Eine Mischung aus Phantasie und eigenen Erinnerungen. Die Realität verschwimmt mit Träumen und Gedanken, die Grenzen der Wirklichkeit beginnen zu flimmern und es entsteht eine Geschichte über ein Mädchen, die sich auf den langen Weg zu sich selbst macht.
Ich stehe in Omilis Beet, und schneide trockene, braune Pflanzen ab. Dicht über dem Boden, so wie sie es mir beigebracht hat. Damals war ich noch ganz klein, vielleicht acht Jahre alt. Seitdem helfe ich ihr jedes Jahr, den Garten für den Winter vorzubereiten.
Omilis Hündin, Pips, kommt angehüpft, und schnuppert an meinen Stiefeln. Ich lege die Rosenschere beiseite, und kraule ihr struppiges Fell. Sie ist klein und schnell, und es sieht immer ein bisschen so aus, als würde sie einem zuzwinkern und sagen, komm, geniess das Leben, so lange du noch kannst.
Ich streichle ihr grade über den Kopf, da springt sie auch schon wieder auf, und rennt einen Vogel hinterher. Sie kläfft einmal laut, und der Vogel – ich glaube, es ist eine Amsel – schwingt sich hoch in die Luft. Auf und davon ist sie, und Pips bleibt enttäuscht stehen. Sie bellt noch einmal, dann dreht sie sich um und trottet langsam zu Omili, die grade die Schubkarre mit den trockenen Blättern und Pflanzen ausleert. Sie kippt sie geschickt auf den großen Haufen in der Mitte der Wiese, und sofort kommen ein paar Schafe angelaufen und machen sich darüber her. Omili kommt mit der leeren Schubkarre auf mich zu. Schnell bücke ich mich, und mache weiter. Meine Finger sind kalt und nass, ich habe keine Gartenhandschuhe mehr gefunden.
Die ganze Zeit muss ich an morgen denken, und an Liam. Er hat noch nicht angerufen. Er hat doch gesagt, er ruft mich an, oder irre ich mich? Nein, ich bin mir sicher. Aber es ist schon Nachmittag. Wieso ruft er nicht an? Und wenn ich hier draussen bin, kann ich das Telefon nicht hören. Was, wenn er anruft, und niemand geht ran, und er wird sauer, oder glaubt, dass ich absichtlich nicht ans Telefon gehe? Ich werde hibbelig; am liebsten würde ich ins Haus rennen uns mich neben das Telefon setzen. Und einfach nur warten.
Vielleicht hat er auch schon angerufen, und was auf den Anrufbeantworter gesprochen. Vielleicht hat er morgen keine Zeit, vielleicht will er mich nichtmal mehr sehen. Dann wäre ich ein Problem los, einerseits, aber auf der anderen Seite freue ich mich auch auf ihn. Ganz im geheimen. Am liebsten würde ich die Vorfreude vor mir selbst verheimlichen, dann könnte ich ihm nämlich einfach absagen. Aber ich hasse es, abzusagen, und ich werde es auch nicht tun.
Auf einmal spüre ich einen stechenden Schmerz in meinem Daumen. Ich senke meinen Blick, und sehe Blut. Ich muss mich geschnitten haben, so sehr war ich Gedanken versunken. Ich lasse die Rosenschere fallen, und rufe Omili zu, dass ich mich geschnitten habe. Sie sieht zu mir herüber, und sagt, ich solle ins Haus gehen und mich verarzten.
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Im Badezimmer wische ich das Blut mit einem Taschentuch ab, und betrachte die Wunde. Es ist ein sauberer Schnitt, nicht besonders tief. Blut quillt heraus, ein Tropfen läuft mir über die Hand und tropft ins Waschbecken. Er hinterlässt eine dicke, rote Spur auf meiner blassen Haut. Ein zweiter Tropfen fällt ins Waschbecken. Hellrot auf weiß. Gebannt beobachte ich, wie mein Blut über meine Hand rinnt, rot und lebendig. Wieder tropft es. Als das Blut auf das weiße Porzellan trifft, fächert der Tropfen auf, und zerfranst an den Rändern. Es hat etwas blumenartiges, finde ich.
Mama reisst mich aus meinen Gedanken.
''Lis, ist alles okay? Kommst du zurecht, oder soll ich dir helfen?''
Sie steckt den Kopf ins Badezimmer.
Schnell tupfe ich das Blut ab, und krame ins unserem Verbandskasten nach Mullbinden. Ich finde keine.
''Haben wir irgendwo noch Mullbinden? '' frage ich Mama.
Sie kommt ins Badezimmer, und hilft mir suchen. Schließlich findet sie eine angebrochene Packung im Schränkchen neben dem Waschbecken.
''Komm, halt mir mal deine Hand hin.'' sagt sie.
Ich tupfe noch einfach Blut von der Wunde, und strecke meine Hand aus. Sie legt ein Stück Mullbinde darauf, sofort sickert Blut durch.
''Sollen wir nicht vielleicht erstmal warten, bis es aufhört zu bluten?'' frage ich vorsichtig. ''Sonst klebt das nachher fest und reisst alles wieder auf, wenn ich den Verband wechsele.''
Einen Moment zögert sie, dann nickt sie.
''Du hast recht.''
Sie nimmt die Mullbinde wieder weg, und schmeisst das blutige Stück in den Mülleimer.
Ich ziehe ein neues Taschentuch aus der Packung, und drücke es auf die Wunde. Es dauert eine Weile, aber langsam lässt der Blutfluss nach. Am Rand der Wunde bildet sich der erste Schorf.
Als alles trocken zu sein scheint, lege ich ein bisschen Mullbinde darauf,und klebe es mit speziellem Klebeband fest. Dann schneide ich ein kleines Stückchen Verband ab, und wickele es zur Sicherheit fest darum. Noch ein Stückchen Klebeband – fertig.
Zufrieden betrachte ich mein Werk. Mein Daumen sieht ganz schön unförmig aus. Aber ich spüre keinen Schmerz, also muss es in Ordnung sein. Ich räume schnell die restlichen Sachen zurück in den Schrank, dann verlasse ich das Badezimmer.
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Unten in der Küche finde ich Omili und Mama am großen Tisch sitzen. Beide halten eine Tasse Tee in der Hand.
''Wir machen morgen weiter.'' sagt Omili, und nimmt einen großen Schluck Tee.
Ich gehe zum Schrank über dem Herd, und nehme mir meine Tasse. Pu der Bär ist darauf. Mein Onkel hat sie mir vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschenkt.
Manchmal wäre ich gern wie Pu, denke ich, als ich mir Tee eingiesse. Dann wäre das Leben so viel einfacher. Ich würde mit Ferkel durch den Hundertsechzig-Morgen-Wald laufen, meine einzige Sorge wäre, ob ich genug Honig habe, und ich könnte mit Christopher Robin picknicken. Es wäre ein schönes Leben, glaube ich.
Das Telefon klingelt. DAS TELEFON KLINGELT!
Ich lasse beinah meine Tasse fallen, und schütte mir kochend heissen Tee über die Hand, als ich los renne. Das Telefon steht im Flur, auf einer alten Kommode aus dunklem Holz. Ich zögere eine Sekunde, bevor ich den Hörer abnehme. Doch dann halte ich es nicht mehr aus.
''Hallo?'' melde ich mich.
''Hey Lis, ich bins, Liam.'' höre ich Liams Stimme und muss grinsen, weil ich mich so freue ihn zu hören. ''Na, steht das mit dem Kaffee morgen noch?''
''Na klar, man! Was denkst denn du.'' Ich kichere wie ein kleines Mädchen. Peinlich. ''Wann hast du denn Zeit?''
''Hm, wie wärs so gegen drei? Oder lieber später? Ich kann den ganzen Tag.''
Ich glaube, sein Lächeln zu hören.
''Drei ist super.'' sage ich ''Und wo?''
Er macht eine kleine Pause, als ob er überlegt.
''Kennst du das Café Froschkönig?''
Oh nein. Das darf doch nicht wahr sein.
''Ja, klar. Die machen den besten Apfelkuchen der Welt.'' höre ich mich sagen. Ich lächele breit, obwohl mir eigentlich nicht danach zumute sein dürfte. Was tue ich denn da!
''Also um drei, im Froschkönig?'' unterbricht er meine Gedankengänge.
''Ja.'' sage ich leise.
''Lis?''
Seine Stimmte klingt anders als sonst. Sanfter vielleicht.
''Ich freu mich auf dich.''
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Es ist dunkel. Irgendwo vor mit läuft Pips, ich kann ihre Pfoten auf dem Feldweg kaum hören. Doch ich weiß, dass sie da ist. Ich habe es nicht mehr ausgehalten, drinnen zu sitzen und auf morgen zu warten. Allein mit meinen Gedanken. Froschkönig, Liam, Froschkönig, Liam, Froschkönig, Liam. Ein ewiger Kreislauf. So sehr ich es auch versuche, ich werde sie nicht los. Vor allem Liam nicht. Ich weiß nicht wieso, aber ich bekommen eine Gänsehaut, wenn ich an seine Stimme denke, und ich habe sie permanent im Ohr.
''Ich freu mich auf dich.'' sagt er leise in meinem Kopf, immer und immer wieder.
Ich freue mich auch auf dich, antworte ich ihm in Gedanken.
Das erste, was ich sehe, als ich aus dem Bus aussteige, ist Liams hellblaue Vespa, die auf dem Bürgersteig vor dem Froschkönig steht. Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer, und ich muss lächeln. Er ist also schon da. Er hat mich nicht vergessen.
Das Froschkönig ist voll, überall sitzen Menschen. Meisten Jugendliche, aber auch einige ältere Leute. Niemand, den ich gut kenne, stelle ich erleichtert fest. Und dennoch wird es Gerüchte geben, spätestens übermorgen. So ist das hier im Dorf, Klatschtanten wohin man auch sieht.
Liam sitzt an einem Tisch im hinteren Teil des Cafés, und wartet. Als er mich sieht, steht er auf, und kommt mir entgegen. Er nimmt mich in den Arm, und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Ich spüre, wie mir das Blut ins Gesicht schiesst, und ich rot werde. Ich hasse es, rot zu werden.
Wir setzen uns.
''Willst du was trinken, oder ein Stück Kuchen?'' fragt er mich, und lächelt.
Er sieht glücklich aus, denke ich.
''Ich nehme eine heisse Schokolade.'' sage ich zu der Bedienung, die beinah lautlos an unserem Tisch aufgetaucht ist. Liam bestellt einen Latte Macchiato. Wir schweigen, während wir warten. Worüber sollen wir reden? Es ist furchtbar.
Liam starrt angestrengt auf die Zuckerschale, die auf unserem Tisch steht, und ich beobachte ihn. Man sieht förmlich, wie seine Gedanken sich überschlagen vor lauter Anstrengung, ein Thema zu finden.
Nach einigen Minuten kommen unsere Getränke.
Ich rühre in meiner Schokolade, und Liam löffelt weißen Milchschaum. Gebannt beobachte ich seine Bewegungen. Seine schmale Hand, die den Löffel hält und unermüdlich den Milchschaum rührt, formt und schließlich den Löffel zum Mund führt. Seine Lippen, die sich um den silbernen Löffel schliessen, und seine Zunge, die die Milchschaumspuren von den Lippen leckt. Auf einmal scheint seine Hand den Löffel zu verlieren. Er fällt beinah, im letzten Augenblick schliessen sich seine Finger um das hintere Ende des Stiels. Dadurch wird der vordere Teils des Löffels in die Höhe katapultiert, und die Milchschaumwolke, die sich darauf befindet, landet auf seiner Nase. Wir müssen beide lachen, ihm fällt der Löffel aus der Hand und klirrt zu Boden. Das Eis scheint gebrochen, vorerst.
''Lis? Es ist schön, dass du da bist.'' sagt er und lächelt mich an.
''Schleimer.'' nuschele ich.
Er tritt mich unterm Tisch, und grinst.
Wir beginnen zu reden. Über die Schule, über die Menschen, über die Welt. En Thema führt zum nächsten, die Antworten jagen die Fragen. Das Gespräch wächst und wir mit ihm. Es wird persönlicher, ehrlicher und wichtiger. Wir bestellen beide nach, es scheint ein langer Nachmittag zu werden. Ich vertraue ihm Dinge an, die ich sonst nie in Gegenwart von Menschen erwähne, weil ich es nicht wage. Ich habe Angst vor ihrer Reaktion. Er reagiert ruhig und gefasst, er nimmt sogar meine Hand und drückt sie. Er gibt mir den Halt, den ich brauche. Zumindest glaube ich das.
Eine kurze Stille unterbricht unser Gespräch. Unsere Hände liegen, ineinander verschränkt auf dem Tisch. Schon lange denke ich nicht mehr daran, was die Leute denken.
Ich sehe aus dem Fenster, die Dämmerung liegt über dem Dorf. Die Dächer der Häuser auf der anderen Straßenseite werden von den letzten Sonnenstrahlen vergoldet, die Luft scheint erfüllt zu sein von leuchtendem Staub.
Ein Gesicht schiebt sich in mein Blickfeld, ein vertrautes Gesicht. Ich zucke zusammen, und sehe weg.
Was tut er hier. Und wieso ausgerechnet jetzt.
Ich will, dass das nicht wahr ist.
Mein Blick wendet sich wieder zum Fenster. Er ist verschwunden. Ich will erleichtert aufatmen, als ich eine Hand auf meiner Schulter spüre. Ich sehe auf.
Da ist er, und sieht mich an. Sein Blick sagt so viel mehr als alle Worte der Welt es könnten. Seine Augen sind dunkel, und groß. Es kommt mir so vor, als seien sie zwei endlose Tunnel, zwei tiefe Seen, dunkle Meere. Ich bin darin gefangen, ich versinke, hilflos...ich bekomme keine Luft mehr, ich kann nicht mehr atmen, das Wasser umschliesst mich, Hilfe, ich ersticke, dunkles Wasser sickert in meine Lungen, ich...ich sitze im Café Froschkönig, und sehe ihm in die Augen.
''Echo.'' sagt er beinah lautlos, und seine Stimme klingt genau, wie das Wort, was er grade gesagt hat. Wie ein Echo, dass tausend mal von Felswand zu Felswand geworfen wurde und nun kurz davor ist, für immer zu verstummen.
Er dreht sich um, und verschwindet.
Ich will aufspringen und ihm hinterher laufen, will seinen Namen rufen, und mich bei ihm entschuldigen. Doch ich bin wie gelähmt. Ich starre Liam an, sein Gesicht ist ausdruckslos und still, er sagt kein Wort.
Draussen huscht ein Schatten vorbei, ich weiß, dass er es ist. Plötzlich spüre ich ihn. Ich spüre das Band wieder. Er entfernt sich immer weiter, und ich verliere ihn.
Wie in Trance stehe ich auf, und verlasse das Café. Ich folge seiner Spur, bis zu dem Punkt, an dem sie sich verliert, zwischen Feldern und Wiesen. Ich lege mich an den Wegrand, und schliesse die Augen. Die Dunkelheit deckt mich zu, wie ein großes, schweres Tuch; ich beruhige mich.
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''Lis!''
''Gott sei Dank, Lis!''
Wir haben sie, wir haben sie!''
''Psst, nicht so laut. Ich glaube, sie schläft.''
Stimmen dringen an mein Ohr. Mal sind sie nah, mal fern. Mal glaube ich, sie zu erkennen, mal scheinen sie mir fremd.
Wo bin ich?
Etwas helles streift meine Augen, ich öffne sie langsam und starre direkt in das grelle Licht einer Taschenlampe. Ich schließe die Augen sofort wieder.
''Nimm das scheiß Ding aus meinem Gesicht.'' murmele ich.
Das Licht verschwindet.
''Lis, mein Mäuschen!''
Ich werde in den Arm genommen, und gedrückt. Der schwere Duft nach Rosen und Sandelholz steigt mir in die Nase. Mama. Sie ist da, sie hält mich fest, ich bin in Sicherheit.
Jemand hebt mich hoch, und trägt mich zu einem Auto. Ich werde auf die Rückbank gelegt, und das Auto setzt sich in Bewegung. Wärme umgibt mich, und erst jetzt bemerke ich, wie sehr ich friere. Ich zittere und klappere mit den Zähnen, und kann garnicht mehr damit aufhören. Das gleichmäßige Geräusch des Autos ist beruhigend.
Starke Arme umschliessen mich, und tragen mich ins Haus. Der Kies knirscht unter den Füßen. Türen schlagen, Schritte hallen. Ich werde in ein Bett gelegt, weiche Wolken umgeben mich, ich taue auf. Eine kleine, zarte Hand greift nach meiner, und streicht über meine Finger.
''Mama?'' frage ich leise.
''Alles wird gut.'' antwortet sie mir. ''Alles wird gut.''