»Das mit den Steuern ist natürlich gequirlte Kacke noch neun, ist ja klar. Aber so generell ist die ganze liberale Denke schon die richtige, stimmt’s? Ich meine, man sollte die Märkte machen lassen, was die machen wollen, ne? Sonst geht die ganze Wirtschaft endgültig den Bach runter, kannste aber glauben. Hat man bis neunundachtzig auf der anderen Seite der Mauer ja schließlich gesehen. Isses nicht so? Oder wie siehst du das alles? Jetzt mach doch auch mal den Mund auf, verdammt!« Dieser Kerl, der seine Bierwampe unter einem eng gespannten, fettfleckigen Shirt ebenso stolz vor sich hertrug wie seine völlig verschnittene blonde Vokuhila-Frisur, lallte nun schon seit einer geschlagenen halben Stunde sein politisches Halbwissen herunter – wahrscheinlich auf dem Scheißhaus in einem miesen Boulevardblättchen angelesen –, während seine knotige linke Hand auf dem Tresen zum Takt der Musik klopfte, die leise im Hintergrund säuselte und eigentlich kaum auffiel. AC/DC oder Guns N‘ Roses – Jonas hatte keine Ahnung, wusste aber, dass für ihn beides definitiv nach einer Katze im Fleischwolf klang. Noch weniger als das, interessierte ihn aber der Dreck, den der alkoholisierte Hobbypolitologe hier von sich gab, der seinen Wanst natürlich ausgerechnet auf dem Barhocker neben ihm niedergelassen hatte, um penetrant vor sich hin zu stinken. Dier furchtbare Kerl beschwor in seinem Biersingsang den Liberalismus herbei, als hätte er sein Leben lang nichts anderes zelebriert, ließ sich aber nebenher – da war Jonas sicher – die Stütze vom Staat garantiert gern gefallen, so wie er aussah und beim Reden wichtigtuerisch sein fettiges Haar schüttelte, als würde er damit seinen Specknacken kratzen wollen.
Jonas hasste diese asozialen Kerle, doch zog er sie leider an wie das Licht die Motten. Egal, wo er sich niederließ, irgendjemand pappte ihm ganz sicher eine stupide Nonsensediskussion an die Backe, die nichts als Nerven kostete und niemals etwas änderte. Schon während seiner Studentenzeit wurde er auf jeder verdammten Party in diese Art ätzend zäher Diskussionen verwickelt, nur um am Ende mit schwerem Kopf und schlechter Laune nach Hause gehen zu müssem, während die Kommilitonen mit deutlich mehr Glück die besten Mädels längst abgeschleppt hatten. All das hatte ihn bereits damals in Rage versetzt. So manche Katastrophe heraufbeschworen, die Jonas später meistens ein wenig bereut hatte, jedoch nie rückgängig gemacht hätte. Das Leben war schließlich nicht fair gewesen. Damals nicht, und auch heute war es alles andere als das. Manchmal musste man sich eben das Quäntchen an Gerechtigkeit selbst beschaffen. Auch das war heute noch so. Leider.
Vielleicht war es einfach nur sein freundliches, geradezu zutraulich wirkendes Äußeres, sein – wie man ihm nur allzu oft bescheinigt hatte – strahlendes Politikerlächeln, das Idioten jedes Formats immer wieder dazu veranlasste, ihm energisch ein Ohr abzukauen, als gäbe es kein Morgen. Vielleicht war es auch der warme, Vertrauen erweckende Klang seiner Stimme, der ein »Höchstmaß an Seriosität« ausstrahlte. Kurz gesagt, Jonas fühlte sich schlicht als der nette Kerl, der freundliche Typ aus der Nachbarschaft, den man zu jeder Tages- und Nachtzeit mit jedem möglichen Scheißdreck belästigen konnte. Die Tapete löst sich ab? Egal, ruft Jonas an, und wenn es nachts um drei ist! Er bringt Leim und sonstige Utensilien mit, ganz klar. Es war ein verdammter Makel, oh ja. Ein Fluch, wie er fand, und das schon immer. Das Gen für nettes Auftreten war bei ihm so dominant, dass es fast schon im Dunkeln zu leuchten schien. Nur war nett noch immer der kleine Bruder von scheiße und würde es wohl auch immer sein.
Jonas rollte wenig unauffällig mit den Augen. »Warum soll ich große Reden schwingen? Ich hab jetzt gerade einfach keine Meinung zu dem, was Sie da erzählen. Hab einfach nichts dazu zu sagen, und ganz ehrlich, es ist mir scheißegal. Von mir aus sollen sie die roten Flaggen schwenken und den Sozialismus heraufbeschwören. Solange ich nicht von der Hand im Mund leben muss, bin ich zufrieden, reg mich nicht auf und schmeiße nicht mit Farbbeuteln um mich. Ich hab schon genügend solcher Diskussionen geführt und die Schnauze gestrichen voll davon. Bringt alles nichts, okay? Ich will hier einfach nur sitzen und was trinken«, sagte er und nippte an seiner Cola. Verdammt, war das jetzt deutlich genug? Warum konnten ihn diese widerwärtigen Typen nicht einfach in Ruhe lassen? Der Lower Class war der Feierabend eines jobgeplagten Working Class Hero offenbar alles andere als heilig, wenn es darum ging, Mist zu verzapfen, den sich der wortkarge Barkeeper längst nicht mehr anhörte.
»Pah! Du würdest wohl auch losziehen und die Kommunisten wählen, was, Bürschchen?«, knurrte der Saufkopf und ließ Jonas seinen nach Bier und schlechten Zähnen stinkenden Atem entgegenwehen. War wohl seine Art des Wind of Change, dachte Jonas und hielt unauffällig die Luft an. Der Fettwanst schlug mit der Faust auf den Tisch. Eine aufrührerische Geste, Entschlossenheit vor dem roten Feind oder irgendein ähnlicher Mist. Jonas wandte sich entnervt ab. Himmel, er wollte doch nur seine beschissene Cola trinken und ein wenig abschalten. Den vergangen Tag im Büro einfach davonschweben lassen. Vor seinen Augen tanzten nun bereits kleine rote Zorneslichter. Es konnte nicht wahr sein! Da hatte der Kerl es tatsächlich geschafft, ihn wütend zu machen. Wieder einmal »Mission accomplished«. Scheiße! »Wenn es sein muss, würde ich vielleicht auch die wählen, ja«, murmelte Jonas und stützte seinen müden Kopf mit der Hand.
»Rote Socke, was?«, keifte das besoffene Elend. Gott, der Kerl stank wie etwas, das seit langer Zeit auf einer Müllkippe verweste.
»Nee, die sind weiß.«
»Was?«
»Meine Socken sind weiß. Bitte lassen Sie mich mit dem Politikkram in Ruhe, ja?« Jonas sprang vom Barhocker auf. »Machen Sie sich ein wenig nützlich und passen Sie eben mal auf meine Cola auf. Ich muss aufs Klo.« Ohne eine Antwort abzuwarten, schlurfte Jonas resigniert in Richtung der Schwingtür, die zu den Toiletten führte.
»Auch noch Komiker vom Dienst, was?«, brummte der betrunkene Kerl Jonas nach.
Auf der Toilette war es gänzlich ruhig. Keine Musik zu hören, keine Gespräche, einfach nichts. Jonas stieß langsam die Luft aus. Während er am Pissoir stand und Cola Nummer eins, zwei und vielleicht auch schon der Hälfte von Nummer drei freien Lauf ließ, legte er seinen Kopf mit der Stirn voran an die kalten Fliesen. Er spürte, dass er innerlich zu kochen begonnen hatte. Sein Gesicht, vor allem die Wangen, auch sein Hals - alles glühte. Selbst seine Hände schienen soeben zu regelrechten Kochplatten geworden zu sein, und es hätte ihn nicht gewundert, wenn er jetzt dampfendes Wasser gepinkelt hätte. Er sollte aufhören, sich über solche Typen so sehr aufzuregen. Das konnte auf Dauer nicht wirklich gesund sein. Nicht gesund für ihn und vielleicht noch viel ungesünder für die, die nicht wussten, auf wen sie sich da eingelassen hatten. Sollte der Kerl weiterhin seinen Müll bei ihm abladen, so nahm Jonas sich fest vor, ihm ins Gesicht zu brüllen, dass er endlich seine verdammte Fresse halten und seinen stinkenden Kadaver wegbewegen sollte. Genug der zurückhaltenden Höflichkeit. Für heute aber auch ebenso genug der Ärgernisse. Vielleicht würde das ja tatsächlich fruchten, und er hätte seine Ruhe. Und sollte der Kerl dennoch seine Güllegrube von einem Mundwerk nicht halten, würde Jonas eben nach Hause gehen. Er hatte keine Lust auszurasten, keine Lust, böse Dinge zu tun, nur weil ihm jemand den Abend verdorben hatte, der nun die Krönung eines fürchterlichen Arbeitstages darstellte, den Jonas ohnehin gern aus dem Kalender gestrichen hätte. Er wollte keine Katastrophe auslösen. Nicht heute, oh nein, denn Idioten wie dieser Typ am Tresen waren doch eigentlich nicht einmal seine Beachtung wert.
Jonas bemerkte, dass seine Hände zitterten. Hastig griff er in seine Hosentasche, zog den kleinen metallenen Gegenstand hervor, den er immer mit sich trug: ein Klappfeuerzeug, das er aufschnappen ließ, um sogleich eine kleine Flamme daraus hervorzuzaubern. Er konzentrierte seine Augen auf das kleine züngelnde Flämmchen, das munter vor ihm tanzte und ihn so allmählich etwas beruhigte. Feuer, so heiß und doch so kühlend, dachte Jonas. So vernichtend und doch so heilend. Geradezu suchterregend. Er spürte, wie sein eigenes, sein inneres Feuer nachließ, je länger er in die tänzelnde Flamme starrte. Das leuchtende Feuer kühlte ihn. Es tat wahrlich gut, wirkte wie ein erfrischender Wind auf sein kochendes Gemüt. Und ebenso würde heute alles gut bleiben. Alles war cool. Jonas ließ das Feuerzeug zuschnappen und verließ die Toilette.
Als er zurück in die Bar kam, stellte er zu seiner Überraschung, aber noch viel mehr zu seiner Freude, fest, dass der Barhocker, auf dem der Säufer gehockt hatte, nun leer war. Sofort spürte er, wie ein Teil seiner vorabendlichen Entspannung zurückkehren wollte, mit der diesen Laden betreten hatte.
»Ist der Typ endlich verschwunden?«, fragte Jonas den Barkeeper und deutete auf den leeren Platz.
»Dein Kumpel da, meinst du? Der ist eben los, ja«, sagte der Barkeeper, ohne beim Abtrocknen der Gläser aufzublicken.
»Das war nicht mein Kumpel, okay?«
»Nicht? Meinte aber, du zahlst für ihn«, brummte der Wirt.
»Aha. Ich hab doch gesagt, das war nicht mein Freund. Ich kannte den Kerl noch nicht einmal.«
»Scheißegal. Du zahlst für ihn.« Wie der Fels in der Brandung stand der Barkeeper bei seinen Gläsern, zeigte keine Regung, blieb die Ruhe in Person, was Jonas doch ein wenig beeindruckte, ihn aber mindestens genauso sehr ärgerte. Schon war sie wieder weg, die innere Ruhe. Jetzt sollte er auch noch die Zeche für den Arsch zahlen, der ungefragt seine Luft verpestet hatte. Eigentlich musste er das nicht, aber auch das würde dem mürrischen Typ hinter dem Tresen wohl egal sein. Genug also, das war’s! Jonas würde die Rechnung zahlen und dann nach Hause gehen. Hier, in diesem scheiß Laden, würde er sich ganz sicher nicht wieder blicken lassen. Ein weiterer verschwendeter Abend, irgendwo in einer Welt, die ohnehin nichts taugte. Weshalb, dachte Jonas, hielt er sich überhaupt zurück? Weshalb ließ er seinem Zorn nicht einfach freien Lauf? Hastig schüttelte er diese Überlegung wieder ab.
Denn hatte er sich erst an den kleinen Boshaftigkeiten des Lebens hochgeschaukelt, die dieses ihm immer wieder so dreist vor die Nase setzte, verflog schnell jeder rationale Grund, nicht zu tun, wozu er im Stande war. Manchmal würde Jonas sich am liebsten an der ganzen Welt dafür rächen, dass er sein eigenes Dasein nur als eine zynische Aneinanderreihung von Enttäuschungen und Niedertracht empfand. Ja, manchmal dachte Jonas daran, wie es wäre, wenn er selbst dem ganzen Schlamassel ein Ende setzen würde, der sich wie eine quälende Tretmühle Tag für Tag auf dieser Welt wiederholte. Das war natürlich völliger Unsinn, dennoch gefiel ihm diese finstere Grübelei: eine ungerechte Welt ohne das Recht auf ein Fortbestehen. Eigentlich hatte sie nichts anderes verdient, oder? Ach was, natürlich war all das schlecht. Die Spinnerei eines frustrierten Eigenbrötlers und nichts sonst. Jonas würde sofort nach Hause gehen.
Hastig wühlten seine Finger in der geöffneten Brieftasche, drehten das Münzgeld vor und zurück. Keine Chance: Das Bargeld reichte nicht, um die Sauftour des selbsternannten Politik- und Wirtschaftsexperten Doktor Stinkmorchel zu finanzieren. Wieder einmal jagte ein Unglück das nächste. Jonas seuzfte und verkniff sich die Tränen der Resignation.
»Für den Penner von eben reicht’s nicht«, sagte Jonas und blickte zum Barkeeper, der noch immer mit seinem Abwasch zugange war. Natürlich zeigte dieser keine Regung, gab keine Antwort.
»Kann ich vielleicht anschreiben?«
Nun schaute er doch auf. Jonas hatte also den richtigen Knopf erwischt. »Anschreiben?«, fragte der Wirt und zog ein Gesicht, als hätte man ihm eine tote Katze auf den Tresen gelegt. »Nichts da! Wenn du keine Kohle hast, frag einen der Gäste, ob er dir was leiht. Was kümmert’s mich? Ich bin nicht die Wohlfahrt.«
Leihen? Von fremden Leuten? Der Abend wurde wahrlich nicht besser. Jonas stieß einmal mehr entnervt die Luft aus und blickte in die anwesende Runde. Ganz hinten an der Wand diskutierten zwei Großväter unter eifrigen Gesten. Wahrscheinlich über scheiß Politikgedöns, wie schon das Stinktier, dem Jonas den finanziellen Fauxpas zu verdanken hatte. Die Rotte von Jugendlichen weiter rechts, die schon am frühen Abend das Bier zu inhalieren schien, als würde es morgen keines mehr geben, brauchte er wohl auch nicht fragen. Er sah sich weiter um, bis sein Blick auf einem Vierertisch haften blieb, an dem lediglich zwei junge Frauen saßen. Ohne männliche Begleitung – ein solches Bild fiel doch irgendwie immer auf. Als Jonas bereits eine Weile hingeschaut und zwischen Für und Wider abgewogen hatte, schaute eine der beiden zu ihm herüber. Sie trug ein schwarzes Kleid mit weißen Tupfen – eigentlich zu luftig für den recht frischen Frühsommerabend – und irgendwie nicht so ganz stilvoll, was vielleicht an der dunklen Lockenmähne lag. Sie schaute wieder weg, schien zu kichern und flüsterte ihrer Begleiterin, einer schlaksigen Blondine, schlicht in Jeans und ein dunkelgrünes Oberteil gekleidet, etwas zu. Was es auch war, Jonas fühlte sich gewissermaßen angezogen. Immerhin zählte die höfliche Frage nach ein wenig Kleingeld nicht zu den Anmachsprüchen aus der allmächtigen Flirtbibel für Vollidioten. Würde ja auch nicht lange dauern. Jonas ging langsam auf die beiden zu, die nun, wie konnte es auch anders sein, demonstrativ wegschauten. Sah er so zum Fürchten aus, wo ihm doch eigentlich stets ein recht ansehnliches Äußeres nachgesagt wurde? Musste wohl an seiner mangelnden Ausstrahlung liegen. Am liebsten wäre er sofort wieder umgekehrt.
»Darf ich?«, fragte er dennoch und deutete auf einen der beiden freien Plätze.
»Wenn’s schnell geht?«, antwortete Miss Tupfenkleid und rollte überbetont mit ihren schlangengrünen Augen. Ihre Begleitung wieherte ihr ein bestätigendes Lachen zu. Jonas setzte sich, schaute beide an und entschied sich, es mit Miss Tupfenkleid zu versuchen. Die andere wirkte gerade aus der Nähe doch, als hätte sie das Wort Hirntod auf ihrer Stirn vergeblich zu überschminken versucht.
»Also eigentlich will ich gar nicht viel«, begann Jonas zögerlich. Irgendwie machte Miss Tupfenkleid ihn gerade nervös, so wie sie ihn mit ihren kühlen und doch irgendwie wissenden Augen anschaute. Sofort kam ihm Bild vom Kaninchen vor der Schlange in den Kopf.
»Wenn du nicht viel willst, warum setzt du dich dann erst?«, fragte sie in einem wahrscheinlich gewollt hochnäsigen Tonfall. Wieder wieherte ihre Freundin wie auf Kommando. Himmel, das klang tatsächlich, als wäre sie mehr Pferd als Mensch.
Jonas zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Dachte mir, im Sitzen zu reden wäre höflicher.«
»Beschissene Anmache«, murmelte Miss Tupfenkleid. Fury wieherte abermals.
»Ist keine Anmache. Ich wurde nur vorhin ziemlich abgezogen und bräuchte ein wenig Kleigeld.«
»Das ist jetzt nicht dein Ernst. Du verzockst dein Geld und fragst dann uns?«
»Nein!«, stieß Jonas hervor. »Da war eben dieser Kerl, der meinte, mich mit seinem Mist vollquatschen zu müssen. Und als ich auf der Toilette war, da-« Jonas verzog das Gesicht, als er sah, dass Miss Tupfenkleid ihn soeben ziemlich herablassend anzugrinsen begann. »Ist scheißegal, was ich jetzt erzähle, oder?«, schloss er.
»Könnte man so sagen.« Sie setzte ein gelangweiltes Gesicht auf, während Fury wieherte, als wäre das ihre Art zu applaudieren. Es konnte einfach nicht wahr sein, dachte Jonas. Jetzt wurde er von diesen beiden dämlichen Schnepfen auch noch vorgeführt wie ein Zootier in der Manege. Nahm das denn heut Abend gar kein Ende? Was sollte er jetzt tun? Aufstehen und zum nächsten Tisch gehen, während die beiden Puten ihm nachlachen würden? Er spürte, dass die Wut in ihm abermals zu schwelen begann. Womit hatte er das jetzt wieder verdient? Ach, womit hatten diese Vollidioten verdient, dass er überhaupt freundlich zu ihnen war?
»War’s das?«, fragte Miss Tupfenkleid, ohne Jonas auch nur anzusehen. Stattdessen wühlte sie in ihrer Handtasche und holte schließlich eine angebrochene Schachtel Pall Mall hervor. Sie zog eine Zigarette heraus und schob sie provokativ zwischen ihre Lippen.
»Wird’s wohl gewesen sein, ja. Trotzdem danke. Brauchst du Feuer?«, fragte Jonas im Versuch, die Situation irgendwie zu retten. Miss Tupfenkleid blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an, worauf Jonas die rechte Hand hob und ihr die leere Handfläche zeigte. Er ballte die Hand zur Faust, wischte mit der linken darüber und zog danach sein metallenes Klappfeuerzeug aus der geschlossenen Hand hervor. Alter Taschenspielertrick, den er von seinem Großvater gelernt hatte. Jonas lächelte.
»Ah, ein Zauberer, was?«, fragte Miss Tupfenkleid und zog selbst ein Feuerzeug aus ihrer Tasche heraus. »Aber danke, lass mal.« Plötzlich grinste sie, blickte Jonas mit funkelnden Augen an und sagte: »Wenn du wirklich zaubern kannst, dann zeig uns doch, wie du dich in Luft auflöst.« Jonas atmete tief ein und aus. Sein Herzschlag beschleunigte sich, und sofort begannen die roten Zorneslichter erneut, wilde Tänze vor seinen Augen zu vollführen. Der erste Platz ging also an Miss Tupfenkleid, die das Fass gerade zum Überlaufen gebracht hatte. Applaus! Irgendwo aus der realen Welt, die Jonas gerade noch vage wahrnahm, drang ein neuerliches Wiehern an sein Ohr. Fury hatte sich also noch einmal zu Wort gemeldet, den Punkt auf das »i« gesetzt. Jonas spürte, dass etwas in seinem Kopf explodierte, die Bänder sprengte, die er als Vernunft bezeichnet hätte. Genug war genug! Er streckte den Rücken durch, riss seine zornigen Augen auf und konzentrierte seinen Blick sowie jeden Funken seines Verstandes auf diesen wandelnden Haufen Scheiße im gepunkteten Kleid.
Langsam öffnete Jonas den Mund, atmete tief ein und hielt für einen kurzen Moment inne. »Verschwinden lassen kann ich mich nicht. Aber bist du sicher, dass du kein Feuer brauchst? Feuer kann man doch nie genug haben«, murmelte er mit einer Stimme, der Emotion kein Begriff zu sein schien. Während er abermals die Hand hob, wich Miss Tupfenkleid, die gerade die Wut in Jonas Augen erkannt hatte, bereits zurück. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schnippte er mit den Fingern, dann brach die Hölle los.
Funken wie von Silvesterfeuerwerk sprühten in Miss Tupfenkleids Haar. Sofort fing sie Feuer. Die Flammen versengten ihr Haar, breiteten sich mit atemberaubender Geschwindigkeit über ihr Gesicht und ihren Körper aus, steckten sie innerhalb weniger Sekunden vollständig in Brand, als wäre sie mit Benzin übergossen worden. Als sie feststellte, dass sie vollkommen in Flammen stand, begann sie, wild zu kreischen und wie besessen auf die Flammen zu schlagen. Sie sprang von ihrem Stuhl auf, drehte sich immer wieder um die eigene Achse, doch da war es ohnehin bereits zu spät. Sie brannte, als würde sie aus trockenem Stroh bestehen, und nur Sekunden später war aus dem brünetten Mädchen ein großes, zu vollkommener Schwärze verkohltes Holzscheit geworden, das nach vorn kippte und krachend mit dem Tisch kollidierte. Einzelteile lösten sich dabei von der noch immer brennenden Leiche ab, stürzten zu Boden und zerkrümelten dort abermals.
Fury hatte lange gebraucht, um zu realisieren, dass das, was hier eben geschehen war, keine Show war, keine Halluzination, kein wirrer Tagtraum. Mit schreckgeweiteten Augen schaute sie das brennende Etwas an, das von ihrer Freundin übrig geblieben war, dann schrie auch sie. Sie schaute Jonas mit angstgeweiteten Augen an, sprang vom Stuhl hoch und stolperte kreischend in Richtung Ausgang. »Lass mich in Ruhe«, keifte sie dabei wieder du wieder.
Kein Wiehern mehr, was?, dachte Jonas und lachte innerlich laut auf. Jetzt machte ihm die Sache Spaß, jawohl. Ein Flammenmeer loderte in seinem Kopf, dessen Herr nur er selbst war. Er spürte die Macht, atmete sie ein, fühlte sie in jeder Zelle seines Körpers. Ein Rausch wie von Drogen benetzte seinen Geist, ließ ihm brachiale Freude zuteilwerden. Freude an der Zerstörung. Freude an Tod und Vernichtung. Und war es nicht eigentlich Freude an der Gerechtigkeit? Ja, das war es! Er hatte all das vermeiden wollen, hatte vorgehabt, den Abend friedlich zu verbringen, doch sie hatten es ja nicht anders gewollt. Sie alle!
Jonas konzentrierte sich auf die davonrennende Frau mit dem Pferdelachen. Sein Blick haftete fest auf ihr, und schon schoss eine Stichflamme wie aus dem Nichts aus ihrem Nacken und verwandelte sie in Sekundenbruchteilen in eine menschliche Fackel. Keine vier Schritte tat sie, als sie, noch immer kreischend, ins Taumeln geriet, stolperte und mit voller Wucht gegen den Tresen knallte. Wie ein Stein stürzte sie zu Boden, wo sie reglos liegen blieb und ebenso schnell ausbrannte wie ihre Freundin im verkohlten Tupfenkleid.
Jonas sprang von seinem Stuhl auf, der dabei nach hinten kippte. Seine Augen funkelten über die Reihen der noch anwesenden Gäste. Einige starrten reg- und fassungslos zurück, während andere bereits eilig aufstanden und versuchten, zum Ausgang zu kommen. Der ach so wortkarge Barkeeper war nun noch wortkarger geworden. Mit offenem Mund stand er hinter seinem Tresen und starrte Jonas an, als würde er Bauklötze über das staunen, was eben ganz offensichtlich passiert war.
»Was glotzt ihr Schleimscheißer so?«, rief Jonas mit euphorisch erhobener Stimme, die nicht ansatzweise mehr wie seine eigene klang. »Habt ihr noch nie ein Feuer gesehen, oder was? Die haben es nicht anders gewollt, verdammt! Und ihr seid doch auch nicht besser.« Jonas konzentrierte sich auf all das Chaos, das sich bereits um ihn herum abspielte, versuchte die fliehenden Menschen zu erfassen, die Bar, die Tische, die Stühle, die rustikalen Wanddekorationen. Der ganze verdammte Laden war voll von Holz. Voll von rennenden Menschen. Waren sie nicht alle nichts weiter als wandelndes Holz? Jonas schloss im Moment der höchsten Konzentration die Augen und schrie laut auf. Sofort stand die komplette Bar in Flammen. Er hatte den Laden in Sekundenschnelle in eine Feuerhölle verwandelt. Von überall drangen verzweifelte Schreie an sein Ohr. Brennende Menschen fuchtelten wild mit den Armen, stürzten zu Boden und starben. Ein Geruch von verbranntem Fleisch erfüllte die Luft, von versengtem Haar und auch den Gestank von Panik nahm Jonas wahr. Sollten sie nur Angst haben, sie hatten es doch nicht anders verdient.
Während Jonas langsam zum Ausgang ging und dabei völlig unversehrt durch das seine Feuergeburt schritt, nahm er kaum mehr wahr, was um ihn herum geschah. Es war ihm völlig gleich, schließlich waren alle seine Sinne nur noch von Feuer erfüllt. Er sah Feuer, hörte Feuer, roch und schmeckte es. Und er fühlte es, denn er war nun das Feuer selbst geworden.
Jonas öffnete die Tür der Bar und ging nach draußen. Der Feuermelder schrillte bereits, und in wenigen Minuten würden die Rettungskräfte wohl versuchen zu retten, was nicht mehr zu retten war. Hinter Jonas schoss eine Flammenwand aus dem Dielenboden, so dass niemand mehr hinein- oder hinauskommen würde. Und über all der Flammeneuphorie glaubte Jonas herauszuhören, dass noch immer jaulende Rockmusik aus den noch nicht verbrannten Lautsprechern drang. Noch immer AC/DC oder Guns N‘ Roses. Wen interessierte das schon?
In weiter Ferne setzten die Sirenen der Feuerwehr ein. Was die Presse wohl morgen wieder titeln würde? Ein Defekt in der Elektronik? Ein unachtsamer Raucher? Jonas lachte laut in den dunkler werdenden Abend hinein. Nun hatte er doch seinen Spaß gehabt, und er hatte auch gänzlich die Lust daran verloren, einfach nur nach Hause zu gehen. Mit noch immer funkelnden Augen blickte er zum Himmel auf. Dunkle Kumuluswolken zogen herauf, als wollten sie die Flammenapokalypse ankündigen. Und vielleicht hatten sie ja Recht. Jonas spürte, dass heute Nacht noch einiges passieren würde. Die kühler werdende Abendluft schien geradezu vor Spannung zu knistern und nach seinen Flammen zu gieren.
Während Jonas, noch immer laut lachend, in den voranschreitenden Abend hineinlief, blickten ihm grüne Katzenaugen vom Dach eines Hauses nach. Ängstlich ging der graue Stubentiger in die Hocke. Ängstlich und zugleich wissend, der Feuerteufel war wieder erwacht.