Biografien & Erinnerungen
Borderland

Prolog

„Schaff dir Kinder an, schaff dir Sorgen an!“ sagte ihre Mutter mit wütender Stimme und bedachte sie mit einem Blick, der Hass und Genervtsein in einem tödlichen Gemisch vereinte. Sie, eine junge Frau fast Mitte zwanzig, hatte diesen Satz schon so oft von ihrer Mutter gehört, dass er an Wirkung verloren hatte. Es war wieder eine dieser Wochen, in denen ihre Mutter eine schlechte Phase hatte. Alles, was sie und ihre jüngere Schwester auch sagten oder taten, war falsch. Entweder war der Inhalt beleidigend oder aber der Ton zu schnippisch oder scharf.

Selbst wenn die Mutter scheinbar eine gute Phase hatte, war nicht abzusehen, wie sie auf Ansprache reagieren würde. Es war ein ewiger Tanz auf rohen Eiern.

Im Laufe ihres Lebens hatte sie versucht, diesen Tanz zu erlernen und zu perfektionieren, aber je mehr sie sich anstrengte, desto mehr wurde ihr klar, dass es unmöglich war, diesen Tanz wirklich zu beherrschen. Denn die Schritte, die getan werden mussten, änderten sich ständig. Sie blieben nie die gleichen und nie in der gleichen Reihenfolge. Die einzelnen Sequenzen wiederholten sich zwar immer wieder, aber es war nicht abzusehen, wann welche Sequenz an der Reihe war.

Und so scheiterte sie immer und immer wieder.

Jetzt, da sie eine erwachsene Frau war, lernte sie das Land, in dem sie großgeworden war – Borderland – näher kennen, als ihr eigentlich lieb war. Erst jetzt erkannte sie ungefähr, wo die dünne Grenzlinie zwischen gesunder Realität und verzerrtem Wahnsinn verlief, auf dem sie ihren Tanz ein Leben lang geübt hatte. Der verzerrte Wahnsinn entsprang aber nicht etwa ihrem eigenen Geist. Er ging von ihrer Mutter aus und streckte seine klebrigen, langen Arme nach ihr aus, um sie immer wieder zu umschlingen. Erst jetzt als erwachsene Frau, entdeckte sie Stück für Stück die Kraft sich aus dieser Umarmung zu befreien. War sie als Kind noch hilflos den Fangarmen ausgeliefert, ohne sie wirklich als das erkennen zu können, was sie waren; nämlich ein völlig verzerrter Spiegel der Realität, getrübt von Geisteskrankheit, so konnte sie jetzt endlich lernen, sie abzuwehren.  

Bis zu dieser Erkenntnis waren fast 25 Jahre vergangen, die tiefe Spuren in ihr hinterlassen hatten.