ich meine Tasse, und trinke einen großen Schluck heißen Tee. Ingwer – Zitrone. Ich angele mir eine rote Wolldecke, die zwischen zwei Lampen auf dem Boden liegt, und wickele mich darin ein. Dann nehme ich mein Buch, und beginne zu lesen.
Doch schon nach wenigen Absätzen merke ich, dass ich mich nicht konzentrieren kann. Die Worte fliegen an mir vorüber, ohne dass ich ihre Bedeutung oder ihren Sinn erfassen kann. Ich lese die Zeilen noch einmal, doch es hat keinen Sinn. Ich schlage das Buch zu, und nehme mir einen Keks. Während ich den Keks esse, betrachte ich das Buchcover.
Ich erinnere mich wieder, wie ich es vor einigen Wochen gefunden habe, und sofort von dem Bild verzaubert war. Nur deswegen habe ich es überhaupt mit nach oben genommen. Das Cover ist blaugrau, und in der Mitte ist ein kleines, ovales Portrait einer jungen Frau zu sehen. Das Bild ist in Sepia, und von einem dünnen Holzrahmen umgeben. Die junge Frau hat ihren Kopf ganz leicht zur linken Seite geneigt, und sieht direkt in die Kamera. Sie hat dunkles, lockiges Haar, und trägt schimmernde Perlenohrringe. Einige Haarsträhnen fallen locker über ihre Schlüsselbeine. Am meisten fasziniert mich jedoch ihr Blick. Er ist kühl und beinah ein wenig wütend, doch gleichzeitig verletzlich und scheu. Ich könnte sie mir stundenlang ansehen. Passender Weise heißt das Buch 'Portrait in Sepia'. Bisher gefällt es mir ganz gut, auch wenn ich Bücher dieser Art normalerweise garnicht mag.
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Ich höre, wie die Haustür ins Schloss fällt.
''Lis?''
Mama ist wieder da.
Ich liege auf meinem Bett, und starre an die Decke. Vor einer halben Stunde bin ich vom Dachboden wieder heruntergekommen, nachdem ich dort ungefähr zwei Stunden grübelnd und Kekse essend verbracht habe.
''Ich bin hier oben.'' rufe ich laut, und hoffe, dass sie mich hört.
Offenbar hat sie das, denn ich höre ihre Schritte, die die Treppe hinauf kommen. Die große Schwingtür zum Flur klappert, und die Holzdielen quietschen unter ihren Füßen. Meine Tür schwingt auf.
''Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst ihn vergessen?'' sagt sie wütend.
''Ja und? Du kannst mir das nicht befehlen. Ich kann tun und lassen, was ich will.''
Ich bleibe ruhig, auch wenn ich innerlich aufgewühlt bin, wie der Ozean während eines Orkans.
''Er tut dir nicht gut, merkst du das denn nicht!?''
''Mama, reg dich nicht auf. Es ist deine Sache, dass du keinen Kontakt zu ihm hast, und umgekehrt. Aber es ist meine Sache, wenn ich mich mit ihm treffe. Halt dich da raus, okay?''
Ich setze mich auf, und lehne mich an mein Kissen.
Ihre Augen funkeln böse zu mir herrüber.
''Lis, du hast Hausarrest. Zwei Wochen. Wenn du ihn danach wieder triffst, nochmal zwei. Und glaub ja nicht, ich würde das nicht rausfinden. Hast du mich verstanden?''
''Mama!'' schreie ich laut, doch sie dreht sich um, und geht. Die Schwingtür schwingt, und ihre Schritte entfernen sich.
Ich springe auf, und renne ihr hinterher. Auf der Treppe stampfe ich fest mit den Füßen auf, und mache so viel Lärm, wie es nur geht.
''Mama!'' schreie ich abermals. ''Das kannst du nicht machen! Glaub ja nicht, dass ich mich da dran halte!''
Im vorbeigehen nehme ich Flasche von einer Kommode, es ist Rotwein.
Da steht sie, im großen Flur, und sieht mich herausfordernd an.
''Was ist? Schrei nicht so rum. Du wohnst hier nicht alleine.'' sagt sie, und dreht sich von mir weg.
Es ist zu viel. Es ist einfach zu viel.
Ich hebe die Flasche, und knalle sie mit voller Wucht auf den Boden, dazu schreie ich so laut ich kann.
Die Flasche fällt, trifft auf den dunklen Steinboden, und zersplittert in Tausend Scherben. Dunkelroter Wein spritzt nach allen Seiten, ich spüre, wie ich einige Tropfen ins Gesicht bekomme.
Mama fährt herum, und reisst die Augen auf.
''Lisanne! Was machst du denn...!''
Sie starrt mich ungläubig an.
Langsam hebe ich meine Hand, und wische die Weinspritzer aus meinen Gesicht. Es sieht aus, wie Blut.
''Lis..''
Sie löst sich aus ihrer Erstarrung. Ihre Stimme ist nur ein Flüstern.
Ein kalter Schauer kriecht mir den Rücken herab.
''Es tut mir Leid...'' flüstere ich.
Dann gehe ich in die Waschküche, um einen Eimer und Lappen zu holen.
''Lis?'' ruft Mama hinter mir her. ''Drei Wochen.''
Ich senke den Kopf, und balle meine Hände zu Fäusten. Die Fingernägel bohren sich in meine Handflächen.
Die Waschküche ist ungeheizt, und verdammt kalt. So schnell wie möglich suche ich mir einen Lappen und einen Eimer, dann gehe ich zurück in den Flur. Mama ist verschwunden. Das einzige, was noch an den Streit erinnert, ist eine riesige Rotwein-Lache am Boden, und tausende Glassplitter, die im grellen Licht der Neonröhre an der Decke eiskalt funkeln.