„Bringen Sie mich bitte in die Engelstrasse 20“, bat Sigrid, den von der Sprechstundenhilfe beauftragten Taxifahrer und lehnte sich in ihrem Sitzpolster zurück. Jetzt ging es nach Hause. Die letzten acht Tage hatte sie im Krankenhaus verbracht, in dem sie nach einem plötzlichen Herzanfall eingeliefert worden war. Es kam ganz überraschend. Mit ihren fast 80 Jahren war sie bisher immer noch sehr rüstig gewesen und konnte ihren Alltag allein bewältigen. „Sie müssen sich etwas mehr schonen“, hatte der Arzt geraten. „Haben sie Verwandte, die sich um sie kümmern können?“, hakte er noch nach.
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Ihr einziger Sohn Robert lebte mit seiner Frau seit vielen Jahren in den Vereinigten Staaten. Sie waren beide Ärzte in einem großen Klinikum und an einem wissenschaftlichen Forschungsprojekt beteiligt. Ihre Ehe war kinderlos geblieben, was Sigrid manchmal sehr bedauerte; sie wäre so gerne Großmutter geworden. Weihnachten hatte sie die beiden das letzte Mal gesehen. Ihrem Vorschlag zu ihnen zu ziehen, war sie nie nachgekommen. Sie kannte die Sprache nicht, auch wollte sie ihre gewohnte Umgebung nicht verlassen. Von ihrem Krankenhausaufenthalt hatte sie ihnen nichts erzählt, sie wollte sie nicht beunruhigen.
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Julia, ihre Nachbarin, die sie in der Klinik besuchte, schien um sie besorgt zu sein und war der Meinung, dass ihr Sohn Robert über den Zustand seiner Mutter Bescheid wissen sollte, was Sigrid aber strikt ablehnte.
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Julia war wesentlich jünger als sie und doch hatte sich mit den Jahren zwischen beiden Frauen eine freundschaftliche Beziehung entwickelt. Sie war Altenpflegerin im ortsansässigen Altenheim und seit einigen Jahren alleinerziehende Mutter eines elfjährigen Sohnes und einer dreizehnjährigen Tochter. Durch ihre Berufstätigkeit mussten sich die beiden einige Stunden am Tag allein versorgen, was sie auch hervorragend meisterten. Sigrid mochte die Geschwister sehr und hatte immer ein sorgsames Auge auf beide. An manchen Winternachmittagen, wenn beide durchgefroren von der Schule nach Hause kamen, hatte sie für beide heißen Kakao gekocht und Peter half sie manchmal bei seinen Schularbeiten oder las ihm aus seinem Märchenbuch vor. Es erfüllte sie mit großer Freude, wenn bei den spannenden Geschichten seine Augen zu leuchten begannen.
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Da Julia den Wohnungsschlüssel von Sigrid hatte, versorgte sie zurzeit ihre Blumen und sah nach der Post.
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Gedankenverloren starrte Sigrid aus dem Fenster des Taxis. Der Frühling stand schon in den Startlöchern. Die Sonne hatte schon Kraft und in den Blumenbeeten zeigten sich erste bunte Farbkleckse. Gebannt lauschte sie dem Gesang der Vögel, die fröhlich die wärmere Jahreszeit ankündigten. Frühling, dachte sie wehmütig, wie sehr habe ich ihn immer geliebt. Doch seit Hans vor vier Jahren im März gestorben war, erfüllte sie diese Zeit immer noch mit Schmerz und Traurigkeit. Nach kurzer schwerer Krankheit verschied er. Lungenkrebs; er war zu spät erkannt worden. Wenigstens hat er nicht lange leiden müssen, seufzte sie etwas versöhnt. Seitdem lebte sie allein in ihrer nun viel zu großen Eigentumswohnung.
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Leicht fröstelnd zog sie ihren warmen Schal enger um den Hals. Sie wusste, dass sie sich Gedanken über ihre Zukunft machen musste. Vielleicht wäre es für sie doch besser, sich nach einem Platz im Seniorenheim umzusehen, obwohl ihr das so gar nicht behagte.
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„So, wir sind angekommen“, riss sie die Stimme des Taxifahrers aus ihren trüben Gedanken. Sie schaute an der Fassade des Hauses hoch. Irgendwie wirkte alles plötzlich ein wenig fremd auf sie und nach dem sie den Fahrer bezahlt hatte, stieg sie etwas schwerfällig die Stufen zum ersten Stockwerk hinauf. Als sie gerade ihre Wohnungstür aufschließen wollte, öffnete Julia ihre Haustür und blickte sie erfreut an: „Sigrid, wie schön, dass sie endlich da sind! Kommen sie herein, ich habe auf sie gewartet. Meine Kinder haben gestern Abend noch einen Kuchen gebacken und ich lasse schnell den Kaffe für uns durchlaufen!“ Mit diesen Worten umarmte sie die erstaunte Sigrid und zog sie sanft in die Küche. Sigrid schaute auf den liebevoll gedeckten Küchentisch, den ein wunderschöner Blumenstrauß aus roten Tulpen und gelben Narzissen schmückte. „Die Blumen sind für sie, die nehmen sie später mit in ihre Wohnung. Ich habe die Heizung etwas aufgedreht, damit sie es gleich schön warm haben“, hörte sie Julia mit warmer Stimme sagen. Sie nahm ihr den Mantel ab und forderte sie lächelnd auf, doch Platz zu nehmen. Sichtlich berührt setzte Sigrid sich. So einen freundlichen und herzlichen Empfang hatte sie nicht erwartet. „Sigrid, ich habe mit meinen Kindern Familienrat gehalten“, fuhr Julia fort. „Wie sie wissen, haben sie leider keine Großeltern mehr, was sehr schade ist. Die beiden mögen sie sehr. Sie empfinden sie als besonders liebevoll, freundlich und geduldig, was ich ja nur bestätigen kann, dafür kennen wir uns ja nun schon einige Jahre. Und da ihr Sohn und ihre Schwiegertochter weit weg wohnen und sie hier auch keine weiteren Familienangehörige haben, die sich um sie kümmern könnten, möchten wir gerne ihre Familie sein, was halten sie davon?“
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Sigrid schluckte. Großmutter! Wie oft hatte sie sich das gewünscht! Sie mochte Julias Sohn Peter und ihre Tochter Heike sehr, es waren ganz reizende Kinder. Sie wollten sie als Oma sozusagen adoptieren. Überwältigt schloss Sigrid für einen Augenblick ihre Augen und als sie sie wieder öffnete, strahlten sie vor Freude und Glück.
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